Das Erwachen war eine Qual. Jede einzelne Zelle in ihrem Körper schien in Flammen zu stehen, und das dumpfe, mühsame Schlagen ihres Herzens schickte vibrierende Schmerzwellen bis in ihre Finger- und Zehenspitzen. Sie wollte die Augen öffnen und konnte es nicht.
Aber sie wußte, was sie getroffen hatte.
Ein Teil ihres Bewußtseins hatte es noch begriffen, ehe es von der grünen Lichtflut der Schockwaffe aus ihrem Körper herausgeprügelt worden war. Und der erste klare Gedanke, zu dem sie nach einer Weile fähig war, war die Frage, welches Gefühl nun stärker in ihr war: die Überraschung, diese beiden Gestalten hier unten zu erblicken, oder die Verwirrung, daß sie von ihnen angegriffen worden waren.
Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Immerhin gelang es ihr nach einigen Minuten, die Augen zu öffnen. Sie lag lang ausgestreckt auf einer niedrigen Metallpritsche, die sich in einer winzigen, fast völlig kahlen Kammer aus Beton befand. Unter der Decke gab es eine einfache Lampe, deren nackte Glühbirne von einem rostigen Metallkorb geschützt wurde. Auf der linken Seite der Pritsche entdeckte sie eine ebenfalls rostige Tür. Die Kammer war so klein, daß der verbliebene Platz zwischen der Pritsche und ihr kaum ausreichen konnte, sie völlig zu öffnen. Einer der silbernen Riesen hing am Fußende der Pritsche an der Wand, aber er hatte seine Form verändert und sah jetzt schlaff und faltig aus, wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen war.
Die silberne Haut war das Metallgewebe eines uralten ABC-Anzuges, und das einzelne große Auge die Sichtscheibe eines Helmes. Auf der linken Schulter des ABC-Anzuges befand sich ein kleiner, dunkelblauer Aufnäher, der eine Flagge in Schwarz und Rot und Gold und die Worte Lt. Felss zeigte. Charity kramte eine Minute lang in ihrer Erinnerung, ehe ihr einfiel, daß dies die Farben der vereinigten Deutschen Republik waren. Offensichtlich hatte sie ihre Flucht aus Paris weiter weggebracht, als sie bisher angenommen hatte.
Durch das Metall der Tür drangen Schritte. Ein Schlüssel klirrte im Schloß, dann wurde ein offensichtlich sehr schwergängiger Riegel zurückgeschoben, und die Tür schwang ein Stück auf, ehe sie unsanft gegen die Metallkante ihrer Pritsche stieß. Charity verzog das Gesicht, als die Erschütterung einen scharfen Schmerz durch ihren Nacken schießen ließ, und versuchte, sich aufzusetzen.
Vom Gang drang grelles Neonlicht herein, so daß die Gestalt, die in der Tür aufgetaucht war, im ersten Moment nur als flacher, riesiger Schatten zu erkennen war. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit, und sie sah, daß ein riesiger, noch recht junger Mann vor ihr stand. Er hatte kurzgeschnittenes, braunes Haar und ein offenes Gesicht, das ihr sympathisch gewesen wäre, hätte sie seinen Anblick nicht unwillkürlich mit dem grausamen Schmerz assoziiert, den ihr die Schockwaffe zugefügt hatte. Bekleidet war er mit einer engsitzenden, schlichten Uniform in dunklem NATO-Oliv, auf deren rechten Schulter sich das Abzeichen auf seinem Schutzanzug wiederholte; allerdings ohne seinen Namenszug.
Der Soldat schien überrascht, sie bei vollem Bewußtsein vorzufinden, denn er blinzelte einen Moment lang verwirrt zu ihr herab, ehe er seinen hünenhaften Körper ungeschickt durch die nur halb geöffnete Tür zwängte und sie hinter sich wieder schloß.
»Sie sind wach?« fragte er. Er sprach englisch mit einem sonderbar harten Akzent, der Charity endgültig klarmachte, wo sie gelandet war.
