16


Als die Panik allmählich verebbte, war es zu spät. Er war erwacht, den Bruchteil einer Sekunde, ehe eine unsichtbare Kralle aus Stahl nach seinen Gedanken und seiner Seele gegriffen und beides aus seinem zerstörten Körper herausgerissen hatte, und vielleicht hätte die Zeit noch ausgereicht, einen Befehl zu schreien, sie daran zu hindern, diese fürchterliche Maschine einzuschalten, und ihm damit ein neues Leben zu schenken und gleichzeitig sein Todesurteil auszusprechen. Aber er war vor Angst wie gelähmt gewesen, und als er begriff, daß Luzifer ihn belogen hatte und die Zeit, die ihm noch blieb, nicht mehr nach Wochen, nicht einmal mehr nach Stunden, sondern nur noch nach Augenblicken gezählt wurde, da waren die letzten kostbaren Augenblicke auch bereits verstrichen, und das letzte, zu dem er fähig gewesen war, war ein gellender Entsetzensschrei.

Was danach kam, war nichts als ein böser Traum. Stone wußte, daß er nichts von alledem, woran er sich zu erinnern glaubte, wirklich erlebt hatte. Und doch würde er diese entsetzlichen Bilder nie wieder vergessen. Etwas hatte seinen Geist aus seinem Körper herausgerissen und in die Unendlichkeit geschleudert, in der es kein Hier und Jetzt, keine Zeit, in der es überhaupt nichts gab. Für Ewigkeiten war er in einem Universum voller Schwärze und Einsamkeit gefangen, bis er gespürt hatte, daß etwas Kaltes und Maschinenhaftes nach ihm griff und seine Gedanken sondierte und jeden Augenblick seiner Existenz erforschte. Und schließlich war der schwarze Abgrund der Unendlichkeit einem anderen, noch dunkleren Gefängnis gewichen.

Er wußte nicht, wie lange er in jenem Gefängnis gewesen war, das seine Gedanken und Gefühle zu einer bloßen Aneinanderreihung gespeicherter Informationen reduzierte, ein Computerprogramm mit dem Namen Daniel Stone, das darauf wartete, aktiviert zu werden. Seine nächste bewußte Erinnerung war das Gefühl, wieder einen Körper zu haben. Er öffnete die Augen und sah Luzifers Gesicht über sich. Als er versuchte, sich aufzusetzen, wurde er mit einem schmerzhaften Ruck zurückgerissen. Sein Körper war mit einer Unzahl von Schläuchen, Drähten, Anschlüssen und dünnen Kabeln versehen.

»Was ist passiert?« fragte er. »Wo bin ich?« Noch einmal, aber sehr viel vorsichtiger jetzt, drehte er den Kopf und sah seinen Adjutanten an. »Du hast mich belogen!« herrschte er Luzifer an.

»Ich hatte keine andere Wahl, Herr«, antwortete die Ameise. »Es gab Komplikationen. Einige Ihrer wichtigsten Körperfunktionen versagten plötzlich. Sie drohten zu sterben.«

»Du hättest es mir sagen müssen!«

Luzifer deutete ein Nicken an. »Ich weiß. Ich bin bereit, die Strafe für mein Fehlverhalten auf mich zu nehmen. Aber der Schutz Ihres Lebens hat oberste Priorität. Es blieb keine Zeit, Sie zu informieren.«

Stone starrte die Ameise mit einer Mischung aus brodelndem Zorn und einer vagen Hoffnung an. Der devote Ton, in dem Luzifer sprach, war nicht der, in dem er sich mit einem Verräter unterhielt. Möglicherweise wußte er noch nicht, was Daniel getan hatte.

»Mach mich los«, verlangte er.

Luzifer zögerte. »Es wäre besser, wenn...«

»Mach diese verdammten Dinger ab!« unterbrach ihn Stone zornig. »Sofort!«

Gehorsam trat das riesige Insektengeschöpf näher und löste die zahllosen Anschlüsse, mit denen Stones neuer Körper mit den Computeranlagen verbunden war. Was Luzifer tat, war sehr schmerzhaft, aber Stone verbiß sich jeden Laut. Sein Blick wanderte über die glitzernden Apparaturen und blieb an dem riesigen, rechteckigen Schirm haften, der wie ein starrendes blindes Auge auf den Tisch herabblickte. Er hatte eine ähnliche Anlage vor nicht einmal allzu langer Zeit in Paris gesehen. Sie hatte jede Erinnerung, jedes Bild aus dem Gedächtnis des gefangenen Megamannes gezeigt.

