Margaret Weis Tracy Hickman Die Stadt der Göttin

1

Denubis ging langsamen Schrittes durch die weiten luftigen Korridore von Istars lichterfülltem Tempel der Götter. Sein Blick war geistesabwesend auf die verschlungenen Muster des Marmorbodens gerichtet. Wenn man ihn so ziellos und gedankenverloren herumgehen sah, hätte man vermuten können, daß sich der Kleriker der Tatsache nicht bewußt war, sich im Herzen des Universums zu befinden. Doch Denubis war sich dieser Tatsache wohl bewußt und vergaß sie wahrscheinlich auch nicht. Dafür sorgte schon der Königspriester, der ihn tagtäglich in seinem morgendlichen Aufruf zur Andacht daran erinnerte.

»Wir sind das Herz des Universums«, sagte der Königspriester mit einer so melodischen Stimme, daß man gelegentlich den Worten zuzuhören vergaß. »Istar, die von den Göttern geliebte Stadt, bildet den Mittelpunkt des Universums, und folglich sind wir – die im Herzen dieser Stadt leben – das Herz des Universums. So wie das Blut aus dem Herzen fließt und sogar den kleinen Zeh mit Nahrung versorgt, fließen unser Glaube und unsere Lehren aus diesem riesigen Tempel zu den Niedrigsten und Unbedeutendsten unter uns. Vergeßt das nicht, wenn ihr euren täglichen Pflichten nachgeht, denn ihr, die hier Tätigen, seid von den Göttern begünstigt. So wie jemand die winzigste Faser eines Spinngewebes berührt und dadurch das ganze Gewebe zum Zittern bringt, kann eure unbedeutendste Tat ein Zittern auslösen, das sich auf ganz Krynn auswirkt.«

Denubis erschauerte. Er wünschte, der Königspriester würde diese bestimmte Metapher nicht gebrauchen. Denubis verabscheute Spinnen. In der Tat haßte er alle Insekten, etwas, das er niemals zugab und dessen er sich gleichzeitig schuldig fühlte. Wurde von ihm nicht gefordert, alle Kreaturen zu lieben, außer jenen natürlich, die von der Königin der Finsternis geschaffen worden waren? Dies schloß Menschenfresser, Goblins, Trolle und andere bösartige Wesen ein, aber Denubis war sich bei Spinnen nicht sicher. Schon immer wollte er deswegen fragen, aber er wußte, daß dies eine stundenlange philosophische Auseinandersetzung bei den Verehrten Söhnen nach sich ziehen würde, und er glaubte einfach nicht, daß es das wert war. Insgeheim würde er weiterhin Spinnen hassen.

Denubis schlug sich selbst sanft auf den kahlen Kopf. Wie waren seine Gedanken zu den Spinnen gewandert? Ich werde alt, dachte er seufzend. Bald wird es mir wie dem armen Arabakus ergehen, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als im Garten zu sitzen und zu schlafen, bis er zum Abendessen geweckt wird. Bei diesem Gedanken seufzte Denubis wieder, aber es war eher ein Seufzen des Neides als des Mitleids. Armer Arabakus, in der Tat! Zumindest blieb ihm erspart...

»Denubis...«

Denubis hielt inne. Er blickte sich im langen Korridor in beiden Richtungen um, sah aber niemanden. Der Kleriker schauderte. Hatte er diese sanfte Stimme wirklich gehört oder sich nur eingebildet?

»Denubis«, ertönte es wieder.

Jetzt sah der Kleriker gründlicher in den von den riesigen Marmorsäulen geworfenen Schatten, die die vergoldete Decke trugen. Ein schwarzer Fleck war in der Dunkelheit erkennbar. Denubis verkniff sich einen wütenden Ausruf. Einen zweiten Schauder unterdrückend, der durch seinen Körper jagte, änderte er seine Richtung und ging langsam auf die Gestalt zu, die im Dunklen stand, da er wußte, daß sie niemals aus dem Schatten hervorkommen würde. Es war nicht so, daß dieser Person, die auf Denubis wartete, das Licht Schaden zufügen würde, so wie es bei einigen Kreaturen der Finsternis der Fall war. Tatsächlich fragte sich Denubis, ob diesem Mann überhaupt etwas auf dem Antlitz der Welt Schaden zufügen könnte. Nein, er bevorzugte einfach den Schatten. Übertriebenes Gehabe, dachte Denubis sarkastisch.

