»Ich hätte ihm den Schädel einschlagen sollen!« sagte Skudder. »Dann wüßten wir jetzt wenigstens, warum wir gefangen sind!« Zornig versetzte er der Tür einen Fußtritt, der sie in den Angeln erzittern ließ. Eine Sekunde später öffnete sich eine schmale Klappe in der Tür, durch die ein dunkles Augenpaar zu ihnen hereinsah. Skudder starrte es einen Moment lang zornig an, dann sprang er vor, riß die Arme in die Höhe und machte: »Buh!« Sofort verschwand das Augenpaar hastig aus der Öffnung.
»Laß das, Skudder«, sagte Charity. »Der Blödsinn hilft uns hier auch nicht raus.«
»Nein«, antwortete Skudder. »Aber er erleichtert.«
Zum ungefähr dreißigsten Mal innerhalb der letzten halben Stunde sah sie auf die Uhr. Das Heulen der Alarmsirenen war längst verstummt, aber dafür glaubte sie manchmal ein dumpfes Grollen zu hören, und zweimal innerhalb der letzten zehn Minuten hatte der Boden unter ihren Füßen spürbar gezittert, als liefen irgendwo riesige Maschinen an - oder als wäre etwas explodiert.
»Wenn wir wenigsten wüßten, was draußen los ist!« sagte Net.
Wie zur Antwort erzitterte der Boden in diesem Moment ein drittes Mal - doch diesmal folgte der Vibration ein dumpfes Grollen.
Skudder fuhr erschrocken herum und hob in einer sinnlosen Abwehrbewegung die Arme, und auch Charity richtete sich alarmiert auf.
»Was...?«
Eine vierte und noch nähere Explosion verschluckten den Rest ihrer Worte. In der Decke entstand ein gezackter Riß, aus dem Staub und kleine Steine auf sie herabrieselten, und plötzlich begannen die Alarmsirenen erneut mit ihrem schrillen, mißtönenden Gesang.
»Um Gottes willen!« keuchte Skudder. »Der ganze Laden bricht zusammen!« Mit einem Schrei fuhr er herum und begann mit den Fäusten gegen die Tür zu hämmern.
Charitys Blick hing wie gebannt an der Decke. Der Riß hatte sich nicht verbreitert, schickte jetzt aber kleine Arme in alle Richtungen, aus denen mehr und mehr Staub herabrieselte.
»Aufmachen!« schrie Skudder. »Macht auf! Hier bricht alles zusammen!«
Nach seinem albernen Benehmen zuvor hatte Charity kaum damit gerechnet - aber die Luke in der Tür wurde tatsächlich wieder geöffnet, und der Posten blickte zu ihnen herein. Dann hörte sie das scharrende Geräusch des Riegels, und die Tür flog mit einem Ruck auf.
Und im gleichen Moment brach die Decke herab.
Charity sah es wie in einer bizarren Zeitlupenaufnahme: die tonnenschwere Betondecke verwandelte sich in ein Spinnennetz aus ineinanderlaufenden Sprüngen und Rissen und stürzte in die Tiefe. Doch im gleichen Moment fuhr Skudder herum, packte Net und sie gleichzeitig mit beiden Händen und stürzte sich einfach nach vorn. Charity spürte, wie ein gewaltiger Steinsbrocken hinter ihr zu Boden krachte, dann fiel sie über Skudder, riß instinktiv die Arme in die Höhe und rollte sich ab. Hustend und benommen kam sie wieder auf die Füße. Ihre Augen tränten, und im ersten Moment konnte sie nichts anderes erkennen außer Staubwolken und Schatten, die sich in den grauen Schwaden bewegten: Skudder, der Net mühsam auf die Beine zog, und die beiden Soldaten, die vor der Tür Wache gehalten hatten. Einen von ihnen hatten sie bei ihrem verzweifelten Sprung umgerissen, der andere stand zwei Schritte hinter ihr und blickte abwechselnd sie, Skudder und den zusammengestürzten Raum hinter der Tür fassungslos an.
»Was ist passiert?« fragte Charity.
Der Soldat zuckte hilflos mit den Achseln. Im nächsten Augenblick ließ eine weitere Explosion den gesamten Tunnel erbeben.
