1


Der Gleiter schoß wie ein silberner Raubvogel aus der Sonne herab und eröffnete das Feuer. Es ging so schnell, daß selbst Kyles übermenschliche Reaktionen beinahe zu spät gekommen wären; es gelang ihm nicht, das Fahrzeug in einer halsbrecherischen Kurve herumzureißen und aus der Schußbahn zu bringen, aber die Energieabsorber heulten schrill auf. Charity spürte, wie die Wand hinter ihrem Rücken heiß wurde. Nicht zum ersten Mal, seit diese wahnwitzige Verfolgungsjagd begonnen hatte. Der Gleiter stöhnte wie ein großes, lebendes Wesen, das Schmerzen litt.

»Festhalten!« brüllte Kyle, als der Gleiter zum zweiten Mal heranschoß.

Diesmal eröffneten die Moroni aus größerer Entfernung das Feuer; zu weit entfernt, um ihr Ziel wirklich zu vernichten, wenn sie es trafen - aber nahe genug, um es zu beschädigen oder seine Ortungsgeräte für Augenblicke zu blenden.

Charity fand gerade noch Zeit, sich an dem nächstbesten Halt festzuklammern, als Kyle den Gleiter herumwarf und ihn so dicht über dem Boden dahinjagen ließ, daß er eine turmhohe Staubwolke hinter sich herzog und in seinem Sog Grasbüschel, Büsche und sogar kleinere Bäume entwurzelte. Die verwüstete Landschaft vor dem Fenster verwandelte sich in ein irrsinniges Durcheinander aus Farben und Formen, und die Maschinen unter ihren Füßen heulten so schrill, als würden sie jeden Moment explodieren.

Dieses tödliche Katz- und Mausspiel ging nun schon seit einer halben Stunde, und Kyle holte das Letzte aus den Maschinen heraus. Aber sie hatten gar keine andere Wahl. Das Jagdgeschwader, das die Moroni auf sie angesetzt hatten, hatte ganz eindeutig nicht den Befehl, sie lebend einzufangen. Das scheibenförmige Kampfschiff dort draußen war das dritte, auf das sie während der letzten halben Stunde gestoßen waren - und es hatte wie seine beiden Vorgänger das Feuer eröffnet, kaum daß es auf Schußweite herangekommen war. Daß sie überhaupt noch am Leben waren, verdankten sie einzig und allein Kyles übermenschlich schnellen Reaktionen. Aber irgendwann würden auch seine scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven verbraucht sein, irgendwann würde er einen winzigen Fehler begehen, oder sie würden einfach in eine Situation geraten, die tatsächlich ausweglos war.

Das Schiff dort draußen war nicht nur wesentlich größer als die beiden Gleiter, auf die sie zuvor gestoßen waren; auch seine Bewaffnung war der ihres eigenen Schiffes so hoffnungslos überlegen, daß Kyles Versuch, es wie seine beiden Vorgänger schlichtweg anzugreifen und zu zerstören, fast in einem Fiasko geendet hätte. Charity wußte nicht, wie schwer ihr Gleiter beschädigt war, aber sie hatte das dumpfe Krachen gehört, mit dem die Lasersalve in den Rumpf des Fahrzeugs einschlug. Und seither hatte sich das Flackern roter, hektischer Warnleuchten auf dem asymmetrisch geformten Pult vor Kyle verstärkt, aber nach wie vor jagte Kyle den Gleiter im Tiefflug über das verheerte Land.

»Achtung!« brüllte Kyle. »Er kommt zurück!«

Wieder kippte die verschwommene Landschaft vor der Kanzel zur Seite, als Kyle das Schiff in einer Folge irrsinnig schneller Saltos aus der Schußbahn der grellen Lasersalven zu bringen versuchte. Die Maschinen unter ihren Füßen kreischten, und Charity glaubte abermals, das furchtbare Geräusch zerreißenden Metalls zu hören. Dann erschien plötzlich die gewaltige Silberscheibe des Verfolgers direkt vor dem Fenster, nah, entsetzlich nah, und Charity begriff voller Entsetzen, daß Kyle das Fahrzeug auf einen direkten Kollisionskurs gebracht hatte!

