12


Sie konnte nicht sehr lange ohnmächtig gewesen sein, denn als sie erwachte, lag sie nicht auf einer Pritsche in irgendeiner unterirdischen Betonkammer, sondern auf dem harten, schaukelnden Boden eines Helikopters, der mit heulenden Turbinen über die Dächer der zerstörten Stadt hinwegraste. Ein hämmernder Schmerz saß in ihrem Rücken. Mühsam öffnete sie die Augen. Sie saß zwischen den beiden ungepolsterten Metallbänken, die den hinteren Teil des Helikopters beanspruchten, und dann sah sie die Mündung einer Schockwaffe, die direkt auf ihr Gesicht zielte. Einen halben Meter hinter dieser Mündung gewahrte sie Lehmann, der nervös am Abzug der Waffe spielte und sie aus zusammengekniffenen Augen anschaute.

»Keine Sorge«, erklang plötzlich Hartmanns Stimme. »Ihnen geschieht nichts, wenn sie vernünftig sind.«

Charity stemmte sich umständlich auf dem schwankenden Boden der Maschine in die Höhe. Ohne auf die Waffe in Lehmanns Händen zu achten, die ihren Bewegungen mißtrauisch folgte, drehte sie sich herum und beugte sich über Skudder, der zusammengesunken auf einer der Bänke lag. Net saß, an Händen und Füßen gefesselt, neben ihm und starrte abwechselnd Hartmann und die beiden anderen Soldaten haßerfüllt an.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß Skudder nicht ernsthaft verletzt war, ließ sie sich auf die Bank sinken und blickte einen Moment aus dem Fenster. Der Helikopter raste so tief über die Ruinenstadt hinweg, daß es Charity fast wie ein Wunder vorkam, daß er nicht längst mit irgend etwas kollidiert war.

Sie löste ihren Blick vom Fenster und sah wieder Hartmann an. »Das war von Anfang an so geplant, nicht wahr?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Hartmann. »So war es nicht geplant.«

»Hatten Sie vielleicht nicht vorgehabt, einige von ihnen am Leben zu lassen?«

Hartmann seufzte. »Ich verstehe Ihre Verbitterung, Captain Laird«, sagte er. »Aber ich schwöre Ihnen, daß das nicht geplant war.«

»Ich verstehe«, murmelte Charity. »Ein bedauerlicher Unfall, nicht wahr?«

»Wir haben dieses Nest seit zehn Jahren gesucht«, antwortete Hartmann ernst. »Wir wußten, daß es irgendwo direkt vor unserer Nase sein mußte. Aber wir wußten eben nicht, wo. Und als Ihre Freunde uns mitnahmen, da...«

»Da dachten Sie, es wäre eine gute Gelegenheit, ein bißchen zu spionieren«, unterbrach ihn Charity zornig.

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«

»Diese Helikopter waren die ganze Zeit über in unserer Nähe«, fuhr Charity fort, »habe ich recht?«

»Ja.«

»Das war Mord, Hartmann«, sagte Charity bitter. »Diese Menschen haben uns nichts getan. Im Gegenteil - sie haben einem Ihrer Männer das Leben gerettet.«

»Ich habe das nicht gewollt!« verteidigte sich Hartmann plötzlich fast schreiend. »Aber als ich den Gleiter sah, da dachte ich, er käme unseretwegen. Und danach war es zu spät.«

Charity wollte auffahren, aber plötzlich begriff sie, daß Hartmann die Wahrheit sagte. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Angst gehabt, und dann waren ihm die Dinge schlicht und einfach aus den Händen geglitten.

