19


»Ein Fahrzeug nähert sich«, sagte Luzifer. »Sehr schnell.«

»Und?« fragte Stone, ohne den Blick vom Gesicht des reglosen Megamannes zu nehmen. Er wußte nicht, wie lange er hier schon stand - fünf oder zehn Minuten. Vor einer Weile waren die beiden Inspektoren gegangen, und einen Augenblick später hatte er das Geräusch des startenden Gleiters gehört; mit Ausnahme seines eigenen Fahrzeuges der letzten Maschine, die sich noch in der Nähe des Nestes aufgehalten hatte.

Stone löste seinen Blick von Kyles Gesicht und wiederholte seine Frage, in schärferem und hörbar ungeduldigem Tonfall. »Und?«

»Ich habe die Situation analysiert, Herr«, antwortete Luzifer. »Es könnte Gefahr bestehen.«

»Von einem einzigen Fahrzeug?« fragte Stone spöttisch.

»Es handelt sich um eine hochentwickelte Kampfeinheit, Herr«, antwortete Luzifer. »Solche Maschinen haben uns bereits schwere Verluste zugefügt. Unser Gleiter ist ihr an Kampfkraft um einen Faktor zwei unterlegen.«

»Dann solltest du beten, daß sie in friedlicher Absicht kommen, mein Freund«, sagte Stone spöttisch. »Falls du überhaupt weißt, was dieses Wort bedeutet.« Er schnitt Luzifer mit einer energischen Handbewegung das Wort ab, als die Ameise widersprechen wollte. »Ich glaube, ich weiß, wer in diesem Hubschrauber sitzt.«

»Es ist unklug, ein vermeidbares Risiko einzugehen, Herr«, sagte Luzifer.

»Ich weiß«, antwortete Stone gelassen. »Aber so sind wir Menschen manchmal. Mach das Schiff startklar. Aber du bleibst an Bord, ganz egal, was passiert - es sei denn, ich rufe dich ausdrücklich.«

»Soll ich nicht wenigstens eine Kampfeinheit zu Hilfe...«

»Du sollst«, unterbrach Stone Luzifer gereizt, »jetzt endlich tun, was ich dir sage. Oder brauchst du den Befehl schriftlich?«

»Nein, Herr«, antwortete Luzifer devot.

»Dann geh«, sagte Stone. »Und paß auf diesen Zwerg auf. Er ist gefährlicher, als er aussieht.«

»Ich weiß, Herr«, sagte Luzifer, während er sich herumdrehte und die Kathedrale verließ, um zu dem Gleiter zu gehen.

Stone sah ihm nachdenklich hinterher. Du weißt? dachte er. O nein, mein Freund. Du hast ja keine Ahnung. Ihr habt ja alle keine Ahnung.

Plötzlich hatte er alle Mühe, ein hysterisches Lachen zu unterdrücken.


*


Obwohl Charity mit Höchstgeschwindigkeit flog, brauchten sie fast fünfzehn Minuten, ehe sie den Dom erreichten. Sie hatte damit gerechnet, die Luft über der gewaltigen Kirchenruine voller Gleiter und Kampfschiffe zu finden, aber die einzige Bewegung am Boden waren Staubfahnen, die der Wind vor sich hertrieb.

Charity drosselte die Geschwindigkeit des Hubschraubers, bis das Fahrzeug reglos in der Luft hing, zwanzig, dreißig Meter über dem Vorplatz, auf dem Krämers Männer vor Tagesfrist ein Gemetzel unter den Jared und Ameisen angerichtet hatten. Charity schätzte die Anzahl der toten Barbaren auf weit über hundert. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie wegzubringen.

Der Anblick erfüllte sie mit Bitterkeit, ja, fast Zorn. Der Angriff war so sinnlos gewesen. Und er hatte eine entsetzliche Antwort provoziert.

Hartmann schien ihre Gedanken zu lesen, denn er sagte plötzlich leise: »Es tut mir leid. Ich wußte nicht, was...«

»Niemand konnte wissen, was sie wirklich sind.«

»Wissen Sie es denn?« fragte Hartmann.