»Du hast mich gerufen, Schwarzer?« fragte Denubis und bemühte sich, mit freundlicher Stimme zu sprechen. Er sah das Gesicht im Schatten lächeln und wußte sofort, daß dem Mann all seine Gedanken bekannt waren.

»Verdammt!« fluchte Denubis – eine Angewohnheit, die vom Königspriester mißbilligt wurde, die sich Denubis, ein einfacher Mann, aber niemals abgewöhnen konnte. »Warum läßt der Königspriester zu, daß er sich am Hof aufhält? Warum wird er nicht wie die anderen verbannt?« Natürlich sagte er das nicht laut, denn tief in seiner Seele kannte er die Antwort.

Dieser Mann war zu gefährlich, zu mächtig. Er war nicht wie die anderen. Der Königspriester behandelte ihn so wie jemand, der einen wilden Hund zum Schutz seines Hauses hielt und wußte, daß der Hund auf Befehl angreifen würde; aber er mußte ständig auf die Hundeleine achten. Wenn die Leine jemals reißen sollte, würde sich das Tier auf die Kehle seines Besitzers stürzen.

»Es tut mir leid, dich zu stören, Denubis«, sagte der Mann mit seiner sanften Stimme, »insbesondere, wenn ich dich in so gewichtige Gedanken vertieft sehe. Aber ein Ereignis von größter Bedeutung findet gerade jetzt statt, während wir uns unterhalten. Geh mit einer Gruppe von Tempelwachen zum Marktplatz. Dort an der Kreuzung wirst du eine Verehrte Tochter Paladins finden. Sie ist dem Tode nahe. Und dort ist auch der Mann, der sie angegriffen hat.«

Denubis riß die Augen auf, dann verengten sie sich in plötzlichem Argwohn. »Woher weißt du das?« herrschte er den anderen an.

Die Gestalt im Schatten rührte sich, die dunkle Linie, die die dünnen Lippen bildeten, öffnete sich zur Andeutung eines Lachens. »Denubis«, tadelte die Gestalt, »du kennst mich jetzt schon seit vielen Jahren. Fragst du den Wind, warum er weht? Befragst du die Sterne, um herauszufinden, warum sie leuchten? Ich weiß es, Denubis. Begnüge dich damit.«

»Aber...« Denubis legte verwirrt die Hand an den Kopf. Ein entsprechendes Handeln würde Erklärungen nach sich ziehen, Berichte an die zuständigen Autoritäten. Man befahl nicht einfach einer Gruppe von Tempelwachen!

»Beeil dich, Denubis«, drängte der Mann sanft. »Sie wird nicht mehr lange leben...«

Denubis schluckte. Eine Verehrte Tochter Paladins, angegriffen! Sterbend – auf dem Marktplatz! Wahrscheinlich von einer gaffenden Menge umgeben. Ein Skandal! Der Königspriester würde höchst erzürnt sein...

Der Kleriker öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder. Er sah kurz zu der Gestalt im Schatten, aber als er von ihr keine Hilfe bekam, drehte er sich um, und mit flatternden Roben stürmte er in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Seine Ledersandalen klapperten auf dem Marmorboden.

Als er das Hauptquartier des Hauptmanns der Wache erreicht hatte, schaffte er es gerade, seine Bitte dem diensthabenden Leutnant vorzukeuchen. Wie vorausgesehen, löste das Unruhe aus. Denubis, der auf den Hauptmann warten mußte, brach auf einem Stuhl zusammen und versuchte, wieder Atem zu schöpfen.

Die Identität des Erschaffers von Spinnen stand wohl offen zur Debatte, dachte Denubis verdrießlich, aber für ihn bestand kein Zweifel an dem Erschaffer jener Kreatur der Finsternis, die sicherlich noch im Schatten stand und ihn auslachte.