»Die Sache mit dem Mädchen und dem Zwerg tut mir leid«, sagte Hartmann leise. »Ich hoffe, daß sie noch am Leben sind.«

»Ich auch«, sagte Charity ernst. »Doch wenn nicht, dann werde ich Sie persönlich dafür zur Rechenschaft ziehen, das verspreche ich Ihnen.«

»Leutnant?«

Hartmann drehte den Kopf, als die Stimme des Piloten aus der Kanzel herausdrang. »Ja?«

»Kontakt«, sagte der Pilot. »Zwei, vielleicht auch drei Gleiter. Zwanzig Kilometer voraus.«

Hartmann stand auf, machte einen Schritt und drehte sich dann wieder zu Charity herum. »Möchten Sie mich begleiten?« fragte er. Mit einem flüchtigen Lächeln fügte er hinzu: »Als ehemalige Raumfahrerin dürfte die Maschine Sie interessieren.«

Charity spürte, daß Hartmanns Worte nichts als ein ungeschickter Versuch waren, die Spannung zwischen ihnen zu lösen. Wortlos stand sie auf und folgte dem Leutnant. Die Technologie des Helikopters überraschte sie. Die Maschine war im Inneren wesentlich größer, als ihr schlankes Äußeres vermuten ließ, und das Cockpit erinnerte eher an eine Passagiermaschine denn an eine Kampfmaschine. Die Armaturen von Pilot und Funker lagen hinter schweren, völlig undurchsichtigen Visieren verborgen, und trotz der Unzahl von Instrumenten und kleinen LCD-Bildschirmen auf dem Kontrollpult konnte sie nirgendwo ein Steuer entdecken.

Dann begriff sie auf einmal. Die drei Maschinen, die das Lager der Jared angegriffen hatten, waren Stelth-Copter, düsengetriebene Kampfhubschrauber, von denen selbst sie bisher nur Zeichnungen gesehen hatte. Während ihrer letzten Jahre bei der Space-Force hatten sich die Gerüchte gemehrt, daß einer der europäischen Verbündeten in aller Heimlichkeit begonnen hätte, einen Prototyp dieser Rotorflugzeuge zu bauen. Aber sie hatte es damals nur für ein Gerücht gehalten.

Mit einer Mischung aus Verblüffung und widerwilliger Anerkennung sah sie Hartmann an, und für einen Moment leuchtete in den Augen des Leutnants Stolz.

»Eine phantastische Maschine, nicht wahr?« fragte Hartmann.

»Ja«, antwortete Charity grimmig. »Vor allem ihre Vernichtungskapazität. Wirklich beeindruckend.«

»Das war gar nichts, Captain Laird, glauben Sie mir. Ohne diese Maschinen wären wir alle nicht mehr am Leben.« Er wandte sich abrupt um und beugte sich über die Schulter des Piloten. »Wo sind sie?«

»Zwölf ... jetzt noch elf Kilometer voraus. Sollen wir sie runterholen?«

Hartmann überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Landen Sie irgendwo. Wir haben schon genug Aufsehen erregt.«

Ohne daß der Pilot auch nur einen Finger rührte, verlor die Maschine an Geschwindigkeit und ging gleichzeitig tiefer. Einige Sekunden lang kreiste der Helikopter scheinbar unschlüssig über den Ruinen, dann erspähte der Pilot eine Lücke zwischen zwei niedergebrannten Gebäuden. So schnell und sicher, als fahre er seinen Wagen in die Garage hinter einem Haus, in dem er seit zwanzig Jahren wohnte, lenkte der Pilot den Helikopter in die Lücke und setzte auf. Die Turbinen verstummten mit einem letzten, schrillen Aufheulen, und über ihren Köpfen liefen die gebogenen Rotorblätter langsam aus. Das Licht erlosch wie auch die meisten der leuchtenden Kontrollanzeigen.

»Keine Sorge«, sagte Hartmann. »Es ist alles in Ordnung. Aber sie könnten die Wärmestrahlen der Turbinen anmessen, wenn sie nahe genug vorbeifliegen.«

»Sie müßten uns doch längst auf dem Radarschirm haben«, erwiderte Charity.

Hartmann schüttelte den Kopf. »Die Maschinen sind mit Radar nicht zu erfassen«, erklärte er, und wieder hörte Charity einen deutlichen Unterton von Stolz in seiner Stimme.

»Da wäre ich nicht so sicher«, erwiderte sie.

»Sie überschätzen diese Ameisenungeheuer«, antwortete Hartmann. »Ich glaube, sie sind nicht halb so gefährlich, wie die meisten annehmen.«

»Immerhin waren sie gefährlich genug, uns binnen weniger Tage in die Steinzeit zurückzubefördern«, widersprach Charity.