»Ich hoffe es«, murmelte Charity. »Wenn nicht, sind wir nämlich schon so gut wie tot.«

Wie der Flug war auch ihre Landung nicht gerade ein Meisterwerk - der Stealth-Copter setzte mit einem so harten Ruck auf, daß Charity nicht sonderlich überrascht gewesen wäre, wäre er in zwei Stück zerbrochen. Hastig riß sie sich den Helm vom Kopf, schaltete die Turbine aus und blickte noch einmal zum Dom hinüber, ehe sie sich erhob.

Das Tor stand weit offen, und ihre überreizten Nerven gaukelten ihr schattenhafte Bewegungen dahinter vor. Sie betete, daß es wirklich nur ein Trugschluß war.

»Bleiben Sie hier, Hartmann«, sagte sie leise. »Wenn ... irgend etwas schiefgeht, versuchen Sie zu fliehen.«

»Ich kann dieses Ding nicht fliegen«, antwortete Hartmann. Er griff an seinen Gürtel und zog die Pistole, aber Charity schüttelte nur den Kopf, als er ihr die Waffe hinhielt. So aberwitzig ihr der Gedanke auch im ersten Moment selbst vorkam, nach den Geschehnissen der letzten Stunde - sie hatte endgültig begriffen, daß dieser Kampf nicht mit Waffen entschieden werden konnte.

Skudder und Net folgten ihr, als sie den Helikopter verließ und langsam auf das Tor zuging. Keiner von ihnen sprach ein Wort, aber sie alle fühlten das Fremde, Mächtige, das sich wie ein unsichtbarer Mantel über diesen Ort ausgebreitet hatte. Unter dem Tor blieben sie stehen. Das Innere der Kirche war von Dunkelheit und Schatten erfüllt und bot einen so verwüsteten Anblick, wie sie erwartet hatte. Die beiden Raketen, die der Helikopter in das Gebäude hineingefeuert hatte, hatten nicht viel übriggelassen. Trotzdem bewegte sich vor ihnen etwas. Im ersten Moment hielt Charity es nur für eine Sinnestäuschung, aber dann erkannte sie, daß die Bewegung real war.

»Das ist ... die Königin!« sagte Skudder ungläubig. »Sie lebt noch!«

Charity nickte mühsam. Ihr Herz begann zu rasen, und plötzlich schrie alles in ihr danach, einfach herumzufahren und zu Hartmann und dem Hubschrauber zurückzurennen. Gleichzeitig wußte sie, daß sie das gar nicht mehr konnte. Ganz einfach, weil sie nicht aus freien Stücken hier war. Irgend etwas hatte sie ... gerufen. Es hatte nur bis jetzt gedauert, bis ihr das wirklich klar geworden war.

Plötzlich hob Net die Hand und deutete auf eine zweite, kleinere Gestalt, die neben dem gewaltigen Umriß der Königin aufgetaucht war. »Kyle!« sagte sie. »Das ist Kyle! Er ... er lebt!«

»Dann leben vielleicht auch Gurk und das Mädchen noch!« fügte Skudder aufgeregt hinzu. Er wollte loslaufen, aber Charity hielt ihn zurück.

»Nein«, sagte sie.

Skudder sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«

Charitys Blick suchte den des Megamannes, und obwohl sie viel zu weit von ihm entfernt war, als daß sein Gesicht mehr als einen verwaschenen Fleck in der Dämmerung darstellte, spürte sie seinen Blick. Seinen Blick? »Ich ... gehe allein«, sagte sie mühsam. »Bitte wartet hier. Ganz egal, was passiert.«

»Aber das ist verrückt!« antwortete Skudder.

»Ich weiß«, murmelte Charity und ging los. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Skudder eine Bewegung machte, um ihr zu folgen, und dann plötzlich innehielt, als Kyle den Kopf wandte und ihn ansah.

Ihr Herz begann immer schneller zu schlagen, während sie durch die zerstörte Kirche schritt, und das Gefühl eisiger Kälte in ihr wurde immer schlimmer, bis sie glaubte, kaum noch atmen zu können. Die verwundete Königin hob den Kopf und starrte sie an, und wieder fühlte Charity die Berührung von einer gewaltigen, wissenden Macht, als sie in die riesigen Facettenaugen des Wesens blickte.