»Um Himmels willen!« schrie sie. »Was hast du vor?«

Wenn Kyle ihre Worte überhaupt hörte, so ignorierte er sie. Seine Finger schoben einen sonderbar geformten Schalter auf dem Pult bis zum Anschlag nach vorn, und sie spürte, wie der Gleiter noch einmal beschleunigte und mit einem Ruck seine Geschwindigkeit annähernd verdoppelte. Die riesige Scheibe des Kampfschiffes schien sie anzuspringen wie ein stählerner Mond, der jäh vom Himmel stürzte, dann schloß sie geblendet die Augen, als Kyle sämtliche Laserkanonen des Gleiters auf einmal abfeuerte und das Fahrzeug gleichzeitig in einer schier unmöglichen Bewegung zur Seite riß.

Der Rumpf des anderen Schiffes huschte so dicht vor dem Fenster vorbei, daß Charity glaubte, nur noch den Arm ausstrecken zu müssen, um ihn zu berühren. Und fast im gleichen Bruchteil einer Sekunde flutete eine Woge unerträglich grellen, weißen Lichtes in die Kanzel.

Sie schrie auf, schlug geblendet die Hand vor die Augen und drehte den Kopf zur Seite, und auch Net, die sich in den Sitz neben ihr gekauert hatte, stöhnte unterdrückt. Ein gewaltiges Krachen und Dröhnen ließ das Schiff erbeben, und wieder löschte eine grellweiße Lichtflut das Grau der heraufziehenden Dämmerung aus.

Charity spürte, wie der Gleiter wie ein Stein in die Tiefe zu fallen begann und im allerletzten Moment mit brutaler Wucht abbremste. Instinktiv spannte sie alle Muskeln in Erwartung des kommenden Aufpralles an, aber das Wunder geschah - der Gleiter kam, schaukelnd wie ein Schiff auf stürmischer See einige Meter über dem Boden, zum Halten und begann auf der Stelle zu kreisen; offensichtlich, ohne daß Kyle irgend etwas dagegen unternehmen konnte oder wollte.

Charity warf dem jungen Megamann im Pilotensitz einen besorgten Blick zu. Der Gleiter drehte sich weiter, und nach einem Augenblick kam der Verfolger wieder in Sicht: Er schwebte ein gutes Stück über ihnen. Charity konnte die rotglühenden Löcher in seinem Rumpf erkennen, wo ihn die Lasersalve getroffen hatte. Sein Pilot schien Schwierigkeiten zu haben, das Fahrzeug in der Luft zu halten, aber es bewegte sich bereits wieder auf sie zu; langsam, aber unaufhaltsam. Ein Feuerwerk dünner, blauer Blitze umspielte seinen Rumpf, doch Charity wußte von Kyle, daß dieses blaue Elmsfeuer nichts als die sichtbaren Auswirkungen des Energiefeldes waren, das den Gleiter einhüllte. Sie brauchten eine Atombombe, um dieses Ding zu knacken, dachte Charity zornig. Der Gleiter, den Kyle in Paris gestohlen hatte, war ein kleines Patrouillenfahrzeug und kein Kriegsschiff wie das Fahrzeug vor ihnen.

»Schieß ihn ab!« stöhnte Skudder, Er war zu Boden geschleudert worden und versuchte jetzt, sich in die Höhe zu ziehen, während er mit der freien Hand heftig auf die Flugscheibe deutete. »Warum feuerst du nicht?«

»Das wäre völlig sinnlos«, antwortete Kyle. »Die Energiebänke sind fast leer. Ich habe ihn getroffen, aber ihr seht ja, was passiert ist.«

Er streckte die Hand aus und berührte eine Taste auf dem Pult. Der Gleiter hörte auf, sich zu drehen, und setzte sich mit quälender Langsamkeit wieder in Bewegung. Kyles Blick huschte über das Durcheinander von Zahlen und Symbolen, das auf dem Dutzend kleiner Monitore vor ihm zu sehen war. Ein nachdenklicher Ausdruck trat auf seine Züge.

»Vielleicht haben wir doch noch eine Chance«, sagte er plötzlich. »Haltet euch fest.«

Der Gleiter begann wieder Fahrt aufzunehmen, und aus der zerstörten Trümmer- und Dschungellandschaft unter ihnen wurde wieder ein Teppich aus Grün- und Brauntönen, gleichzeitig stieg das Fahrzeug höher.