»Das war nichts als Pech«, erwiderte Hartmann beinahe gelassen. »Wir haben sie unterschätzt, wir wußten nicht, womit wir es wirklich zu tun haben. Glauben Sie mir, Captain Laird - wenn wir eine zweite Chance hätten, würden sie sich eine blutige Nase holen.«

Charity zog es vor, nicht weiter mit Hartmann zu streiten. Vielleicht hatte er ja sogar recht. Und vielleicht hatten sie wirklich eine reelle Chance, sich gegen die Invasoren zu erheben und sie sogar zu schlagen.

Neugierig beugte sich Charity vor und musterte das komplizierte Instrumentenpult des Stealth-Copters. Der Pilot neben ihr nahm den Helm ab. Er war sehr jung, vielleicht Mitte Zwanzig, aber Piloten, die solche Hochleistungsmaschinen flogen, mußten jung sein, denn nur ihre Reaktionen waren schnell genug, mit den Anforderungen fertig zu werden, die diese Geräte an den Menschen stellten.

»Es ist ein hübsches Spielzeug«, sagte der Pilot stolz. »Sie würden sich wundern, was man alles damit anfangen kann.«

Eine kleine Kostprobe davon habe ich gerade bekommen, dachte Charity bitter. Aber sie ließ sich von diesem Gedanken nichts anmerken, sondern fragte: »Wo ist der Steuerknüppel?«

Der Pilot wollte antworten, aber bevor er es tun konnte, machte Hartmann eine rasche, befehlende Handbewegung, die Charity nicht entging. Ganz offensichtlich glaubte Hartmann, daß sie nicht wußte, was ein Alpha-Helm war, in Wahrheit war sie wahrscheinlich der erste Mensch auf der Welt gewesen, der einen solchen Helm getragen hatte. Manchmal, dachte sie, hatte es vielleicht sogar gewisse Vorteile, wenn selbst Verbündete noch Geheimnisse voreinander hatten.

»Die Maschine ... braucht kein Steuer«, antwortete der Pilot ausweichend. »Das machen alles die Computer.«

Charity sah ihn zweifelnd an, und dann deutete er mit einem beinahe verlegenen Lächeln auf ein kleines Schaltkästchen, das in der Armlehne seines Sitzes eingelassen war. »Und den Rest erledige ich damit«, sagte er.

Er konnte nicht wirklich glauben, daß sie ihm diese Behauptung abkaufte. Ein Flugzeug, das von seinem Piloten die Reaktionsschnelligkeit einer Katze verlangte, über eine Tastatur steuern zu wollen, die allenfalls zu einem Spielzeugcomputer paßte, war eine geradezu haarsträubende Lüge.

Als Charity etwas entgegnen wollte, deutete Hartmann nach oben. Ein silberfarbener Schatten raste über den Himmel heran. Mit angehaltenem Atem verfolgte sie, wie der Gleiter kaum eine Meile an ihrem Versteck vorüberflog und langsam wieder außer Sicht kam.

Hartmann atmete hörbar auf, nachdem das Fahrzeug verschwunden war. Trotzdem schüttelte er den Kopf, als der Mann im Pilotensitz ihn fragend ansah und seinen Helm wieder aufsetzen wollte. »Noch nicht«, sagte er. »Es ist besser, wir warten noch ein paar Minuten.«

»Wieso?« fragte Charity spöttisch. »Wollen Sie noch ein bißchen Zeit herausschinden, ehe Sie sich vor Ihrem Vorgesetzten verantworten müssen?«

»Verantworten?« wiederholte Hartmann verwundert. »Weswegen?«

»Sie haben drei meiner Begleiter auf dem Gewissen«, sagte Charity.

Hartmann reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte. Statt aufzufahren oder ihre Worte mit einer spöttischen Bemerkung abzutun, blickte er sie sehr lange und sehr ernst an. Ein Ausdruck echter Betroffenheit war in seinem Gesicht zu lesen.