Dann streifte ihr Blick Kyles Gesicht, und sie hätte beinahe gellend aufgeschrien. Kyle war nicht mehr Kyle: Sein Gesicht zeigte zwar den Megamann, den sie kannte, aber seine Augen waren die eines Jared, und das Lächeln auf seinen Zügen war Gyells Lächeln.

»Es ist gut, daß du gekommen bist«, sagte Kyle. »Das macht es leichter, miteinander zu reden.«

Charity schluckte den harten Kloß herunter, der in ihrer Kehle saß, und zwang sich, Kyle anzusehen. Von den Hüften abwärts verschwand der Körper des Megakriegers in einem Gespinst grauer, klebriger Fäden, unter dem seine Glieder nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Charity konnte nicht mehr sagen, ob sie noch menschlich waren oder die harten, gepanzerten Gliedmaßen eines Insekts.

»Wo ist ... Helen?« fragte sie.

Kyle machte eine vage Geste hinter sich. »Dort. Aber es ist besser, du siehst sie nicht. Sie braucht ... länger als ich.«

»Aber sie lebt?«

»Ja«, antwortete Kyle. »Jetzt wird sie leben.«

Charity dachte einen Moment über diese Worte nach. Aber allein die Vorstellung, was sie vielleicht bedeuteten, ließ sie abermals erschauern.

»Ist ... ist Gyell nicht hier?« fragte sie mühsam.

»Nein«, antwortete Kyle. »Du kannst mit mir reden. Es ist gleich, mit wem du sprichst. Ich bin Jared.«

»Ich weiß«, flüsterte Charity. »Ihr seid ... ihr seid alle Jared.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung, die all ihre Kraft in Anspruch nahm, auf die Königin. »Sie auch.«

»Sie auch. Sie ist Jared. Ihre Kinder sind das Volk - aber wir alle sind Jared.«

»Dann ... dann sag ihr, daß sie aufhören soll«, sagte Charity mit mühsam beherrschter Stimme.

»Aufhören? Womit?«

»Mit dem Töten«, antwortete Charity. »Sie überrennen Krämers Festung, Kyle. Sie töten all diese Männer dort.«

»Sie haben mit dem Töten angefangen«, antwortete Kyle der Jared ernst.

»Ich weiß«, sagte Charity. »Aber sie wußten es nicht besser. Sie hielten euch für Tiere.«

»Und das gibt ihnen das Recht, uns zu töten?«

»Natürlich nicht«, sagte Charity beinahe verzweifelt. »Es ... es war falsch. Ich glaube, sie haben das eingesehen. Ihr wollt doch nicht wirklich ihren Tod, Gyell. Die Männer in diesem Bunker sterben für nichts! Nur, weil sie von einem Wahnsinnigen kommandiert werden!«

»Aber das werden sie nun einmal«, sagte Jared. »Er wird nicht aufhören. Wir haben ihn besiegt. Sollen wir ihm das Leben und die Freiheit schenken, damit er wiederkommt und das Töten von vorn beginnt?«

»Das wird es nicht!« antwortete Charity. »Ich ... ich gebe dir mein Wort, daß sie euch in Frieden lassen werden! Krämer wird die Station nicht länger befehligen, das verspreche ich dir. Es wird jemand sein, der ... der einen Weg findet, auf dem ihr beide existieren könnt! Ruf die Schiffe zurück.«

Kyle schwieg fast eine Minute lang.

»Und ... die Schläfer?«

»Sie gehören zu euch«, vermutete Charity.

»Manche«, bestätigte Kyle. »Der Schlaf hat lange genug gedauert, sie sehen zu lassen, wenn sie erwachen.«

»Sie werden zu euch kommen«, sagte Charity.

»Und die, die schlafen...«

»Werden nicht geweckt, bis sie von selbst die Augen öffnen - und sehen«, sagte Charity.

