Crysania sah und hörte Tolpan nicht. Ihr Geist war geblendet von den unzähligen Farben, die in seinen Tiefen wirbelten, wie herrliche Juwelen funkelten, denn plötzlich begriff sie. Paladin hatte sie nicht in die Vergangenheit geschickt, damit sie das Andenken des Königspriesters rette, sondern um aus seinen Fehlern zu lernen. Und sie wußte, daß sie gelernt hatte. Sie konnte die Götter anrufen, und sie würden ihr antworten, nicht mit Zorn, sondern mit Kraft! Die kalte Dunkelheit in ihr brach auf, und die befreite Kreatur sprang aus ihrer Schale, platzte ins Sonnenlicht.
In einer Vision sah sie sich – eine Hand hielt das Medaillon von Paladin hoch, das Platin blitzte in der Sonne. Mit der anderen Hand rief sie Legionen von Gläubigen herbei, die mit entzücktem Gesichtsausdruck um sie schwärmten, während sie die Scharen in wunderschöne, jenseits der Vorstellungskraft liegende Länder führte.
Sie besaß noch nicht den Schlüssel, um die Tür aufzuschlienßen, das wußte sie. Und hier konnte es auch nicht passieren, denn der Zorn der Götter war zu gewaltig. Aber wo sollte sie den Schlüssel, wo die Tür finden? Die tanzenden Farben machten sie schwindelig, sie konnte weder sehen noch denken. Und dann hörte sie eine Stimme, eine leise Stimme, und sie spürte Hände ihre Roben berühren. »Raistlin...«, hörte sie die Stimme sagen, der Rest der Worte ging verloren. Aber plötzlich klärte sich ihr Geist. Die Farben verschwanden, so wie das Licht, und ließen sie allein in der Dunkelheit, die nun für ihre Seele beruhigend und tröstend war.
»Raistlin«, murmelte sie. »Er hat versucht, es mir zu sagen...«
Die Hände berührten sie immer noch, und sie schob sie beiseite. Raistlin würde sie mit zum Portal nehmen, er würde ihr helfen, den Schlüssel zu finden. Elistan hatte gesagt, daß sich das Böse gegen sich selbst richte. Raistlin würde ihr also wider Willen helfen. Crysanias Seele sang eine frohe Hymne an Paladin. Wenn ich in meiner Pracht zurückkehre, wenn all das Böse auf der Welt besiegt ist, dann wird Raistlin meine Macht sehen, er wird allmählich begreifen und glauben.
»Crysania!«
Der Boden unter Crysanias Füßen erbebte, aber sie bemerkte es nicht. Sie hörte eine Stimme ihren Namen rufen, eine sanfte Stimme, gebrochen von Hustenanfällen.
»Crysania.« Wieder ertönte sie. »Beeil dich!«
Raistlins Stimme! Crysania blickte sich verstört um, sah aber niemanden. Und dann erkannte sie, daß er zu ihrem Geist sprach, sie führte. »Raistlin«, murmelte sie. »Ich höre dich, ich komme.« Sie wandte sich um und lief in den Korridor hinaus, in den Tempel. Der Ruf des Kenders stieß auf taube Ohren.
»Raistlin?« fragte Tolpan verwirrt. Dann begriff er. Crysania wollte zu Raistlin! Auf irgendeine magische Weise hatte er sie gerufen, und sie war nun dabei, ihn zu finden! Tolpan schoß hinter Crysania hinaus in den Korridor. Sicherlich konnte sie Raistlin dazu bringen, das Gerät zu reparieren...
Im Korridor sah Tolpan in beide Richtungen und entdeckte Crysania sofort. Aber sie lief so schnell, daß sie schon fast das Ende des Korridors erreicht hatte.
Er überzeugte sich noch einmal, daß die zerbrochenen Teile des magischen Geräts in seinem Beutel waren, dann rannte er Crysania nach. Aber gleich darauf verschwand sie um eine Ecke.
Der Kender lief, wie er noch nie gelaufen war. Sein Haarknoten flatterte, seine Beutel sprangen heftig auf und ab, verloren ihren Inhalt, ließen eine glitzernde Spur von Ringen, Armbändern und Nippsachen zurück.
Den Beutel mit dem magischen Gerät fest im Griff, erreichte Tolpan das Ende des Korridors und bog um die Kurve. In seiner Hast prallte er auf die gegenüberliegende Wand.