»Wie Sie sehen.« Sie hatte verärgert klingen wollen oder wenigstens herablassend, aber ihre Stimme war flach und müde und klang in ihren eigenen Ohren wie die einer fremden, uralten Frau.
Einen Moment lang blickte der junge Soldat auf sie herab, dann zuckte er mit den Schultern, griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein schmales Lederetui hervor, das er aufklappte, während er sich auf die Kante ihrer Pritsche sinken ließ. »Ich weiß, es ist eine dumme Frage«, sagte er, »aber wie fühlen Sie sich?«
»Ausgezeichnet«, antwortete Charity, während sie sich weiter aufrichtete. Diesmal gelang es ihr, wenigstens eine Spur von bissigem Spott in ihre Stimme zu zwingen. Der Soldat sah flüchtig auf, und in seinen Augen erschien ein Lächeln.
Charity sah, daß das Etui eine gefüllte Wegwerfspritze enthielt, die er jetzt herausnahm.
»Was haben Sie vor?« fragte sie mißtrauisch. Hastig setzte sie sich ganz auf und zog die Knie an den Körper.
»Das wird Ihnen guttun«, antwortete der Soldat, während er die Spritze gegen das Licht hob, das linke Auge zukniff und den Kolben hochdrückte, so daß ein einzelner schimmernder Tropfen aus der Nadel quoll. »Kein Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte er. »Aber Sie müssen wahnsinnige Kopfschmerzen haben.«
»Vielleicht habe ich gern Kopfschmerzen?« sagte Charity scharf.
Der junge Soldat ließ die Spritze sinken und sah sie stirnrunzelnd an, und Charity fügte hinzu: »Tun Sie das Ding weg!«
Einen Moment lang reagierte er nicht. Es hätte Charity nicht gewundert, wenn er versucht hätte, ihr die Injektion mit Gewalt zu verabreichen. Aber dann zuckte er nur mit den Achseln, legte die Spritze in das Etui zurück und klappte es zu.
»Wie Sie wollen«, sagte er. »Jeder hat seine Vorlieben, nicht wahr?«
Charity blickte ihn ärgerlich an. »Wo bin ich hier?« fragte sie. »Wieso haben Sie auf uns geschossen?«
»Das mußte sein«, antwortete der Soldat. Das Bedauern in seiner Stimme klang echt. »Alles andere wird Ihnen Leutnant Hartmann erklären, sobald er mit Ihnen reden kann, Captain Laird.«
Charity hatte Mühe, sich ihre Überraschung, daß er offensichtlich wußte, wer sie war, nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Wer ist dieser Hartmann?« fragte sie.
Eine Sekunde lang sah der Soldat sie überrascht an, dann wandte er den Kopf und blickte den ABC-Anzug an, der am Fußende ihrer Pritsche an der Wand hing. Er nickte, und ein anerkennendes Lächeln huschte über seine Lippen.
»Unser IVD«, antwortete er.
»IVD?«
»Idiot vom Dienst«, erklärte Felss lächelnd. »Ein ziemliches Rindvieh. Aber leider auch mein Vorgesetzter - und zumindest im Moment der Boß hier unten.«
»Dann bringen Sie mich zu ihm«, verlangte Charity.