Charity beugte sich im Sitz vor und warf einen Blick auf den Bildschirm, auf dem der Verfolger zu sehen war. Auch er nahm Fahrt auf, und sie war nicht sicher - aber es schien ihr, als käme er ganz langsam wieder näher.

»Übernimm die Laser«, bat Kyle. Gleichzeitig hob er die linke Hand und schob ihr einen kleinen, an einem schwenkbaren, vielgliedrigen Metallarm befestigten Kasten zu. Charity blickte einen Moment lang hilflos auf die fremdartig beschrifteten Kontrollen, aber dann begriff sie das einfache System, das dahintersteckte; langsam, aber sehr sicher legte sie das rote Spinnennetz des Fadenkreuzes über das Abbild des Gleiters auf dem Schirm und sah Kyle fragend an.

»Ziele genau auf die Kuppel!« sagte Kyle, ohne den Blick von dem Fenster zu nehmen. Seine Stimme klang gepreßt. »Wir können ihn nicht zerstören, aber vielleicht können wir seine Sensoren blenden. Du hast nur einen einzigen Schuß. Ich gebe dir volle Energie, aber dann sind die Bänke leer. Warte, bis ich es dir sage!«

Der Gleiter wurde immer schneller. Das Kreischen der Motoren erreichte eine Tonlage, die in den Ohren schmerzte, und Charity spürte, wie die Temperatur in der Kabine immer mehr und mehr anstieg. Auf dem Pult vor Kyle blinkten mittlerweile fast alle Lichter rot auf.

»Wie schnell sind wir?« fragte sie.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Kyles Gesicht. »Willst du das wirklich wissen?«

Charity zog es vor, nicht darauf zu antworten.

»Dort vorn ist eine Stadt«, sagte Kyle plötzlich.

Charity sah auf. Im ersten Moment erkannte sie nichts als sonderbare Farbflecken, dann gewahrte sie die gezackte, harte Schattenlinie der Ruinenstadt, die Kyle entdeckt hatte.

»Achtung, Charity!« sagte Kyle.

Charity nickte nervös. Ihre Finger begannen zu zittern, aber das rote Fadenkreuz auf dem Monitor rührte sich nicht, sondern blieb unverrückbar auf der flachen Kuppel auf der Oberseite des Gleiters haften.

Kyle trieb den Beschleunigungshebel mit einem Ruck bis zum Anschlag vor, und der Gleiter machte einen regelrechten Satz nach vorne. Charity schrie erschrocken auf, als Kyle das Fahrzeug fast senkrecht in die Höhe rasen ließ, plötzlich zur Seite abdrehte und in einer langgezogenen, taumelnden Spirale wieder auf den Boden zuraste. Der Verfolger folgte ihnen in derselben Flugbahn - und Charity sah nun, daß er tatsächlich näher kam. Der Pilot dieses Schiffes mußte ein Megakrieger wie Kyle sein - oder ein Computer. Kein anderes lebendes Wesen hätte dieses Flugmanöver nachvollziehen können.

Der Gleiter raste mit irrsinniger Geschwindigkeit dem Boden entgegen. »Achtung jetzt!« sagte Kyle gepreßt. »Feuer!«

Ein einzelner, grellweißer Laserstrahl traf den verfolgenden Gleiter und prallte scheinbar wirkungslos von seiner gepanzerten Kuppel ab. Charity versuchte, einen zweiten Schuß abzugeben, aber diesmal blieb die erwartete gleißende Lichtflut aus: Die Energie der Strahlenkanonen war verbraucht.

Sie bekam keine Gelegenheit zu einem dritten Versuch, denn plötzlich schrie Net neben ihr gellend auf, und auch Skudder und Helen gaben ein überraschtes Keuchen von sich. Der Boden schien dem Gleiter regelrecht entgegenzuspringen. Für eine einzige, entsetzliche Sekunde konnte Charity sehen, wie aus den verschwommenen Farbschattierungen unter ihnen plötzlich die Umrisse zerstörter Häuser wurden, dann riß Kyle das Fahrzeug in einer engen Schleife herum; die Ruinenstadt kippte unter ihnen weg, und fast im gleichen Moment konnte Charity spüren, wie irgend etwas mit fürchterlicher Wucht gegen die Unterseite des Gleiters krachte und sie aufriß. Grelle Flammen und ein riesiger Schatten erfüllten plötzlich das Fenster.