»Es tut mir leid, wenn Sie es so sehen«, sagte er schließlich. »Aber glauben Sie mir, ich konnte nichts dagegen tun. Das Mädchen und der Zwerg waren einfach im falschen Moment am falschen Ort. So etwas kommt nun einmal vor, wenn man Krieg führt.«

»O ja!« antwortete Charity höhnisch. »Und für Kyle gilt dasselbe, nicht wahr? Was mußte er auch dort herumlaufen, wo Lehmann mit seiner Waffe hinzielte?«

Hartmann blickte verwirrt. »Wie bitte?«

Charity begriff plötzlich, daß Hartmann gar nicht bemerkt hatte, was Lehmann mit Kyle angestellt hatte. »Er hat ihn niedergeschossen«, erklärte sie schließlich. »Völlig grundlos.«

Ohne ein weiteres Wort verließ Hartmann die Steuerkanzel. Charity folgte ihm.

»Ist das wahr?« fragte Hartmann mit mühsam beherrschter Stimme, kaum daß er neben Lehmann angelangt war.

»Was?«

Hartmann deutete anklagend auf Charity. »Captain Laird behauptet, Sie hätten ihren Begleiter niedergeschossen.«

»Ich hatte keine Wahl!« verteidigte sich Lehmann. »Der Kerl hat mich angegriffen! Ich mußte mich wehren!«

»Angegriffen?« sagte Charity. »Er war mehr als zehn Meter von Ihnen entfernt!«

»Aber er wollte es tun!« sagte Lehmann trotzig. »Er griff nach seiner Waffe. Ich ... ich war sicher, daß er schießen würde.«

»Hat er auf Sie angelegt?« fragte Hartmann kalt.

Lehmann blickte ihn eine Sekunde lang unschlüssig an, dann schüttelte er kaum merklich mit dem Kopf. »Nein«, sagte er, »aber...«

»Das reicht, Unteroffizier Lehmann«, unterbrach ihn Hartmann kalt. »Wir klären die Angelegenheit später.«

In Lehmanns Augen zeigte sich purer Haß. »Ich ... habe mich nur verteidigt«, antwortete er trotzig.

»Sie haben einen Mann umgebracht, der auf unserer Seite stand«, erwiderte Hartmann zornig.

»Lassen Sie ihn, Leutnant«, mischte sich Charity ein. »Er hat ihn nicht getötet.«

Hartmann drehte sich mit einem fragenden Blick zu ihr um. »Der Schuß hat ihn nur gestreift«, sagte Charity. »Ich habe es genau gesehen. Kyle wird es überleben.«

»Machen Sie sich nichts vor!« schnauzte Hartmann grob. »Selbst wenn er noch am Leben war, haben ihn diese Dreckfresser längst in Stücke gerissen. Ich glaube nicht, daß sie besonders glücklich über unseren Angriff sind.«

Charity zog es vor, nicht mehr darauf zu antworten. Hartmann hätte schon blind sein müssen, um nicht zu merken, daß mit Kyle irgend etwas nicht stimmte; aber ganz offensichtlich wußte er nicht, was ein Megakrieger war. Das halbe Jahrhundert, das er und seine Männer eingegraben unter den Ruinen dieser Stadt verbracht hatten, hatte ihn offensichtlich auch von allem isoliert, was außerhalb dieser Stadt vorging. Und vielleicht war es für alle besser, wenn es noch eine Weile so blieb.


*


Das Donnern der Explosionen war längst verklungen. Über ihnen mußte das Gebäude zusammengestürzt sein, denn der Raum hatte minutenlang geschwankt wie ein Boot auf hoher See, und von der Decke waren Steine und Trümmer herabgeregnet. Danach war Ruhe eingekehrt, nur die Decke strahlte plötzlich eine mörderische Hitze aus, als regnete es Feuer. Zuerst war die Hitze nur unangenehm gewesen, aber bald wurde sie zur Qual, und seit einigen Minuten hatte Helen das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. In ihrer Lunge saß ein stechender Schmerz, der immer schlimmer wurde.

Sie blinzelte, um die Tränen fortzuwischen, die ihr die Hitze in die Augen trieb. Trotzdem konnte sie kaum etwas sehen. Von den Fackeln, die den Raum erhellt hatten, ehe die Welt über ihren Köpfen zusammenbrach, brannte nur noch eine einzige, und die staubgeschwängerte Luft schien das rötliche Licht aufzusaugen. Mehr als die Hälfte des Kellergewölbes war eingestürzt. Dort, wo der Eingang gewesen war, rieselte noch immer Staub von der Decke, manchmal begleitet vom Poltern eines Steines, und dann und wann von einem tiefen, mahlenden Knirschen.