Nachdem Luzifer die letzte Nadel aus seiner Vene gezogen hatte, befahl er ihm barsch, ihm etwas zum Anziehen zu besorgen, und setzte sich vorsichtig auf. Luzifers Warnung war nicht übertrieben gewesen, ihm wurde sofort schwindelig, und seine Glieder fühlten sich so schwach an, daß er Mühe hatte, auf der Kante des Operationstisches sitzen zu bleiben. Er wartete, bis der Raum aufgehört hatte, sich um ihn herum zu drehen, dann stand er sehr behutsam ganz auf, hielt sich mit der linken Hand an der Kante des Tisches fest und blickte forschend an seinem neuen Körper herab.

Nichts schien sich verändert zu haben. Es war der gleiche Körper, mit allen Vor- und Nachteilen, all den kleinen Unzulänglichkeiten, über die er sich manchmal geärgert hatte - aber die Spuren, die das Leben an ihm hinterlassen hatte, waren verschwunden. Trotz der Schwäche, die wie ein unsichtbares Bleigewicht auf ihm lastete, spürte er eine Energie in sich, wie er sie seit Jahren nicht mehr empfunden hatte.

Es war ein unheimliches Gefühl. Er war in diesen Leib geschlüpft wie in einen maßgeschneiderten Anzug, aber es war ein Anzug, der ihm nicht gehörte. Der, der ihn eigentlich hatte tragen sollen, war niemals zum Leben erwacht. Sie hatten eine einzelne Zelle genommen und diesen neuen Körper daraus erschaffen, aber sie hatten nicht erlaubt, daß das Leben in ihm erwachte.

Wieder glitt sein Blick über die fremdartigen Gerätschaften neben dem Tisch. Die Vorstellung, daß sich eine perfekte Kopie seiner Erinnerungen nun in diesen Apparaturen befand, entsetzte ihn. Man hatte aus dem Individuum, das er gewesen war, ein reproduzierbares Wesen gemacht. Großer Gott, dachte er, wenn sie in der Lage waren, so etwas zu tun - warum produzierten sie dann ihre Krieger nicht einfach am Fließband?

Aber vielleicht taten sie es ja.

Luzifer kam zurück und brachte ihm die verlangten Kleider. Obwohl es gegen Stones Stolz ging, mußte er sich von seinem Adjutanten dabei helfen lassen, sich anzuziehen.

»Wieviel Zeit ist vergangen?« fragte er. »Und was ist mit den Rebellen? Habt ihr sie endlich?«

Luzifer verneinte. »Es gab unvorhersehbare Probleme. Die Eingeborenen verletzten eine Königin. Wir mußten die Suche nach den Rebellen unterbrechen, bis sie außer Gefahr war. Aber wir kennen ihren Aufenthaltsort.«

Stone hielt überrascht inne und starrte die Ameise an. »Ungefähr - oder genau?«

»Genau«, antwortete Luzifer. »Es handelt sich um ein Rebellenversteck in Deutschland. Es ist uns seit längerer Zeit bekannt, aber das Risiko eines direkten Angriffs wurde bisher als zu hoch angesehen.«

»Du machst Scherze«, vermutete Stone. »Ein paar dahergelaufene Rebellen mit...«

»Verzeihung, Herr, aber das sind sie nicht«, unterbrach ihn Luzifer. »Es handelt sich um eine voll ausgerüstete Militärbasis aus der Zeit vor der Besetzung dieses Planeten. Sie ist mit Nuklearwaffen ausgestattet. Ein Angriff könnte einen atomaren Gegenschlag der Rebellen provozieren. Der dabei zu erwartende Schaden steht in keinem Verhältnis zu dem, den die Rebellen bisher verursacht haben.«

»Und wieso habt ihr niemanden bei ihnen eingeschleust?«

»Wir haben es versucht«, antwortete Luzifer. »Mehrmals. Aber sie sind sehr aufmerksam.«

Gegen seinen Willen mußte Stone lachen. »Ich hätte nicht gedacht, daß es noch funktioniert.«

»Das was funktioniert?« fragte Luzifer.