Charity riß instinktiv die Hände vor das Gesicht, aber Kyle fand die Kontrolle über den Gleiter noch einmal wieder; im allerletzten Moment riß er das Fahrzeug herum und jagte es an dem Hindernis vorbei. Der Pilot des anderen Schiffes hatte weniger Glück. Die riesige Flugscheibe versuchte nicht einmal, den rasenden Sturzflug abzufangen, sondern bohrte sich mit unverminderter Geschwindigkeit zwei Meilen hinter ihnen in den Boden und explodierte in einem weißblauen, nuklearen Feuerball.

Charity erfuhr niemals, was ihr Fahrzeug wirklich zerstört hatte: Kyles irrsinniges Flugmanöver, die Kollision mit dem Boden oder die Druckwelle der Atomexplosion, in der ihr Verfolger auseinanderbarst. Das nächste, woran sie sich erinnerte, war das Prasseln von Flammen, ein Gefühl unerträglicher Hitze auf der Haut und beißender, heißer Rauch, der sie ersticken wollte. Sie hustete, rang mit einem qualvollen Keuchen nach Luft und versuchte, sich aus dem Gewirr von Metall und Kunststoff zu befreien, in das sich ihr Sitz verwandelt hatte. Im ersten Moment gelang es ihr nicht einmal, auf die Füße zu kommen.

Der Gleiter stand schräg wie ein gestrandetes Schiff; der Boden hatte sich in eine jäh abfallende, gefährliche Rampe aus spiegelglatten Metall verwandelt. Neben ihr erklang ein gedämpftes Wimmern. Charity richtete sich vorsichtig auf, hielt sich mit der linken Hand an einer gebogenen Metallstrebe fest und fuhr erschrocken zusammen, als sie erkannte, daß es Gurk war, dessen Stöhnen sie hörte. Der Zwerg hing über den zermalmten Überresten des Kontrollpultes; ein langer, rasiermesserscharfer Stahlsplitter hatte seinen Mantel durchbohrt. Im allerersten Moment sah es so aus, als wäre Gurk daran aufgespießt worden wie ein Schmetterling auf der Nadel eines Insektensammlers. Dann sah sie, daß das Trümmerstück nur das Cape des Zwerges durchbohrt hatte. Gurk war verletzt; aber nicht so schwer, wie sie im allerersten Moment befürchtet hatte.

Hastig half sie ihm, sich aus den Trümmern zu befreien, stellte ihn wie ein Kind auf die Füße und sah sich nach den anderen um.

Die Kabine war mit Flammen und beißendem Rauch gefüllt, so daß sie nur Schatten erkennen konnte, aber zumindest auf den ersten Blick schien es, als hätten sie alle noch einmal Glück gehabt: Kyle und Skudder machten sich gerade mit vereinten Kräften an der verzogenen Tür zu schaffen, während Net versuchte; Barlers Tochter unter einem zertrümmerten Instrumentenpult hervorzuziehen, unter das sie der Aufprall geschleudert hatte.

Skudder und Kyle gaben ihre Bemühungen auf, die Tür aufbrechen zu wollen, und arbeiteten sich mühsam zu ihnen herauf.

»Raus hier!« schrie Kyle Charity und dem Zwerg zu. »Der Gleiter kann jeden Moment explodieren!«

Charity wollte sich zu Gurk umwenden, um ihm zu helfen, aber Kyle packte den Zwerg kurzerhand an den Armen und schleifte ihn einfach hinter sich her, während Skudder noch ein mal zurückschlitterte und Net dabei half, Helen auf die Füße zu zerren.

Dicht hinter Kyle erreichte Charity das zerborstene Fenster und zwängte sich hindurch. Der Gleiter hatte sich in die Fassade eines Hauses hineingebohrt, das daraufhin in Flammen aufgegangen war. Das Metall war so heiß, daß sie erschrocken aufschrie, als sie nach dem Fensterrahmen griff. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie sich ins Freie, suchte vergeblich auf dem spiegelglatten Stahl des Rumpfes Halt und schlitterte hilflos in die Tiefe.