»Jetzt gleich?«
»Jetzt gleich!«
Felss hatte sich schon zur Tür gedreht, als er sich noch einmal umwandte. »Sind Sie sicher, daß Sie nichts wollen?« fragte er. »Sie müssen entsetzliche Kopfschmerzen haben. Ich kann Ihnen eine Tablette geben, wenn Sie keine Spritzen mögen.«
Charity schüttelte zornig den Kopf - was das leise Hämmern hinter ihren Schläfen zu einem Stakkato dröhnender Paukenschläge anschwellen ließ - und sagte leise »Ja.«
Der Leutnant lachte ein leises, gutmütiges Lachen, während seine Hand in die rechte Jackentasche glitt. »Stolz ist eine feine Sache«, sagte er, »aber gegen Kopfschmerzen wirkt er nicht besonders.«
Charity schenkte ihm einen bösen Blick, wartete, bis er das kleine Tablettenröhrchen aufgeschraubt und zwei Pillen auf ihre ausgestreckte Hand geschüttet hatte, und würgte sie trocken herunter. Dann mußte sie husten, schüttelte aber den Kopf, als Felss den Arm hob und sie fragend ansah, um ihr auf den Rücken zu klopfen. »Schon gut«, sagte sie mühsam. »Es ... geht schon wieder.«
Für einen Mann, der sie noch vor weniger als zwei Stunden mit einer Schockwaffe niedergestreckt hatte, verhielt er sich plötzlich sehr leichtsinnig, denn er drehte ihr den Rücken zu, als er auf den Gang hinaustrat. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Pistolentasche an seinem Gürtel zu schließen. Vielleicht unterschätzte er sie einfach, weil sie eine Frau war.
»Was ist das hier?« fragte sie, während sie neben Felss durch den langen, sehr niedrigen Korridor ging, dessen Wände wie die Zelle aus dem gleichen nackten Beton bestanden. Unter der Decke zog sich ein Gewirr von Rohrleitungen und elektrischen Verbindungen hin, die zum Teil noch nicht einmal verkleidet waren. Diese Anlage mußte entweder in großer Hast oder mit sehr wenig Geld errichtet worden sein. Und sie war offensichtlich sehr alt. Es schien kein Metallteil zu geben, das nicht verrostet war. Trotzdem funktionierte das meiste offenbar noch. Von den Leuchtstoffröhren unter der Decke war nur jede zweite eingeschaltet; in regelmäßigen Abständen gab es kleine Videokameras an den Wänden, die ihren Schritten mit lautlosen Drehungen folgten.
»Leutnant Hartmann wird Ihnen alles erklären«, antwortete Felss freundlich. »Wir sind gleich da.« Er deutete auf eine Tür am vorderen Ende des Ganges. Charity sah ihn mit leiser Verärgerung an, sparte sich aber jede weitere Frage. Vielleicht waren es die Videokameras und die zweifellos dazugehörigen Mikrophone, die Felss plötzlich schweigsam werden ließen.
*
»Nun?« Unter normalen Umständen hätte Stern jetzt überrascht aufgeblickt, denn Leutnant Hartmanns Stimme klang vollkommen ruhig und sogar freundlich. Aber die Umstände waren nicht normal, und daher blickte Stern weiter und mit wachsender Besorgnis auf das Gewirr von winzigen Computermonitoren, Skalen und Anzeigeinstrumenten auf dem Pult vor sich. »Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen«, sagte er nach einer Weile. Er sah Hartmann mit eindeutig furchtsamem Gesichtsausdruck an. Doch Hartmann runzelte nur besorgt die Stirn und fixierte dann einige Sekunden lang einen imaginären Punkt irgendwo zwischen Stern und der Wand hinter ihm. »Was ist mit der Notbremse?« fragte er schließlich.
Stern schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Zu spät«, sagte er. »Ich habe alles versucht. Aber die Computer haben Eindringlinge in der Sicherheitszone registriert. Da ist nichts mehr zu machen. Wir haben bereits seit einer Stunde Sekundär-Alarm.« Er zögerte einen Moment und faßte dann, durch Hartmanns ungewohnte Ruhe und Gelassenheit ermutigt, genug Mut, um mit der Hand auf einen der Kontrollmonitore an der Wand zu deuten und hinzuzufügen: »Wenn in den nächsten dreißig Minuten auch nur noch eine von diesen Flugscheiben auftaucht, dann wird der Primär-Alarm ausgelöst.«
Hartmann drehte sich herum und blickte auf den Schirm. Er war kein abergläubischer Mensch. Die Position, die er innehatte, hatte er aus dem einzigen Grund erhalten, daß er zu jenen Männern gehörte, denen man nachsagte, immer mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. Aber in diesem Moment begann er, an böse Omen zu glauben, denn Stern hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als auf dem grünleuchtenden Monitor der Radarüberwachung gleich ein ganzes Dutzend neuer, giftgrün flimmernder Punkte erschien.