»Das System«, antwortete Stone. »Weißt du, mein Freund, wir haben es fünfzig Jahre lang ausprobiert - den Wahnsinn als Methode. Natürlich hat es niemand zugegeben, aber es lief darauf hinaus, daß wir damit gedroht haben, uns selbst in die Luft zu sprengen, wenn man uns nicht in Ruhe ließ. Und du siehst, es klappt heute noch.«

Luzifer sah ihn irritiert an, und Stone begriff, daß er gar nicht verstand, worüber er überhaupt sprach. Abrupt wechselte er das Thema. »Habt ihr wenigstens dafür gesorgt, daß sie festgenommen wird, sobald sie dieses Rattenloch verläßt?«

»Selbstverständlich.«

»Dann bring mich dorthin«, verlangte Stone.

Diesmal war er sicher, ein deutliches Erschrecken zu bemerken; ein Gefühl, von dem er bisher gar nicht gewußt hatte, daß die Ameise überhaupt imstande war, es aufzubringen.

»Sie wollen zurück nach ... Europa?«

Stone nickte. »Spricht irgend etwas dagegen?«

»Ich würde davon abraten«, sagte Luzifer. »Sie fühlen sich jetzt vielleicht im Vollbesitz Ihrer Kräfte, aber es wird eine Weile dauern, bis Sie Ihren neuen Körper wirklich vollkommen beherrschen. Es könnte Komplikationen geben.«

Stone deutete mit einer übertrieben fröhlichen Geste auf die Ansammlung bizarrer Apparaturen hinter dem Tisch. »Aber du hast mir doch gerade bewiesen, daß mir nichts passieren kann, mein Freund«, sagte er. »Ich nehme an«, fügte er lauernd hinzu, »ihr könnt das hier jederzeit wiederholen?«

Luzifer antwortete nicht, was Stones Mißtrauen verstärkte. Vielleicht wußten sie doch schon alles, vielleicht war Luzifer gar nicht hier, um ihm das Kommando über die Stadt und diesen ganzen Planeten zurückzugeben, sondern um ihn auszuhorchen. Aber dann begriff er, wie absurd dieser Gedanke war - wenn sie wußten, was er getan hatte, dann wußten sie alles.

Er ging zur Tür, blieb noch einmal stehen und ließ seinen Blick lange und sehr nachdenklich auf den Apparaten hinter dem Tisch ruhen. »Ein sonderbares Gefühl«, murmelte er in einem Ton, als spräche er zu sich selbst.

Luzifer sah ihn fragend an und schwieg, und Stone fuhr nach einer Sekunde fort. »Es ist irgendwie unheimlich, kannst du das verstehen?«

»Ich fürchte, nein.«

Stone deutete auf den riesigen Bildschirm. »Der Gedanke, daß alles, was ich jemals erlebt habe, dort drinnen aufgeschrieben ist. Mein ganzes Leben - das ist doch so, oder?«

Luzifer nickte.

»Ich könnte hingehen und mir mein ganzes Leben noch einmal ansehen«, murmelte Stone. Er tat so, als betrachte er gedankenverloren die verwirrenden Apparaturen, hielt Luzifer dabei aus dem Augenwinkel aber scharf im Blick. »Könnte ich hingehen, und mir alles noch einmal anschauen?«

»Theoretisch ja«, antwortete Luzifer.

Stone sah die Ameise überrascht an. »Und praktisch?«

»Der Zugriff auf diese Daten ist nur den Inspektoren gestattet.«

Es kostete Stone alle Mühe, sich seine Überraschung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Du meinst«, fragte er mit geheuchelter Verwirrung, »nicht einmal ich selbst könnte sie mir ansehen?«

»Nein«, erwiderte Luzifer.

»Aber wieso?« wunderte sich Stone und lachte leise.