»Tolpan!«

Der Kender öffnete die Augen. Einen Augenblick hatte er keine Vorstellung, wo und wer er überhaupt war. Eine Stimme hatte einen Namen gerufen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Verwirrt sah sich der Kender um. Er befand sich auf einem großen Mann, der flach auf dem Rücken mitten auf einer Straße lag. Der große Mann betrachtete ihn mit äußerstem Erstaunen, vielleicht weil Tolpan auf seinem dicken Bauch hockte.

»Tolpan?« wiederholte der große Mann, und dieses Mal nahm sein Gesicht einen verwirrten Ausdruck an. »Solltest du etwa hier sein?«

»Ich... ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete der Kender, der sich fragte, wer »Tolpan« sein mochte. Dann fiel ihm wieder alles ein – er hörte Par-Salians Singsang, er riß sich den Ring vom Daumen, das blendende Licht, die singenden Steine, das entsetzte Kreischen des Magiers...

»Natürlich soll ich hier sein«, brauste Tolpan auf, während er gleichzeitig Par-Salians entsetzten Aufschrei aus seinem Gedächtnis verbannte. »Du hast doch wohl nicht gedacht, daß sie dich allein in die Vergangenheit zurückschicken, oder?« Der Kender befand sich praktisch Nase an Nase mit dem großen Mann.

Caramons verwirrter Ausdruck verfinsterte sich zu einem Runzeln. »Ich bin mir nicht so sicher«, murmelte er, »aber ich glaube nicht, daß du...«

»Nun, ich bin hier.« Tolpan rollte sich von Caramons dickem Hauch und landete neben ihm auf den Pflastersteinen. »Wo auch ›hier‹ ist«, murmelte er. »Komm, ich helfe dir beim Aufstehen«, sagte er zu Caramon und streckte seine kleine Hand aus, in der Hoffnung, Caramon ablenken zu können. Tolpan wußte nicht, ob er zurückgeschickt werden konnte oder nicht, aber er hatte auch nicht die Absicht, es herauszufinden.

Caramon richtete sich mühsam auf. In jeder Hinsicht sah er wie eine umgekippte Schildkröte aus, dachte Tolpan kichernd. Und jetzt fiel ihm auf, daß sich Caramons Kleidung von der unterschied, die er im Turm getragen hatte. Er hatte seine Rüstung getragen – so viel davon noch paßte – und eine lose sitzende Tunika aus feinem Tuch, die Tika mit liebevoller Sorgfalt zusammengenäht hatte.

Aber nun war er mit einem groben, schlampig zusammengeflickten Tuch bekleidet. Eine unfeine Lederweste hing über seinen Schultern. An der Weste waren einst vielleicht Knöpfe gewesen, aber wenn dem so gewesen war, fehlten sie jetzt. Knöpfe wären sowieso sinnlos, dachte Tolpan, denn es bestand keine Möglichkeit, die Weste um Caramons herabhängenden Bauch zu schließen. Ausgebeulte lederne Kniebundhosen und geflickte Lederstiefel, die an einem Zeh ein riesiges Loch aufwiesen, vervollständigten das unangenehme Bild.

»Puh!« murmelte Caramon schnüffelnd. »Was ist das für ein entsetzlicher Gestank?«

»Du«, antwortete Tolpan, der sich mit einer Hand die Nase zuhielt und mit der anderen herumfuchtelte, als ob er so den Geruch vertreiben könnte. Caramon stank nach Zwergenspiritus! Der Kender betrachtete ihn scharf. Caramon war nüchtern gewesen, als sie aufgebrochen waren, und er wirkte auch jetzt nüchtern. Seine Augen waren klar, und er stand aufrecht, ohne zu taumeln.

Der große Mann schaute hinunter und sah zum ersten Mal seine Aufmachung. »Was? Wie?« fragte er verwirrt.