Stern seufzte tief. »Das war's dann wohl«, sagte er niedergeschlagen. »Nichts auf der Welt kann den Weckvorgang jetzt noch aufhalten.«
Auch Hartmann seufzte. Er sah Stern nicht an, aber der Leutnant konnte erkennen, wie sich ein Ausdruck tiefer, ehrlich empfundener Sorge auf seinem Gesicht breitmachte. »Ja«, flüsterte er. Dann gab er sich einen sichtbaren Ruck, drehte sich wieder zu Stern herum und rang sich zu einem Lächeln durch.
»Halten Sie weiter die Augen offen, Stern«, sagte er. »Ich werde gehen und mich um unsere Gäste kümmern. Ich hoffe«, fügte er nach einer winzigen Pause und in verändertem Tonfall hinzu, »sie sind den Ärger wert, den sie uns bereiten.«
*
Sie gingen eine kurze, aus nackten, ungleichmäßig gegossenen Betonstufen bestehende Treppe hinab. Ein zweiter, etwas breiterer Gang nahm sie auf, von dem zahlreiche Türen abzweigten, aber Felss steuerte zielstrebig das Ende des Korridors an. Die Tür dort bewegte sich mit einem leisen, elektrischen Summen zur Seite, als sie sich ihr näherten.
Felss blieb dicht davor stehen und machte eine einladende Handbewegung. Charity zögerte einen Moment, ging dann aber an dem jungen Soldaten vorbei. Die Tür schloß sich hinter ihr selbsttätig wieder, sie hörte das leise metallische Klicken, mit dem das Schloß einrastete.
Der Raum, den sie betrat, überraschte sie. Sie hatte eine weitere, kahle Betonzelle erwartet - aber das Zimmer, in dem sie sich befand, hätte jedem guten Hotel zur Ehre gereicht; sah man von der Tatsache ab, daß es kein Fenster hatte. Die Wände waren mit Holzimitationen verkleidet, und es gab wenige, aber ausgesucht geschmackvolle Möbelstücke. An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiges Farbfoto, das das Panorama einer Stadt zeigte. Was Charity sofort ins Auge fiel, war der Umriß einer gewaltigen Kathedrale mit zwei spitzen Türmen, die sich vor dem glitzernden, blauen Band eines Flusses erhob. Dann erblickte sie einen grauhaarigen Mann, der in einem schweren Ledersessel hinter einem Schreibtisch saß und sie aus kalten, fast ausdruckslosen Augen musterte.
»Sie sind Leutnant Hartmann, vermute ich«, sagte Charity.
Hartmann nickte und deutete mit einer einladenden Geste auf eine kleine Couch, die an der Wand neben der Tür stand. »Ich erspare mir die Frage, wie Sie sich fühlen, Captain«, sagte er.
»Wahrscheinlich so, wie ich aussehe«, antwortete Charity.
Hartmann zauberte ein mitfühlendes Lächeln auf sein Gesicht. »So schlimm?«
»Sehe ich so schlimm aus?«
Hartmann lächelte wieder und nickte. »Ja. Diese Schockwaffen sind ekelhaft, ich weiß. Ich hatte selbst schon zweimal das Vergnügen...« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen wir das. Im Ernst, Captain Laird - wie geht es Ihnen? Sind Sie verletzt?«
»Nein«, antwortete Charity. »Warum haben Ihre Männer auf uns geschossen?«
»Das ließ sich leider nicht vermeiden«, erwiderte Hartmann. »Sie hatten die Wahl zuzusehen, wie Sie und Ihre Freunde von den Ratten aufgefressen werden, oder Sperrfeuer in den ganzen Korridor zu legen. Ich nehme an, daß ihre Entscheidung im nachhinein Ihre Zustimmung finden wird, Captain Laird.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Nein«, sagte Hartmann ruhig. Er schien noch mehr dazu sagen zu wollen, besann sich dann aber anders. Ein paar Sekunden sah er sie ausdruckslos, aber sehr aufmerksam von Kopf bis Fuß an, dann beugte er sich vor und nahm etwas von der Schreibtischplatte, das Charity als ihre ID-Plakette erkannte. Instinktiv hob sie die Hand und tastete nach der dünnen Kette an ihrem Hals. Sie war verschwunden.