»Die Gründe für diesen Befehl sind mir nicht bekannt«, antwortete Luzifer. »Und eine solche Frage wie die Ihre wurde auch noch nie gestellt.«

Stone lächelte unsicher. »Vielleicht ist es ganz gut, wenn man das eine oder andere vergißt, nicht wahr?«

Luzifer blickte ihn aus seinen ausdruckslosen Insektenaugen an, und Stone wandte sich endgültig um und öffnete die Tür.

»Komm«, sagte er. »Ich will sofort zurück nach Europa. Sieh zu, ob du eine Transmitterverbindung findest.«

Luzifer folgte ihm aus dem Raum, aber Stone spürte deutlich sein Zögern. Er blieb stehen und sah ihn abermals fragend an. »Was ist denn noch?«

»Ich würde dringend davon abraten, im Moment dorthin zurückzukehren«, sagte Luzifer nach einem spürbaren Zögern. »Die Lage ist sehr kompliziert. Es könnte sein, daß ein Sprung bevorsteht.«

Stone erstarrte. »Jetzt schon? Aber das ist ... viel zu früh.«

»Es geht sehr schnell«, bestätigte Luzifer. »Einige Inspektoren wurden gerufen, um die Lage zu beurteilen und zu entscheiden, was zu tun ist.«

»Aber das ist unmöglich«, protestierte Stone. »Ihr seid erst seit fünfzig Jahren hier, und...«

»Es ist ungewöhnlich«, unterbrach ihn Luzifer. »Aber es ist schon vorgekommen. Die einheimischen Lebensformen dieser Welt sind von einer ungewöhnlichen Vitalität.«

»Könnt ihr es aufhalten?« fragte Stone alarmiert.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Luzifer. »Die kritische Grenze wurde erreicht, aber noch nicht überschritten. Die Inspektoren tun, was sie können, eine endgültige Entscheidung ist jedoch nicht vor Ablauf von fünf oder sechs Tagen zu erwarten.«

»Fünf oder sechs Tage...« Stones Blick wanderte gegen seinen Willen zu der geschlossenen Tür hinter Luzifer, der Tür zu dem Raum, in dem er erwacht war. Irgendwo dort drinnen waren seine Erinnerungen gespeichert, all seine kleinen und großen Geheimnisse - und dieser eine verfluchte Moment, der ihn vielleicht das Leben kosten konnte.

Aber vielleicht, dachte er, hatte er doch noch eine Chance. Sie war winzig, und allein der Gedanke an das Risiko, das er damit einging, bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Er kam sich vor wie ein Mann auf einem brennenden Schiff, der nicht schwimmen konnte.


*


Hätte sie es nicht besser gewußt, dann hätte sie geschworen, daß der Mann tot war. Er saß aufrecht und stocksteif auf der Kante der schmalen Pritsche, die die gesamte Einrichtung der Kammer auf der anderen Seite der Glasscheibe darstellte. Seine Augen waren so leer wie die der Jared, nur daß in ihnen nicht zugleich dieses tiefe, verborgene Wissen schlummerte. Seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus schwerer, gleichmäßiger Atemzüge.

»Das ist ... grauenhaft«, flüsterte Charity. Ihr Blick war starr auf das bleiche Totengesicht des jungen Mannes gerichtet, und obwohl sie wußte, daß die Glasscheibe nur von einer Seite her durchsichtig war, konnte sie sich des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, daß diese toten Augen sie anstarrten.

»Was habt ihr mit ihm gemacht?« fragte Skudder gepreßt. Charity konnte in einer Reflexion auf der Glasscheibe vor sich erkennen, wie er herumfuhr und zornig einen Schritt auf Hartmann zu machte.

Mühsam riß sie sich vom Anblick der bleichen Gestalt im Nebenzimmer los und drehte sich herum. »Skudder - bitte«, sagte sie.

Skudder blieb stehen, aber seine Augen flammten vor Zorn. Es hätte Charity in diesem Augenblick nicht gewundert, wenn er sich kurzerhand auf den kleineren Mann gestürzt hätte.