Unsicher plagte sich Helen auf, fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht und fühlte warmes Blut. Erst dananch spürte sie den brennenden Schmerz. Vorsichtig tastete sie mit den Fingerspitzen über ihre Stirn und fuhr zusammen, als sie die tiefe, heftig blutende Wunde an ihrer linken Schläfe berührte.

»Keine Angst, Schätzchen«, sagte eine quäkende Stimme neben ihr. »Dein Kopf ist noch dran.«

Durch den Staub sah Helen Gurk auf sich zukommen. Der Umhang des Zwerges hing in Fetzen, und auf seiner Glatze prangte eine gewaltige Beule. Mit trippelnden Schritten kam er näher, rieb sich die heftig tränenden Augen und maß Helen mit einem besorgten Blick. »Alles in Ordnung?«

»Ich ... denke schon«, antwortete Helen zögernd. Außer dem verletzten Techniker, Gurk und ihr selbst hatten sich im Augenblick der Katastrophe etwa fünfzehn Jared in dem Gewölbe aufgehalten. Doch niemand schien unverletzt davongekommen zu sein. Die meisten Jared lagen reglos am Boden, von Steinen und Erdmassen getroffen, einige krümmten sich stöhnend, und nur sehr wenige hatten noch die Kraft, auf eigenen Füßen zu stehen.

Hastig drehte Helen sich zu dem bewußtlosen Techniker herum und beugte sich über sein Gesicht. Sie war keine Ärztin, aber das Leben, das sie die vergangenen fünfundzwanzig Jahre geführt hatte, hatte ihr zwangsläufig ein gewisses Wissen vermittelt. Soweit sie das beurteilen konnte, schien der Mann keine schweren Verletzungen davongetragen zu haben.

Ihr Blick löste sich von Sterns Gesicht und heftete sich für einen Moment auf den faustgroßen, grünschillernden Käfer, der sich in seiner Halsschlagader verbissen hatte. Sein Körper pulsierte im ruhigen Takt von Sterns Herzschlag; zumindest hätte es für jeden anderen so ausgesehen. Doch Helen wußte, daß das nicht so war. Es war das ruhige Pumpen der Käferkreatur, die den rasenden Puls des Verwundeten beruhigt hatte, nicht umgekehrt. Und dieses Tier tat noch sehr viel mehr.

Ihr Blick glitt über Sterns Körper. Sie konnte seinen Oberkörper erkennen - alles, was sich unterhalb seiner Hüften befand, war unter einer Schicht der gleichen, grauweißen Fäden verschwunden, die die Wände und einen Teil der Decke bedeckt hatten, ehe die Explosion erfolgte. Die Jared, die sie hier heruntergeführt hatten, hatten behauptet, es wäre nur eine Art Verband, um die schlimmsten Wunden des Mannes zu bedecken, die er tatsächlich an Beinen und Unterleib davongetragen hatte. Aber Helen spürte, daß das nicht die Wahrheit war; zumindest nicht die ganze Wahrheit.

»Nun?« fragte Gurk.

Helen riß sich mühsam von dem schrecklichen Anblick los und sah den Zwerg an. »Ich glaube, er hat noch einmal Glück gehabt«, sagte sie.

Gurk betrachtete sie mit gerunzelter Stirn, dann lachte er leise. »Du bist vielleicht ein Herzchen«, sagte er. »Wir haben keine Ahnung, ob wir die nächsten fünf Minuten überleben, und du hast Angst, daß ihm ein Stein auf den Zeh gefallen ist.«

Helen ignorierte den beißenden Spott in Gurks Worten und sah fragend zu dem Zwerg auf. »Was ist dort oben passiert?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete Gurk grob. Trotzdem legte er den Kopf in den Nacken und blickte die Decke aus eng zusammengekniffenen Augen an, als könne er die Antwort auf Helens Fragen dort ablesen.