»Man könnte doch davon ausgehen«, sagte Tolpan streng und musterte voll Abscheu Caramons Kleidung, »daß die Magier sich etwas Besseres als dies hier leisten könnten!« Ein plötzlicher Gedanke stieg in ihm hoch. Ängstlich sah er auf seine eigenen Kleider, seufzte dann aber erleichtert auf. Ihm war nichts geschehen. Er hatte sogar seine Beutel bei sich, alles war völlig in Ordnung. Eine nagende Stimme in seinem Inneren erwähnte, daß dies wahrscheinlich daran lag, daß er nicht hätte mitkommen sollen, aber er ignorierte sie.

»Nun, sehen wir uns hier um«, schlug Tolpan fröhlich vor und ließ auf seine Worte Taten folgen. Er war bereits in der Lage gewesen, aufgrund des Geruchs Vermutungen anzustellen, wo sie sich befanden – in einer Gasse. Der Kender zog die Nase kraus. Er hatte angenommen, daß Caramon stank! Die Gasse, überfüllt mit Müll und Abfall jeglicher Art, war dunkel, überschattet von einem riesigen Gebäude. Aber Tolpan konnte erkennen, daß es hellichter Tag war, als er zum Ende der Gasse blickte, die offensichtlich in eine geschäftige Straße mündete; sie wimmelte von Leuten, die kamen und gingen.

»Ich glaube, das ist ein Markt«, sagte Tolpan und schickte sich an, zu weiteren Untersuchungen das Ende der Gasse aufzusuchen. »In welche Stadt, sagtest du, wollten sie uns schicken?«

»Istar«, hörte er Caramon hinter seinem Rücken murmeln. Dann: »Tolpan!«

Ein ängstlicher Ton in Caramons Stimme ließ den Kender sich eilig umdrehen, seine Hand griff unverzüglich zu dem kleinen Messer, das er in seinem Gürtel trug. Caramon kniete bei einer Person, die in der Gasse lag.

»Was ist denn?« rief Tolpan, während er zurücklief.

»Crysania«, antwortete Caramon und hob einen dunklen Umhang hoch.

»Caramon!« Tolpan holte entsetzt Atem. »Was haben sie mit ihr angestellt? Hat ihre Magie nicht funktioniert?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Caramon leise, »aber wir müssen Hilfe holen.« Sorgfältig bedeckte er das blutige Gesicht der Frau mit dem Umhang.

»Ich gehe«, bot sich Tolpan an, »und du bleibst bei ihr. Das scheint hier wirklich kein guter Stadtteil zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja«, stimmte Caramon aufseufzend zu.

»Es wird alles gut werden«, versicherte Tolpan und tätschelte beruhigend die Schulter des großen Mannes. Dann drehte er sich um und eilte zur Straße.

»Hil...«, begann er dort, aber eine Hand schloß sich mit eisernem Griff um seinen Arm.

»Aber, aber«, ertönte eine strenge Stimme, »wohin willst du denn?«

Tolpan drehte sich um und erblickte einen bärtigen Mann, dessen Gesicht teilweise von dem glänzenden Visier eines Helms bedeckt war und der ihn mit dunklen kalten Augen anstarrte.

Stadtwache, erkannte der Kender sofort, der sehr viel Erfahrung mit dieser Art von offiziellen Persönlichkeiten hatte.

»Nun, ich war auf der Suche nach dir«, antwortete Tolpan und versuchte, sich freizuwinden und gleichzeitig einen unschuldigen Ausdruck anzunehmen.

»Das ist die typische Ausrede eines Kenders!« Der Hauptmann schnaufte verächtlich und verstärkte seinen Griff um Tolpan. »Wenn das stimmt, geht dieses Ereignis in die Geschichte Krynns ein, das steht fest.«

»Aber es stimmt«, entgegnete Tolpan und funkelte den Mann beleidigt an. »Ein Freund von uns ist verletzt.«

Er sah, wie der Hauptmann einem anderen Mann einen Blick zuwarf, den er vorher nicht bemerkt hatte – einem in weiße Roben gekleideten Kleriker.