»Wir haben überhaupt nichts mit ihnen gemacht«, sagte Hartmann matt. Auch ihm war deutlich das Entsetzen anzusehen, mit dem ihn der Anblick der Gestalt auf der Pritsche erfüllte. »Ich sagte Ihnen bereits - es gibt gewisse Schwierigkeiten.«

»Schwierigkeiten!« Skudder lachte schrill und deutete anklagend auf den Soldaten.

»Schwierigkeiten nennen Sie das?! Das ist ein ... ein verdammter Zombie, Hartmann!«

Mit einer müden Geste wandte Charity sich an Hartmann. »Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Hartmann. »Aber einige von denen, die aufwachen, sind ... so.«

»Einige?« hakte Charity nach. »Das heißt, nicht alle?«

»Nein«, antwortete Hartmann. »Etwa ein Drittel.«

Charity schloß mit einem lautlosen Seufzen die Augen. Ein Drittel ... das bedeutete nichts anderes, als daß es in dieser unterirdischen Festung mehr als dreitausend Männer in diesem entsetzlichen Zustand gab.

»Haben Sie das gewußt?« fragte sie leise.

Hartmann schüttelte den Kopf. »Daß es ein Risiko gab, war uns klar. Jeder einzelne dieser Männer hat sich freiwillig hierher gemeldet, Captain Laird. Und jeder einzelne wurde darüber aufgeklärt, daß seine Chancen, wieder zu erwachen, bestenfalls bei achtzig Prozent lagen. Aber diese Entwicklung konnte niemand voraussehen.«

»Auch wenn Sie es gewußt hätten, hätten Sie es in Kauf genommen, nicht wahr?« fragte Skudder böse. »Immerhin bleiben Ihnen ja noch zwei von drei Männern.«

»Wir wußten es nicht!« verteidigte sich Hartmann. »Verdammt, wir haben auch früher schon Männer aufgeweckt, aber so etwas ist noch nie vorgekommen!«

»Was ist mit ihnen geschehen?« fragte Charity hastig, ehe Skudder etwas einwerfen konnte. »Ich nehme doch an, Sie haben sie untersucht?«

»Natürlich«, antwortete Hartmann mit einem letzten, bösen Blick auf den Hopi. »Organisch sind sie völlig gesund. Sie sind nur völlig katatonisch. Sie reagieren kaum auf äußere Reize. Nicht einmal auf Schmerz.«

»Vielleicht liegt es an der Technik, mit der Sie sie in Tiefschlaf versetzt haben«, warf Net mit einer Sachlichkeit ein, die Charity überraschte.

Hartmann sah die Wasteländerin eine Sekunde lang fast hilflos an, ehe er mit den Achseln zuckte. »Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Ich sagte bereits: nur acht von zehn wachen überhaupt wieder auf. Aber das da ist ... völlig unerklärlich.«

Während Net und Hartmann weiter diskutierten, trat Charity wieder an die Glasscheibe heran und betrachtete den jungen Mann auf der anderen Seite. Der Soldat bewegte sich. Langsam, wie eine Marionette, an deren Fäden ein unerfahrener Spieler zog, stemmte er sich in die Höhe, machte einen unbeholfenen Schritt auf die Glasscheibe zu und hob die Arme.

Charity wich instinktiv ein Stück von der Scheibe zurück, und hinter ihr verstummte das Gespräch abrupt.

»Was zum Teufel...?« murmelte Skudder.

Der Soldat prallte mit einem hörbaren Laut gegen die Glasscheibe, die von seiner Seite aus ein Spiegel war, und preßte die Hände dagegen. Der Blick seiner leeren, erloschenen Augen suchte Charity.

»Charity! Hilf ... uns...« flüsterte er.

Skudder sog hörbar die Luft ein, während Charity das erschlaffte Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe fassungslos anstarrte.

»Hilf ... uns«, wiederholte die flüsternde Stimme.

»Aber das ist doch unmöglich!« stammelte Hartmann. »Er ... kann Sie nicht gesehen haben. Und er kann Ihren Namen nicht kennen!«

Der Soldat taumelte. Seine Hände glitten mit einem furchtbaren Geräusch an der Glasscheibe herunter, während er ganz langsam in die Knie brach, als wiche jede Kraft aus seinem Körper, aber sein Blick hielt Charity weiter fest, und obwohl es noch immer die leeren, toten Augen waren, spürte Charity deutlich die verzweifelte Bitte, die in ihrem Blick lag.