»Vielleicht ist der ganze Schuppen in sich zusammengebrochen«, sagte er schließlich. »Oder Stones Kanoniere haben endlich unsere neue Adresse herausgefunden und versucht, der Sache ein für allemal ein Ende zu machen. Aber sie haben es wieder einmal verbockt.«

Helen erschrak. Auf den Gedanken, daß die Moroni vielleicht ein neuen Atombombenangriff geflogen waren, war sie bisher nicht einmal gekommen. Dabei sprach einiges dafür: die fürchterliche Explosion, das Beben, die entsetzliche Hitze, die durch den meterdicken Stein zu ihnen herabgedrungen war...

Sie weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.

»Wir sollten versuchen, irgendwie herauszukommen«, sagte Gurk. Mißmutig betrachtete er die wenigen überlebenden Jared, die sich zwar wieder auf die Füße erhoben hatten, aber mit leeren Gesichtern und ausdruckslosen Augen herumstanden, als hätten sie überhaupt nicht begriffen, was geschehen war.

»Ich schätze«, sagte Gurk, »von den Wilden haben wir nicht viel Hilfe zu erwarten.« Er legte den Kopf schräg und sah Helen fragend an. »Kannst du graben?«

»Wieso?«

Gurks übergroßer Kahlkopf deutete auf den Eingang, der unter einer Lawine von Steinen und Erdreich verschwunden war. »Weil wir das Zeug da irgendwie zur Seite schaffen müssen«, antwortete er. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht - aber ich habe keine Lust, zu warten, ob sie uns herausholen oder nicht.«

Helen betrachtete den verschütteten Eingang einen Moment lang. Sie glaubte nicht, daß sie es schaffen würden, den Eingang frei zu legen. Trotzdem stand sie auf und folgte Gurk.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß die Decke nicht bei der geringsten Erschütterung vollends zusammenbrechen würde, begannen sie vorsichtig damit, größere Steine und Felsbrocken beiseite zu rollen. Sie kamen überraschend gut voran. Schon nach einer Stunde hatten sie den Schuttberg so weit abgetragen, daß sie die Tür sehen konnten - und Helen registrierte erleichtert, daß der Treppenschacht hinter der geborstenen Eichentür nicht verschüttet war. Von oben drang flackernder Feuerschein herab.

Sie arbeiteten weiter, bis sie auf einen Balken stießen, der gut drei Meter lang war und eine halbe Tonne wiegen mußte. So sehr sie sich anstrengten, es gelang ihnen nicht, ihn auch nur ein winziges Stück von der Tür fort zu zerren. Gurk richtete sich ächzend auf und betrachtete das halbe Dutzend Jared, das ihrem Tun teilnahmslos zusah. »He, ihr stummen Idioten«, keifte er, »wie war's, wenn ihr aufhört, uns anzugaffen und euch ein wenig nützlich macht? Ihr konntet zum Beispiel...« Gurk brach überrascht mitten im Satz ab, als die Jared wie auf ein gemeinsames Kommando hin aus ihrer Starre erwachten. Wortlos, aber mit einer Kraft, die den Gnom erstaunte, stürzten sie vor und begannen gemeinsam, an dem Balken zu zerren. Selbst einige der schwerer verletzten Jared versuchten, auf Händen und Knien zu ihnen zu kriechen, um ihren Kameraden zu helfen.

Gurk trat kopfschüttelnd einen Schritt zurück. »Was ist denn plötzlich in sie gefahren?« wunderte er sich.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Helen. »Aber irgend etwas ... stimmt hier nicht.«

Von einem neuerlichen Schrecken erfüllt, sah sie sich um. Nichts in dem kleinen Kellerraum hatte sich verändert, und doch glaubte sie eine Bedrohung, eine unsichtbare Gefahr zu fühlen.

»Hier stimmt etwas nicht«, sagte sie noch einmal. »Komm! Wir müssen hier raus!«

Sie traten zwischen die Jared und halfen ihnen, den Balken von der Tür weg zu zerren.

Doch obwohl sie mit gemeinsamen Kräften arbeiteten, schafften sie es nicht, aus dem Keller herauszukommen.

Aber dafür kam etwas zu ihnen herein.

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