Der Korridor wimmelte von Klerikern, alle in weiße Roben gekleidet. Wie sollte er Crysania ausfindig machen! Dann erspähte er sie, ungefähr in der Mitte des Korridors, ihr schwarzes Haar glänzte im Fackellicht. Er sah auch, daß Kleriker ihr nachschrien oder finstere Blicke zuwarfen, während sie vorbeilief.
Tolpan nahm die Verfolgung auf, Hoffnung erfüllte ihn wieder. Crysanias wilde Flucht mußte sich zwangsläufig in der Menschenmenge des Tempels verlangsamen. Der Kender huschte an den Klerikern vorbei, überhörte die zornigen Schreie, wich den greifenden Händen springend aus. »Crysania!« schrie er verzweifelt.
Die Kleriker im Korridor wurden zahlreicher, alle eilten herbei, um herauszufinden, was es mit dem seltsamen Zittern des Bodens auf sich hatte.
Tolpan sah Crysania mehr als einmal anhalten und sich ihren Weg durch die Menge bahnen. Sie hatte sich gerade wieder befreit, als Quarat um die Ecke bog und nach dem Königspriester rief. Blind weiterhastend, lief Crysania ihm in die Arme, und er hielt sie fest.
»Laß mich los!« Crysania wand sich in seinem Griff.
»Sie ist vor Angst verrückt geworden! Helft mir, sie festzuhalten!« rief Quarat mehreren Klerikern zu.
Plötzlich fiel Tolpan auf, daß Crysania wirklich verrückt aussah. Er konnte ihr Gesicht deutlich sehen, als er sich ihr jetzt näherte. Ihr schwarzes Haar war eine wirre Masse, ihre Augen hatten ein tiefes Grau, die Farbe von Sturmwolken, und ihr Gesicht war vor Anstrengung ganz rot. Sie schien nichts zu hören, keine Stimme erreichte ihr Bewußtsein, außer vielleicht einer.
Kleriker hielten sie auf Quarats Befehl fest. Schreiend kämpfte Crysania auch mit ihnen. Verzweiflung verlieh ihr Kraft, mehr als einmal kam sie der Flucht nahe. Ihre weißen Roben zerrissen in den Händen der Kleriker. Tolpan glaubte auf mehr als einem Klerikergesicht Blut zu sehen. Er wollte gerade auf den ihm zunächst stehenden Kleriker einschlagen, als er von einem strahlenden Licht geblendet wurde, das alle – sogar Crysania – einhalten ließ.
Niemand rührte sich.
»Die Götter kommen«, ertönte jetzt eine melodische Stimme mitten aus dem Licht, »auf meinen Befehl...«
Der Boden unter Tolpans Füßen hüpfte hoch in die Luft, schleuderte den Kender wie eine Feder nach oben. Der Boden senkte sich schnell, während Tolpan hochflog, dann hob er sich wieder, um ihn aufzunehmen, als er wieder nach unten fiel.
Schreie erfüllten die Luft. Tolpan konnte nichts anderes tun als nach Atem ringen. Er lag auf dem Marmorboden, der sich unter ihm schüttelte, und sah, wie Säulen bröckelten, Mauern aufrissen, Pfeiler zusammenfielen und Menschen starben.
Der Tempel von Istar stürzte zusammen.
Tolpan kroch auf Händen und Füßen voran und versuchte verzweifelt, Crysania im Auge zu behalten. Sie schien nicht zu merken, was um sie herum passierte. Jene, die sie festhielten, ließen sie in ihrem Entsetzen los, und Crysania, immer noch nur Raistlins Stimme hörend, setzte ihren Weg fort. Tolpan kreischte auf, als Quarat ihr nachsprang, aber während der Kleriker zu ihr eilte, schwankte eine riesige Marmorsäule neben ihr und stürzte ein.
Tolpan hielt den Atem an. Kurz konnte er nichts sehen, dann legte sich der Marmorstaub. Quarat lag als blutige Masse auf dem Boden. Crysania, offenbar unverletzt, stand bei ihm und starrte benommen auf den Elf, dessen Blut über ihre weißen Roben gespritzt war.
»Crysania!« schrie Tolpan heiser. Aber sie bemerkte ihn nicht. Sie drehte sich um, stolperte durch die Trümmer, sah nichts, hörte nichts außer der Stimme, die sie nun dringender als zuvor zu sich rief.
Sich mühsam aufrappelnd, lief Tolpan ihr nach. Als er sich dem Ende des Korridors näherte, sah er Crysania nach rechts abbiegen und eine Treppe hinabsteigen. Bevor er folgte, riskierte Tolpan aus Neugier einen schnellen Blick zurück.