Und plötzlich wußte sie es. Von einer Sekunde auf die andere begriff sie, woran sie diese Augen erinnert hatten. Und sie begriff auch, wie entsetzlich sie sich alle geirrt hatten.

Noch bevor der Soldat völlig zusammengebrochen war, fuhr sie herum und stürmte aus der Tür.

»Sie sind ja völlig verrückt!« sagte Krämer. Er bemühte sich krampfhaft, wenigstens äußerlich die Ruhe zu bewahren. Eine Sekunde lang starrte er Charity an, als warte er auf irgendeine Reaktion auf seine Worte, dann ließ er den Stift, den er in den Händen hielt, mit einem Ruck fallen und sprang auf. »Ich habe Ihnen erklärt, daß im Moment niemand diese Station verlassen darf. Und Sie verlangen von mir, daß ich Ihnen einen Hubschrauber zur Verfügung stelle, damit Sie zurück zu jenen Wilden fliegen, aus deren Gewalt unsere Leute Sie gerade mit Mühe und Not befreit haben?«

»Das ist nicht ganz die Version, die ich abgeben würde«, sagte Charity, aber Krämer unterbrach sie mit einer zornigen Geste.

»Und Sie wollen mir nicht einmal den Grund verraten!« fuhr er aufgebracht fort. »Ich bitte Sie, Captain Laird - was würden Sie an meiner Stelle tun?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Charity. »Aber ich würde zumindest darüber nachdenken.«

»Worüber?« Krämer versuchte spöttisch zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. »Über diese ... diese völlig verrückte Geschichte, die Sie da erzählen?«

»Ich weiß, daß sie sich verrückt anhört«, sagte Charity. »Aber ich weiß auch, daß ich recht habe. Was immer mit Ihren Soldaten geschehen ist, es hat etwas mit den Jared zu tun. Und ich fürchte, es wird eine Katastrophe geschehen, wenn wir nichts unternehmen.«

Krämer lachte hart. Er schien auffahren zu wollen, beließ es aber dann bei einem neuerlichen Kopfschütteln und ließ sich in seinen gepolsterten Ledersessel zurücksinken, der unter der Bewegung heftig zu wippen begann. »Selbst wenn ich es wollte, Miß Laird, ich kann Sie im Moment nicht gehen lassen.«

»Was soll das heißen?« fuhr Skudder auf. »Sind wir Ihre Gefangenen?«

»Natürlich nicht«, antwortete Krämer eine Spur zu hastig. »Niemand kann im Moment aus der Station heraus. Das gilt nicht nur für Sie, sondern für alle. Selbst für mich.«

»Wieso?« fragte Charity.

Krämer seufzte. »Ich weiß nicht genau, was dort draußen vorgeht«, sagte er. »Aber ich habe niemals zuvor so viele Gleiter gesehen. Glauben Sie mir - wenn wir auch nur die Nase ins Freie strecken, schießen sie uns über den Haufen.«

»Dann vergessen Sie die Idee mit dem Hubschrauber«, schlug Charity vor. »Geben Sie uns irgendein Fahrzeug.«

»Das hätte keinen Sinn«, entgegnete Krämer. »Sie kämen nicht einmal in die Nähe der Stadt. Außerdem - vergessen Sie nicht, daß Sie mit einem Helikopter hergebracht wurden. Der Flug hat vielleicht nur zehn Minuten gedauert, aber wir sind hier über hundert Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Und die Straßen sind in einem miserablen Zustand. Sie würden zwei Tage brauchen, um zur Stadt zu kommen.«

»Das ist unser Problem, oder?« fragte Skudder.