Der Weg war länger, als sie geglaubt hatte. Die spiegelblanke Oberfläche des Gleiters bildete eine abschüssige, fünfzehn Meter lange Rutschbahn. Wahrscheinlich hätte sie sich beim Aufprall verletzt, wäre Kyle nicht dagewesen, um sie aufzufangen. Einen Moment lang blieb sie benommen liegen, während Kyle zurückeilte, um auch Skudder und den beiden Mädchen zu helfen. Alles drehte sich um sie, und all die zahllosen kleinen Kratzer und Schrammen auf ihrer Haut brannten plötzlich wie Feuer.

Der Gleiter war mitten in der zerstörten Stadt abgestürzt. Die Straße hinter ihnen stand in Flammen, und der Horizont dahinter glühte in einem dunklen, unheilvollen Rot. Scharfer Ozongeruch erfüllte die Luft, und der Wind war so heiß, daß er auf der Haut schmerzte. Ganz instinktiv hob Charity den Arm und blickte auf die Anzeige des kleinen Geigerzählers, der in das Multiinstrument an ihrem linken Handgelenk eingebaut war. Die Anzeige stand noch nicht im unmittelbaren Gefahrenbereich, aber sie war nicht mehr sehr weit davon entfernt. Wenn der Gleiter, mit dem sie abgestürzt waren, auf die gleiche Weise explodieren würde wie das andere Fahrzeug, dann waren sie so gut wie tot, wenn sie sich nicht mindestens drei oder vier Meilen von ihm entfernt befanden.

Der Gedanke gab ihr noch einmal neue Kraft. Mit einem Satz sprang sie in die Höhe, lief die wenigen Schritte zu Kyle hinüber und half ihm dabei, Net und Helen aufzufangen, die ungeschickt über die Oberfläche der Flugscheibe heruntergeschlittert kamen.

»Wieviel Zeit haben wir noch, bis das Ding hochgeht?« fragte sie gehetzt.

»Nicht mehr lange«, antwortete Kyle. »Ein paar Minuten vielleicht.« Er stockte plötzlich und blickte aus zusammengepreßten Augen nach Westen. »Aber das ist nicht einmal unser größtes Problem«, sagte er plötzlich.

Auch Charity sah angestrengt auf. Inmitten des tobenden Flammenscheines war ein silbernes Funkeln erschienen, das rasend schnell heranwuchs.

Der Gleiter war so schnell heran, daß Charity nicht einmal Zeit fand, einen Schreckensruf auszustoßen. Instinktiv duckte sie sich, als die Flugscheibe mit einem heulenden Laut über sie hinwegschoß. Das Fahrzeug war viel zu schnell, um auf sie zu feuern, aber Charity gab sich keine Sekunde lang der Illusion hin, der Pilot hätte sie nicht entdeckt. Er würde zurückkommen. In ein paar Sekunden.

Charity sah sich verzweifelt um. Ihr Blick irrte über die verbrannten Ruinen, tastete die Straße entlang und blieb an einem schräg auf die Seite gestürzten, zerschrammten Kunststoffschild hängen, das ein weißes ›U‹ auf einem dunkelblauen Untergrund zeigte.

»Dorthin!« befahl sie. »Schnell!«

Weder Kyle noch Skudder verschwendeten auch nur eine einzige Sekunde mit einer Frage. Während sich Skudder den immer noch wimmernden Gurk schnappte und ihn einfach auf die Arme nahm, hob Kyle Helen in die Höhe, die ernsthafter verletzt zu sein schien. So schnell sie konnten, überquerten sie die mit Trümmern und Unrat übersäte Straße und rannten auf den U-Bahn-Schacht zu. Charity sah immer wieder zurück, als könnte sie dem durchgehenden Atomreaktor des Flugschiffes auf diese Weise noch einige weitere Sekunden abtrotzen. Ein Teil des Schiffes glühte in einem hellen, stechenden Rot. Das Haus, in das sich die Flugscheibe hineingerammt hatte, stand in hellen Flammen, und aus seiner aufgeschlitzten Unterseite quollen kleine Ströme flüssigen, rot- und weißglühenden Metalls. Und aus der entgegengesetzten Richtung raste der zweite Gleiter heran!