Das strahlende Licht erfüllte immer noch den Korridor, beleuchtete die Körper der Toten und der Sterbenden. Risse klafften in den Tempelwänden, die Decke hing durch, Staub verstopfte die Luft. Und in dem Licht konnte Tolpan immer noch die Stimme hören, nur war es keine liebliche Melodie mehr. Die Stimme klang schrill.
»Die Götter kommen...«
Die große Arena hinter sich lassend, mühte sich Caramon durch die im Todeskampf liegenden Straßen Istars. Wie Crysania hörte auch er in seinem Geist Raistlins Stimme. Aber sie rief ihn nicht zu sich. Nein, Caramon hörte sie, wie er sie in der Gebärmutter gehört hatte; er hörte die Stimme seines Zwillingsbruders, die Stimme des Blutes, das sie teilten.
Und folglich schenkte Caramon den Schreien der Sterbenden keine Beachtung, und auch nicht den Bitten jener, die zwischen den Trümmern gefangen waren. Er nahm gar nicht wahr, was um ihn herum vorging. Gebäude fielen neben ihm ein, Steine stürzten auf die Straßen herab, verfehlten ihn nur knapp.
Aber er hielt nicht inne. Er kletterte über Schutt, hob riesige Holzbalken hoch und bahnte sich langsam seinen Weg durch die sterbenden Straßen Istars, zum Tempel, der vor ihm in der Sonne glänzte. In seiner Hand hielt er ein blutbeflecktes Schwert.
Tolpan folgte Crysania immer tiefer in das Innere der Erde – so schien es dem Kender zumindest. Er fragte sich, wie er all diese verborgenen Treppen bei seinen vielen Streifzügen verfehlt haben konnte. Er fragte sich auch, wieso Crysania von ihnen wußte. Sie ging durch geheime Türen, die nicht einmal für Tolpans Kenderaugen sichtbar waren.
Das Erdbeben hatte sich gelegt, und Ruhe kehrte wieder ein. Draußen herrschte Tod und Chaos, aber hier war alles still und stumm. Tolpan kam es vor, als ob alles auf der Welt den Atem anhielte und wartete...
Hier unten bemerkte Tolpan kaum Schäden, vielleicht weil es so tief unter der Erde war. Staub vernebelte die Luft, das Atmen und Sehen waren beschwerlich, und gelegentlich erschien ein Riß in einer Wand, oder eine Fackel fiel zu Boden. Aber die meisten Fackeln befanden sich noch in ihren Halterungen an der Wand und brannten unheimlich im treibenden Staub.
Crysania hielt niemals an oder zögerte, sondern drängte schnell weiter. Tolpan hatte bald jede Orientierung verloren und wußte nicht mehr, wo er war. Es war ihm zwar bis jetzt gelungen, mit ihr Schritt zu halten, aber seine Müdigkeit wurde immer stärker, und er hoffte, daß sie bald ihr Ziel erreichten. Seine Rippen schmerzten, und jeder Atemzug brannte wie Feuer.
Er folgte Crysania eine weitere Marmortreppe hinunter. Sie hatten nun einen dunklen schmalen Gang erreicht, der in eine Wand und nicht in eine weitere Treppe mündete, wie er dankbar feststellte.
Hier brannte eine einzige Fackel in einer Halterung über einer Türöffnung.
Mit einem erfreuten Aufschrei eilte Crysania durch die Tür und verschwand in der Dunkelheit.
»Natürlich!« erkannte Tolpan. »Raistlins Laboratorium! Es muß hier unten sein.« Er eilte weiter und hatte fast die Tür erreicht, als eine große dunkle Gestalt sich ihm von hinten näherte und ihm ein Bein stellte. Tolpan stürzte zu Boden.
Den Schmerz in seinen Rippen unterdrückend, sah er hoch.
Eine goldene Rüstung blitzte auf, und das Fackellicht fiel auf die Klinge eines Schwertes. Er erkannte den bronzefarbenen muskulösen Körper des Mannes wieder, aber das Gesicht des Mannes – das Gesicht, das ihm eigentlich hätte vertraut sein müssen – war das Gesicht eines Menschen, den Tolpan noch nie gesehen hatte.
»Caramon?« flüsterte er, als der Mann an ihm vorbeieilte. Aber Caramon sah und hörte ihn nicht. Tolpan versuchte aufzustehen.
Dann begann ein Nachbeben, und der Boden schaukelte unter Tolpans Füßen. Gegen eine Mauer taumelnd, hörte er ein Krachen über sich und sah, daß die Decke nachgab. »Caramon«, schrie er. Aber da traf ihn ein Stein an der Schläfe, und er verlor das Bewußtsein.