Tolpan war froh. »Oh? Ein Kleriker? Wie...«

»Was meinst du, Denubis? Hier ist die Bettlergasse. Wahrscheinlich eine Messerstecherei, Diebe, die sich streiten.«

Der Kleriker war ein Mann mittleren Alters mit dünnen Haaren und einem ernsten Gesicht. Tolpan sah, wie er über den Marktplatz schaute und dann den Kopf schüttelte. »Wir sollten der Sache nachgehen.«

»Nun gut.« Der Hauptmann zuckte die Achseln. Er kommandierte zwei seiner Untergebenen ab und beobachtete, wie sie sich vorsichtig in die schmutzige Gasse bewegten. Er hielt die Hand über den Mund des Kenders, und Tolpan, der langsam erstickte, gab einen quietschenden Ton von sich.

Der Kleriker, der die Wachen unruhig beobachtet hatte, blickte sich um. »Laß ihn atmen, Hauptmann«, sagte er.

»Dann müssen wir seinem Geplapper zuhören«, murrte der Hauptmann ärgerlich, aber er nahm seine Hand von Tolpans Mund.

»Er wird ruhig sein, nicht wahr?« fragte der Kleriker und sah Tolpan mit Augen an, die irgendwie besorgt wirkten. »Ihm ist klar, wie wichtig es ist, nicht wahr?«

Nicht ganz sicher, ob der Kleriker ihn ansprach oder den Hauptmann oder beide, hielt es Tolpan für das Beste, einfach zustimmend zu nicken. Er sah Caramon aufstehen und auf das dunkle formlose Bündel zeigen, das neben ihm lag. Einer der Wachmänner kniete nieder und zog den Umhang beiseite.

»Hauptmann!« rief er, während der andere Wachmann sofort Caramon ergriff. Verblüfft und wütend über diese grobe Behandlung, riß sich der große Mann aus dem Griff des Wachmanns frei. Dieser schrie, und sein Gefährte erhob sich. Stahl blitzte auf.

»Verdammt!« fluchte der Hauptmann. »Hier, paß auf den kleinen Bastard auf, Denubis!« Er schob Tolpan in die Richtung des Klerikers.

»Soll ich nicht lieber gehen?« protestierte Denubis, während er Tolpan auffing, als der Kender auf ihn zustolperte.

»Nein!« Der Hauptmann lief bereits mit gezogenem Kurzschwert die Gasse hinunter. Tolpan hörte ihn etwas wie »großes Scheusal... gefährlich« murmeln.

»Caramon ist nicht gefährlich«, protestierte Tolpan und sah besorgt zu dem Kleriker auf, der Denubis genannt wurde. »Sie werden ihn doch nicht verletzen, oder? Was ist denn nicht in Ordnung?«

»Das werden wir schnell genug herausfinden«, sagte Denubis in strengem Ton. Er hielt Tolpan in einem sanften Griff fest, so daß der Kender sich mühelos hätte befreien können. Zuerst hatte Tolpan Flucht in Erwägung gezogen, aber er konnte seinen Freund nicht zurücklassen.

»Sie werden ihn nicht verletzen, wenn er friedlich mitkommt.« Denubis seufzte. »Aber wenn er das verübt hat...« Der Kleriker erbebte und stockte einen Augenblick. »Nun, wenn er das verübt hat, findet er hier wohl einen leichteren Tod.«

»Was getan?« Tolpan wurde immer verwirrter. Auch Caramon wirkte verwirrt, denn Tolpan sah, wie er in Unschuldsbeteuerungen die Hände erhob.

Aber noch während er das tat, stellte sich einer der Wachmänner hinter dem großen Mann auf und stieß mit dem Schaft seines Speers in seine Kniekehlen. Caramons Beine gaben nach. Als er taumelte, schlug der vor ihm stehende Wachmann ihn mit einem fast lässigen Hieb gegen die Brust zu Boden.

Caramon war noch nicht einmal auf dem Pflasterstein aufgeschlagen, als die Speerspitze schon an seiner Kehle war. In einer Geste der Ergebung hob er die Hände. Schnell rollten die Wachen ihn auf den Bauch, ergriffen seine Hände und fesselten sie flink und geschickt hinter seinem Rücken.