»Captain Charity Laird«, las Hartmann vor. »US-Space-Force.« Er sah sie fragend, aber ohne echtes Interesse an. »Ist das Ding echt?«
In der ersten Sekunde erschien es Charity nicht einmal der Mühe wert zu sein, auf diese Frage zu antworten. Aber sie beherrschte sich und schluckte die scharfe Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, herunter. »Ich glaube, ich wäre wahrscheinlich nicht mehr am Leben«, sagte sie statt dessen, »wenn Sie der Meinung wären, daß die Plakette nicht echt ist.«
Hartmann legte die Plakette mit einem Nicken auf den Schreibtisch zurück. »Das stimmt«, sagte er gelassen. »Wie lange sind Sie schon wach?«
Diesmal war Charity wirklich überrascht. »Sie ... wissen es?«
»Selbstverständlich«, antwortete Hartmann in leicht beleidigtem Tonfall. »Diesem Ausweis nach sind Sie sechsundachtzig Jahre alt, Captain Laird. Aber Sie sehen nicht so aus. Ich ...« Er brach ab, runzelte abermals die Stirn und sah sie mit neuem Interesse an. »Laird ...« wiederholte er in verändertem, nachdenklichem Tonfall. »Charity Laird ... Sie waren damals diejenige, die das Sternenschiff entdeckt hat.«
»Ich gehörte zur ersten Expedition, da haben Sie recht.« Sie blickte Hartmann mit einem humorlosen Lächeln an. »Manche behaupten, ich hätte es geholt.«
»Was für ein Unsinn«, sagte Hartmann. »Sie sind in einen Schlaftank entkommen. Wie viele außer Ihnen haben es noch geschafft?«
Charity antwortete nicht sofort. »In unserer Basis ... niemand. Niemand außer mir. Es war reines Glück.« Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm von Stone erzählen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
»Glück?« Hartmann lachte leise und nicht sehr humorvoll. »Nun ja ... Aber lassen wir das. Ihre Basis?«
»Survival Station 01«, erklärte Charity. »Der Regierungsbunker.« Sie machte eine fragende Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß. »Was ist das hier? Etwas Ähnliches?«
Hartmann überging die Frage. »Seit wann sind Sie wach? Und wie kommen Sie hierher nach Deutschland?«
Etwas an Hartmanns Art irritierte Charity. Trotz seiner Kälte und Sachlichkeit wirkte er nicht unfreundlich. Doch Charity glaubte zu spüren, daß der Mann innerlich vor Nervosität fast krank war. »Das ist ... eine ziemlich lange Geschichte«, antwortete sie ausweichend. »Ich erzähle sie Ihnen gern, aber vielleicht nicht jetzt. Was ist mit meinen Begleitern?«
»Ihnen fehlt nichts«, sagte Hartmann. Zu ihrer Überraschung verzichtete er darauf, abermals eine Erklärung von ihr zu verlangen, sondern fügte hinzu: »Die meisten von ihnen sind noch bewußtlos. Sie sind die einzige, die bereits wach ist - außer diesem Jungen.«
»Kyle?«
»Wer ist er? Ein Dreckfresser?«
»Ich weiß nicht genau, was Sie mit diesem Wort meinen«, antwortete Charity scharf. »Er ist ein Freund.«
»Ein Freund? Hat man Ihnen noch nicht gesagt, daß man sich heutzutage seine Freunde genau anschauen sollte?«
Er hob befehlend die Hand, als Charity abermals auffahren wollte, und fuhr in nur leicht gemäßigterem Ton fort. »Bitte verzeihen Sie, Captain Laird, wenn ich etwas grob erscheine. Aber Sie werden mich verstehen, wenn Sie mir zuhören. Wir haben im Moment eine etwas...«
Er zögerte. »Eine etwas angespannte Situation«, sagte er schließlich.