Wie von Furien gehetzt rannten sie die Treppe hinunter. An ihrem unteren Ende befand sich ein massives Metallgitter aus daumendicken Stäben, das mit einer gewaltigen Kette gesichert war. Charity wollte ihre Waffe heben, aber Kyle streckte fast beiläufig die Hand aus und brach das Schloß auf. Ein großes stachliges Wesen mit falsch angeordneten Beinen und zu vielen Augen huschte mit einem erschrockenen Quieken vor ihnen davon, als sie die Treppe hinunterstürmten.

Skudder blieb am unteren Ende der Treppe stehen, setzte den Zwerg ab und sah sich um. Eine Sekunde wirkte er unschlüssig, dann deutete er nach rechts und rannte ohne ein weiteres Wort los. Charity und die anderen folgten ihm. Das wenige Licht, das vom oberen Ende der Treppe herabfiel, reichte kaum aus, um von ihrer Umgebung mehr als Schatten wahrzunehmen. Überall huschte und wisperte es; große, aufgedunsene Körper mit glänzender, ledriger Haut bewegten sich unruhig hin und her, und vor einem der halbrunden Stollen spannte sich ein riesiges Spinnennetz.

Sie hatten keine zwei Schritte gemacht, als ein ungeheurer Schlag die U- Bahn-Station bis in ihre Grundfesten erschütterte. Ein unerträglich grelles, weißblaues Licht tauchte die Halle für Sekunden in schattenlose Helligkeit. Charitys Trommelfelle schienen zu zerplatzen, und die Luft in ihren Lungen brannte wie Feuer.

Benommen richtete sie sich auf und sah zu Kyle hinüber. Der Megamann sagte etwas, aber Charity sah nur, wie sich seine Lippen bewegten. In ihren Ohren dröhnte und rauschte es.

»Bomben!« verstand sie schließlich. Obwohl Kyle brüllte, hörte sie seine Stimme nur wie ein weit entferntes Flüstern. »Das war nicht der Gleiter! Sie werfen Bomben!«

Skudder deutete auf den rechten Gang und sprang mit einem Satz vom Bahnsteig auf den Schienenstrang hinunter. Während Charity und Net ihm etwas langsamer folgten, um Helen zu helfen, liefen Kyle und er ein Stuck voraus. Eine zweite Explosion riß sie erneut von den Füßen, kurz bevor sie den Stollen erreichten, und diesmal brach ein ganzer Teil der Hallendecke hinter ihnen zusammen.

Kurz vor dem Eingang des Tunnels blieb Skudder stehen und hob seine Waffe, während Kyle weiterrannte und nach wenigen Schritten von der absoluten Dunkelheit des Stollens verschluckt wurde. Wenig spater sah Charity das grelle Aufblitzen eines Lasers und hörte einen hohen, pfeifenden Schrei; dann kehrte Kyle zurück und winkte ihnen hastig.

»Alles in Ordnung«, rief er. »Schnell!« Das dumpfe Grollen einer dritten Detonation unterstrich seine Worte. Offensichtlich waren die Moroni wild entschlossen, das Kapitel Charity Laird diesmal wirklich zum Abschluß zu bringen, selbst wenn sie dazu die gesamte Stadt über ihnen in eine radioaktive Wüste verwandeln mußten.

Dann explodierte der Gleiter.

Sie waren vielleicht fünfzig Schritte weit in den U-Bahn-Stollen eingedrungen, als hinter ihnen ein abermals gleißendes, unerträglich helles Licht aufflammte und die Welt rings um sie herum in ein bizarres Schreckensgemälde mit harten Konturen verwandelte.

Charity schrie gellend auf. Ein fürchterlicher Stoß traf den Boden unter ihr. Charity hatte plötzlich das Gefühl, wie ein schwereloses Spielzeug durch die Luft gewirbelt zu werden. Das Licht war so grell, daß es selbst durch ihre geschlossenen Lider drang und sie vor Schmerz stöhnen ließ. Dann prallte sie mit fürchterlicher Wucht gegen ein Hindernis, das plötzlich vor ihr auftauchte. Als sie schützend die Arme über das Gesicht riß, sah sie gerade noch das von unerträglich hellem, weißem Licht erfüllte Ende des Schachtes hinter ihnen, das scheinbar lautlos zusammenzubrechen begann.

Загрузка...