»Ich weiß es nicht«, schrie der Soldat. »Wir werden angegriffen. Aber ich weiß nicht, von wem!«
»Aber ich«, brüllte Charity gegen das Grollen und Dröhnen. »Bringen Sie uns zu Krämer! Schnell!«
Der junge Mann zögerte. »Ich ... darf Sie nicht...«
»Verdammt, ich weiß, was das alles zu bedeuten hat!« unterbrach ihn Charity. »Und ich weiß auch, wie wir es beenden können!«
Entschlossen drehte der Soldat sich herum und deutete den Gang hinab.
»Okay. Kommen Sie.«
Sie stürmten in Richtung auf den Aufzug los. Aber sie hatten nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als eine weitere, ungeheuerliche Explosion erscholl und fast die gesamte Wand neben ihnen zusammenbrach.
Die Erschütterung schleuderte sie alle von den Füßen. Charity riß die Arme über den Kopf, als ein Regen von Steinsplittern und Trümmern auf sie herabstürzte. Für Sekunden war der Staub so dicht, daß sie nicht einmal Skudder erkennen konnte, der unmittelbar neben ihr lag. Sie hustete qualvoll, stemmte sich umständlich in die Höhe und blinzelte ein paarmal, um durch die tobenden Staubschwaden hindurch etwas zu erkennen.
Auf der anderen Seite der zusammengebrochenen Wand lag eine gewaltige, gut zehn Meter hohe Halle, die durch eine Unzahl gläserner Wände in ein Labyrinth kleiner, rechteckiger Räume unterteilt wurde. In jeder dieser kleinen Kavernen stand eine Liege, auf der eine ausgestreckte, reglose Männergestalt lag. Charity schätzte die Zahl dieser Liegen auf weit über tausend. In dem riesigen Saal befand sich ein Teil von Krämers schlafender Armee.
Ein großer Teil der gläsernen Wände war zerborsten, so daß zahlreiche Männer Verletzungen davongetragen hatten. Und zwischen den schier endlosen Reihen von Liegen bewegten sich andere Gestalten; Schatten, die Charity im ersten Moment in den treibenden Staubschleiern allesamt für menschlich hielt, bis sie das Aufblitzen von Strahlenschüssen sah. Die Moroni griffen die Basis nicht einfach an, dachte sie entsetzt. Sie waren bereits hier.
Skudder sog plötzlich scharf die Luft ein und ergriff sie so heftig am Arm, daß Charity mit einem Schmerzlaut zusammenfuhr. Sein ausgestreckter Arm deutete auf die gegenüberliegende Wand der Halle.
Aus den Trümmern wand sich eine riesige, schwarze Gestalt.
Es dauerte eine Sekunde, bis Charity sie erkannte.
Der Wurm war ungefähr dreißig Meter lang. Sein Leib war mit schwarzen, glitzernden Panzerplatten bedeckt, und wo er den Boden berührte, begannen die Kunststoffplatten zu schmelzen. Charity konnte weder Augen noch andere Sinnesorgane entdecken, aber der vordere Teil seines Körpers hatte sich aufgerichtet und pendelte beständig hin und her, wie der Kopf einer angreifenden Kobra. Charity sah, wie einige der Soldaten das Feuer auf die gigantische Kreatur eröffneten. Aber die Lasersalven prallten wirkungslos von seinem Leib ab.
Aus dem gut drei Meter durchmessenden Tunnel, den der Wurm in den Fels gebrannt hatte, quollen vierarmige Gestalten. Es mußten bereits Dutzende von Ameisen sein, die die wenigen Verteidiger mit wütenden Feuerstößen zurücktrieben; und aus dem Tunnel rückten immer mehr Moronikrieger nach.
Aber nicht nur sie.
Zwischen den glitzernden, vierarmigen Umrissen der Moroni bewegten sich kleinere, helle Gestalten, Gestalten mit nur zwei Armen und langem, verfilztem Haar - Jared.
Charity plagte sich auf. Einer der beiden Soldaten in ihrer Begleitung wollte seine Waffe heben und auf die Moroni anlegen, aber Charity drückte hastig seinen Arm herunter. »Nicht«, sagte sie. »Sie wollen nichts von uns! Sehen Sie doch!«
Sie deutete auf die Jared, die die Ameisen begleiteten.