»Sie sollen aufhören!« schrie Tolpan. »Das können sie nicht machen...«

Der Kleriker hielt ihn fest. »Nein, kleiner Freund, für dich wäre es am besten, wenn du bei mir bleibst. Bitte«, sagte er und faßte Tolpan sanft an den Schultern. »Du kannst ihm nicht helfen.«

Die Wachmänner zogen Caramon auf die Füße und begannen, ihn gründlich zu durchsuchen; ihre Hände griffen sogar in seine Lederhose. Sie fanden an seinem Gürtel einen Dolch – diesen übergaben sie dem Hauptmann – und eine Flasche. Sie öffneten sie, und nachdem sie an ihr gerochen hatten, warfen sie sie voll Abscheu fort.

Einer der Wachmänner wies auf das dunkle Bündel auf den Pflastersteinen. Der Hauptmann kniete nieder und hob den Umhang hoch. Tolpan sah ihn den Kopf schütteln. Dann hob der Hauptmann das Bündel auf und drehte sich um, um die Gasse zu verlassen. Beim Vorbeigehen sagte er etwas zu Caramon. Tolpan hörte das unflätige Wort mit Entsetzen, so wie offenbar auch Caramon, denn das Gesicht des großen Mannes wurde leichenblaß.

Tolpan blickte zu Denubis auf und sah, wie sich die Lippen des Klerikers zusammenzogen; die Finger an Tolpans Schulter zitterten.

Dann verstand Tolpan. »Nein«, flüsterte er gequält, »o nein! Das können sie doch nicht denken! Caramon würde keiner Maus etwas zuleide tun! Er hat Crysania nicht verletzt! Er versuchte nur, ihr zu helfen! Darum sind wir gekommen. Nun, das war jedenfalls ein Grund. Bitte!« Tolpan wirbelte herum, um Denubis ins Gesicht zu sehen, und schlug die Hände zusammen.

»Bitte, du mußt mir glauben! Caramon ist ein Soldat! Er hat getötet – sicher. Aber nur eklige Dinge wie Drakonier und Goblins. Bitte, bitte, glaub mir!«

Aber Denubis sah ihn nur streng an.

»Nein! Wie kannst du das nur denken? Ich hasse diesen Ort! Ich will wieder nach Hause!« schrie Tolpan jämmerlich, als er Caramons schmerzerfülltes, verwirrtes Gesicht sah. Der Kender brach in Tränen aus, vergrub das Gesicht in beide Hände und schluchzte.

Dann spürte Tolpan, wie ihn eine Hand zögernd berührte und dann sanft streichelte.

»Nun, nun«, sagte Denubis. »Du wirst Gelegenheit erhalten, deine Geschichte zu erzählen. Dein Freund auch. Und wenn du unschuldig bist, wird dir kein Leid geschehen.« Aber Tolpan horte den Kleriker seufzen. »Dein Freund hatte getrunken, nicht wahr?«

»Nein!« Tolpan schniefte und sah Denubis flehend an.

»Nicht einen Tropfen, das schwöre ich...«

Die Stimme des Kenders erstarb jedoch bein Anblick Caramons, als die Wachmänner ihn aus der Gasse zur Straße führten, wo Tolpan und der Kleriker standen. Caramons Gesicht war mit dem Schmutz und Unrat der Gasse verschmiert, Blut tropfte aus einer Schnittwunde an seiner Lippe, sein Gesichtsausdruck war leer und angsterfüllt. Seine vergangenen Trinkgelage waren in den aufgedunsenen roten Wangen und den zitternden Gliedern nur allzu sichtbar. Angesichts der Wachmänner hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die ein höhnisches Gelächter von sich gab.

Tolpan ließ den Kopf hängen. Was hatte Par-Salian getan, fragte er sich verwirrt. War irgend etwas schiefgelaufen? Waren sie überhaupt in Istar? Waren sie irgendwo untergegangen? Oder vielleicht war alles ein entsetzlicher Alptraum...

»Wer... was ist geschehen?« fragte Denubis den Hauptmann. »Hatte der Schwarze recht?«

»Recht? Natürlich hatte er recht. Hast du jemals erlebt, daß er sich geirrt hat?« rief der Hauptmann. »Ich weiß nicht, wer sie ist, aber sie ist ein Mitglied deines Ordens. Trägt um ihren Hals das Medaillon von Paladin. Sie ist übel zugerichtet. Zuerst dachte ich, sie sei tot, aber ihr Puls schlägt noch.«

»Glaubst du, daß sie...«, stammelte Denubis.