»Nein«, antwortete Krämer ruhig. »Nicht, wenn es um die Sicherheit meiner Leute und dieser Station hier geht. Ich fürchte, Sie begreifen immer noch nicht. Das hier ist vielleicht der letzte Ort auf der Welt, bis zu dem sich ihre Herrschaft noch nicht erstreckt.«

»Sie haben Angst, daß wir Sie verraten? Das ist lächerlich.«

»Hören Sie auf!« unterbrach ihn Krämer ärgerlich. »Sie sind dort draußen aufgewachsen, oder? Muß ich ausgerechnet Ihnen erklären, daß Sie Mittel und Wege haben, alles aus jedem herauszuholen? Ich zweifle weder an Ihrer Loyalität noch an Ihrer Tapferkeit, aber Sie würden ihnen keine zehn Minuten standhalten. Und das wissen Sie genausogut wie ich!«

Skudder schürzte zornig die Lippen, und Charity warf ihm einen raschen Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Sie haben natürlich völlig recht«, sagte sie. »Aber glauben Sie mir - wir haben gar keine andere Wahl, als mit Gyell zu reden. Wie viele von Ihren Soldaten befinden sich in diesem Zustand? Zweitausend? Dreitausend?«

Krämer schwieg, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sagte ihr, daß diese Schätzung eher noch zu vorsichtig gewesen war.

»Sie werden sterben, wenn Sie nichts unternehmen«, fuhr sie fort. »Wollen Sie das?«

»Nein«, antwortete Krämer. »Das will ich ganz gewiß nicht. Aber ich bin darüber hinaus noch für achttausend gesunde Manner hier unten verantwortlich. Wollen Sie, daß ich ihr Leben aufs Spiel setze - auf eine bloße Vermutung!«

»Ihnen bleibt gar nichts anders übrig«, sagte Skudder. Kampflustig beugte er sich vor, stemmte die Fauste auf den Schreibtisch und blickte auf den Generalmajor hinab. »Wir werden nämlich gehen - ob es Ihnen paßt oder nicht.«

»Nein«, sagte Krämer. »Das werden Sie ganz bestimmt nicht.« Er wandte sich mit einer Kopfbewegung an Hartmann. »Nehmen Sie sie fest, Leutnant.«

Hartmann sah überrascht auf. Dann machte er einen Schritt in Skudders Richtung und blieb wieder stehen, als sich der Hopi zu ihm herumdrehte und die Fäuste hob.

»Ich bitte Sie, Mister Skudder«, sagte Krämer. »Ich weiß, daß Sie Leutnant Hartmann körperlich überlegen sind. Aber Sie sollten auch wissen, daß Sie hier nicht herauskommen. Nicht, wenn ich es nicht will.«

»Ach?« fragte Skudder lauernd.

»Und es hatte auch sehr wenig Sinn, sich auf mich zu stürzen und mich als Geisel zu nehmen«, fuhr Krämer mit einem milden Lächeln fort. »Glauben Sie mir - wir haben auch diese Möglichkeit vorausgesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen.«

Skudder sah ganz so aus, als wollte er ausprobieren, was an Krämers Behauptung dran war, aber Charity hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Der Generalmajor gehörte nicht zu den Männern, die blufften.

Plötzlich öffnete sich die Tür hinter ihnen, und zwei bewaffnete Soldaten betraten den Raum. Krämer deutete mit einer Handbewegung auf Charity, Net und Skudder. »Bringen Sie unsere Gäste in ihre Quartiere. Sie stehen unter Arrest. Behandeln Sie sie mit dem nötigen Respekt - aber sie dürfen ihre Räume nicht verlassen.«

Charity starrte Krämer fassungslos an. »Ich hoffe, Sie bedauern diese Entscheidung nicht noch, Krämer.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete Krämer.

Als Charity sich erhob, begannen überall in der Station die Alarmsirenen zu heulen. Krämer fuhr zusammen und blickte erschrocken auf die Monitorwand hinter sich. Auf den Bildschirmen war nichts Außergewöhnliches zu erkennen, aber in der gleichen Sekunde summte das Telefon. Krämer riß den Hörer von der Gabel, lauschte einen Moment, und plötzlich erbleichte er. Die Bewegung, mit der er nach einigen Sekunden den Hörer wieder einhängte, war von erzwungener Ruhe.

»Was ist passiert?« fragte Charity.

»Etwas, das vielleicht sogar Sie davon überzeugen wird, daß wir uns in Gefahr befinden«, antwortete Krämer. Seine Stimme zitterte leicht. »Wir haben den Kontakt zu allen unseren Außenstationen verloren.«

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