»Und ich muß wissen, was Sie damit zu tun haben. Dieser Bombenangriff heute morgen - hat er mit Ihnen zu tun?«
Wieder flüsterte eine innere Stimme Charity zu, daß es vielleicht besser war, nichts zu sagen. Aber die gleiche innere Stimme erklärte ihr auch im gleichen Moment, daß Hartmann kein Mann war, den man so ohne weiteres belügen konnte.
»Ich fürchte, ja«, sagte sie. »Das galt uns.«
»Warum?« schnappte Hartmann.
»Ich vermute«, erwiderte Charity spöttisch, »die Ameisen schätzen es nicht besonders, wenn man ihnen ihre Gleiter stiehlt.«
Hartmann zog überrascht die linke Augenbraue hoch, antwortete aber nicht sofort, sondern lehnte sich bequemer in seinem Sessel zurück und legte die gespreizten Finger gegeneinander. »Sie waren in diesem Gleiter, der abgeschossen wurde?«
»Sie scheinen ziemlich gut informiert zu sein, Herr Leutnant«, sagte Charity.
Hartmann lächelte kalt. »Das ist der Grund, aus dem wir hier unten noch leben. Aber einen Gleiter zu stehlen ist in meinen Augen noch kein ausreichender Grund, eine halbe Stadt mit Atombomben einzuäschern.«
»Ich sagte Ihnen bereits«, erwiderte Charity vorsichtig, »es ist eine lange Geschichte.«
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Ausweisplakette, die noch immer vor Hartmann auf dem Schreibtisch lag. »Sie hat etwas damit zu tun. Kann ich sie wiederhaben?«
Sie streckte die Hand aus, zögerte einen Moment und führte die Bewegung erst zu Ende, als Hartmann mit den Augen ein Kopfnicken andeutete. Ohne einen konkreten Grund dafür angeben zu können, fühlte sie sich sicherer, als sie die winzige Plakette wieder an der Kette um ihren Hals befestigte.
Der Intercom-Schirm an der Wand summte. Hartmann drehte sich mit seinem Sessel herum und streckte die Hand aus. Charity rechnete damit, daß er ihn einschalten wurde, aber statt dessen nahm er einen altmodischen Telefonhörer zur Hand und meldete sich mit einem knappen: »Ja?«
Er lauschte einen Moment, und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich mit jedem Wort, das am anderen Ende der Leitung gesprochen wurde. Hartmann selbst sagte nichts, sondern hängte den Hörer nach einer knappen Minute zurück und wandte sich wieder zu Charity um.
Als er sie ansah, waren seine Züge so ausdruckslos wie zuvor; das Gesicht eines Geschäftsmannes, der einen Verhandlungspartner musterte, von dem er noch nicht ganz genau wußte, was er von ihm zu halten hatte.
»Ich fürchte, wir müssen den Rest unserer Unterhaltung auf später verschieben«, sagte er. »Vielleicht ist es sogar besser so. Ich bin sicher, Sie haben nicht nur eine Menge Antworten für mich, sondern auch eine Menge Fragen an mich. Und ich habe wenig Lust, alles fünfmal erklären zu müssen.«
Er stand auf und kam um den Schreibtisch herum; auch Charity erhob sich.
»Leutnant Felss wird Ihnen Ihr Quartier zeigen«, sagte Hartmann. »Ich fürchte, es wird nicht sonderlich luxuriös sein, aber doch ein wenig bequemer als das Wrack eines Moroni-Gleiters.«