»Ich weiß nicht«, antwortete der Hauptmann grimmig »Aber sie wurde zusammengeschlagen. Ich vermute, sie hat eine Art Schock erlitten. Ihre Augen sind weit geöffnet, aber sie scheint nichts zu sehen oder zu hören.«

»Wir müssen sie unverzüglich zum Tempel bringen«, sagte Denubis energisch, obwohl Tolpan ein Zittern in der Stimme des Mannes hörte. Die Wachmänner trieben die Menge auseinander, hielten ihre Speere vor sich gerichtet und stießen die Neugierigen zurück.

»Alles ist unter Kontrolle. Weitergehen, weitergehen! Der Markt wird bald geschlossen. Kümmert euch lieber um eure Einkäufe, solange die Zeit reicht.«

»Ich habe sie nicht verletzt!« sagte Caramon düster. Er zitterte vor Angst. »Ich habe sie nicht verletzt«, wiederholte er, während Tränen über sein Gesicht liefen.

»Ja!« sagte der Hauptmann bitter. »Bringt die beiden ins Gefängnis«, befahl er den Wachmännern.

Tolpan wimmerte. Einer der Wachmänner griff grob nach ihm, aber der Kender hielt sich an Denubis’ Roben fest und weigerte sich, sie loszulassen. Der Kleriker, dessen Hand auf Crysanias lebloser Gestalt ruhte, drehte sich um, als er die klammernden Hände des Kenders spürte.

»Bitte«, bettelte Tolpan, »bitte, er sagt die Wahrheit.«

Denubis’ Gesicht wurde weich. »Du bist ein treuer Freund«, sagte er sanft. »Ein ziemlich ungewöhnlicher Charakterzug bei einem Kender. Ich hoffe, dein Glaube an diesen Mann ist gerechtfertigt.« Abwesend streichelte der Kleriker Tolpans Zopf, sein Gesichtsausdruck war traurig. »Aber du mußt dir im klaren sein, daß der Alkohol einen Mann zuweilen zu Dingen verleitet...«

»Komm schon, du!« fauchte der Wachmann und riß Tolpan zurück. »Laß dieses Spielchen. Es funktioniert nicht.«

»Laß dich davon nicht durcheinanderbringen, Verehrter Sohn«, sagte der Hauptmann. »Du kennst doch Kender!«

»Ja«, erwiderte Denubis. Seine Augen waren auf Tolpan gerichtet, als die zwei Wachmänner den Kender und Caramon durch die schnell kleiner werdende Menge auf dem Marktplatz führten. »Ich kenne Kender. Und dieser hier ist ein bemerkenswerter.« Dann schüttelte er den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Crysania zu. »Halte sie bitte noch fest, Hauptmann«, sagte er leise, »ich werde Paladin bitten, uns mit aller Geschwindigkeit in den Tempel zu befördern.«

Tolpan, der sich im Griff der Wache wand, sah den Kleriker und den Hauptmann der Wache allein auf dem Marktplatz stehen. Ein weißes Licht leuchtete auf, und dann waren sie verschwunden.

Tolpan blinzelte und stolperte über seine Füße, da er vergessen hatte, auf seine Schritte zu achten. Er fiel auf das Pflaster, schürfte sich Knie und Hände auf. Ein fester Griff an seinem Kragen riß ihn nach oben, und eine starke Hand stieß in seinen Rücken.

»Komm weiter. Keine Tricks.«

Tolpan bewegte sich vorwärts, zu aufgeregt, um einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Sein Blick ging zu Caramon, und der Kender fühlte sein Herz schmerzen. Überwältigt von Scham und Angst, schleppte sich Caramon blind auf der Straße dahin, seine Schritte waren unsicher.

»Ich habe sie nicht verletzt!« hörte Tolpan ihn murmeln. »Es muß eine Verwechslung vorliegen...«

Загрузка...