»Du bist nicht der Kommandant der Station, Charity Laird. Wie kann ich sicher sein, daß sie das Wort halten, das du uns gibst?«

»Das werden sie«, behauptete Charity. »Schon, weil sie gar keine andere Wahl haben. Und ich glaube, ich weiß, wer der neue Kommandant wird. Er ist ein guter Mann.«

»Der Mann, der draußen im Hubschrauber wartet«, vermutete Kyle.

»Ja. Ich weiß, er war es, der den Angriff geleitet hat. Aber er ... er wußte nicht, was er tat. Er bedauert es.«

Wieder dauerte es fast eine Minute, bis Gyell antwortete. »Ich glaube dir, Charity. Der Angriff wird abgebrochen. Obwohl...« Er lächelte. »... es vom strategischen Standpunkt aus betrachtet ziemlich dumm ist. Wir haben gewonnen.«

»Sie hatten nie eine Chance«, sagte Charity. »Und Hartmann weiß es.«

»Ich hoffe es«, sagte Jared ernst. »Denn ein zweites Mal werde ich keine Gnade walten lassen.«

Charity blickte ihn noch einen Herzschlag lang traurig an und wandte sich um, blieb aber dann noch einmal stehen und fragte: »Und ... Kyle? Werde ich ihn wiedersehen?«

»Vielleicht«, antwortete Kyle der Jared.

Charity lächelte bitter und wollte sich endgültig abwenden, aber jetzt war es Kyle, der sie zurückhielt. »Warte.«

»Ja?«

»Dort ist jemand, der mit dir reden möchte.«

Charity blickte ihn einen Moment lang verwirrt an, dann trat sie in respektvollem Bogen um den Körper des gigantischen Insekts herum und mit gesenktem Kopf durch die Tür.

Es verging fast eine halbe Stunde, bis Charity wieder ins Freie trat. Skudder und Net hatten ihren Befehl befolgt und waren vor dem Tor stehengeblieben, aber Hartmann war zu ihnen getreten.

»Sie haben aufgehört!« rief er Charity zu. »Gerade kam ein Funkspruch. Sie ... sie hatten die Station schon überrannt, und plötzlich hörten sie auf und zogen sich zurück.«

»Ich weiß«, sagte Charity leise. Mit bleichem Gesicht stand sie da und blickte abwechselnd Net, Skudder und Hartmann an, aber ihre Augen waren leer; ihr Blick schien auf einen Punkt unendlich weit entfernt gerichtet zu sein.

»Sie ... wissen?« echote Hartmann überrascht. »Woher?«

»Was ist mit Kyle?« fragte Skudder. »Und Helen? Kommen Sie nicht mit?«

»Nein«, antwortete Charity knapp. Sie atmete hörbar ein, warf einen Blick auf das winzige, silberne Kästchen in ihrer Hand und begann langsam auf den Hubschrauber zu zu gehen.

»Was war da drinnen los?« fragte Skudder. »Was hast du da? Wieso kommt Kyle nicht mit? Und was ist mit dem Mädchen und Gurk?«

»Helen geht es gut«, antwortete Charity. »Aber sie bleibt hier. Genauso wie Kyle. Bitte ... fragt jetzt nicht. Ich erkläre euch alles später.«

»Und Gurk?« fragte Net.

»Gurk?« Charity blieb abermals stehen und lächelte auf eine schwer zu beschreibende, fast melancholische Art. »Er lebt noch«, sagte sie. »Daniel hat ihn.«

»Stone?« vergewisserte sich Skudder.

»Ja. Ich habe mit ihm gesprochen.« Sie hob die Hand mit dem kleinen Datenspeicher. »Er hat mir das hier gegeben. Es enthält eine Nachricht von Gurk und ... noch etwas.«

»Stone ist hier?!« fragte Skudder ungläubig. »Er ist hier und läßt uns gehen!«

Charity nickte. »Er wollte nur mit mir reden«, sagte sie.

»Was hat er gewollt?«

Es dauerte einen Moment, bis Charity antwortete. Und als sie es tat, war ihre Stimme so leise, daß Skudder sie kaum verstand.

»Er hat mir gesagt, wie wir sie besiegen können.«


Ende des fünften Teils

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