Die Insektenkrieger trieben die wenigen Soldaten, die ihren Feuerüberfall bisher überlebt hatten, gnadenlos vor sich her, aber die Jared schienen sich für den Kampf überhaupt nicht zu interessieren. Ohne die Explosionen auch nur zu beachten, die den Saal rings um sie herum in eine Hölle verwandelten, näherten sie sich den schlafenden Soldaten auf den Liegen und knieten neben ihnen nieder. Charity konnte nicht genau erkennen, was sie taten, aber sie sah, wie einige der Gestalten sich zu regen begannen, als die Jared sie berührten.
»Was ... was tun sie da?« stammelte der Soldat.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Charity. »Aber sie wollen nichts von euch, verstehen Sie? Sie wollen nur sie!«
Der Mann starrte aus entsetzt geweiteten Augen auf das unglaubliche Bild. Er antwortete nicht.
»Bringen Sie uns zu Krämer!« schrie Charity. »Schnell!«
Der Soldat reagierte immer noch nicht, so daß Charity ihn kurzerhand an der Schulter ergriff und herumriß. Die Berührung brach den Bann. Instinktiv streifte er ihre Hand ab - und deutete dann heftig gestikulierend auf den Lift. »Dort entlang! Schnell!«
Sie rannten los. Zwei, drei Energieschüsse zuckten in ihre Richtung, als die Ameisen das halbe Dutzend fliehender Gestalten erspähten, aber keine von ihnen traf. Unbehelligt erreichten sie den Aufzug und sprangen in die Kabine.
Die Türen begannen sich mit quälender Langsamkeit zu schließen. Eine weitere Explosion ließ die gesamte Kabine erbeben, und einen Sekundenbruchteil, bevor sich die Türen wirklich schlössen, sah Charity die zwei Meter große Gestalt einer Ameise, die mit grotesk aussehenden Sprüngen über die zusammengebrochene Wand setzte und auf sie zurannte. Aber dann schlössen sich die Türen, und der Lift setzte sich summend in Bewegung.
Zehn Sekunden lang.
Dann traf die Faust eines Riesen den Aufzug, schleuderte ihn zwei oder drei Meter weit in die Höhe und ließ ihn dann wieder zurückfallen.
Die Erschütterung schmetterte Charity und die anderen mit furchtbarer Wucht zu Boden. Für Momente blieb sie benommen liegen und lauschte auf das schreckliche Geräusch der überanspruchten Stahlseile, an denen die Liftkabine hing. Aber das Wunder geschah - die Trossen hielten, und die Kabine stürzte nicht haltlos in die Tiefe.
Vollkommene Dunkelheit umgab sie. Blind tastete sie um sich, fühlte einen Körper, über dem sie zusammengebrochen war, und hörte ein unterdrücktes Stöhnen.
»Bist du verletzt?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Net. »Aber nicht schwer. Ich ... glaube jedenfalls nicht.«
Einer der Soldaten schaltete eine Taschenlampe ein und ließ den Strahl durch die winzige Kabine gleiten. In seinem bleichen Licht erkannte Charity, daß sie tatsächlich alle mehr oder minder unverletzt davongekommen waren. Bis auf Net und sie selbst hatten sich alle wieder erhoben, und auch die Wasteländerin richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
Der Lift aber war schwer beschädigt worden. Die Türen hatten sich verzogen und ließen sich wahrscheinlich nicht einmal mehr mit einer Brechstange öffnen. Aus der Schalttafel an der Kabinenwand kräuselten sich dünne, graue Rauchfahnen. Trotzdem trat einer der Soldaten heran und drückte mehrmals auf den obersten Knopf - aber nichts geschah.
»Mist!« fluchte Skudder.
»Sieht so aus, als säßen wir fest.«
»Es gibt noch einen Weg!« sagte der Soldat und deutete mit dem Lauf seines Gewehres nach oben. »Können Sie klettern?«
Skudder sah ihn fragend an.
»Die Trossen«, sagte der Soldat. »Es ist nicht leicht, aber es geht. Und es sind nur sieben oder acht Meter.«
Statt direkt zu antworten, richtete sich Skudder auf und hob die Arme. Er erreichte spielend die Decke der Liftkabine. Charity sah, wie sich seine Muskeln spannten, als er mit aller Macht dagegendrückte. Das Metall knirschte, gab aber nicht nach.
Enttäuscht ließ er die Arme sinken und trat zurück. »Wir brauchten etwas, um...« murmelte er.
Ein dumpfer Schlag traf die Liftkabine. Einen Augenblick später hörte Charity das Geräusch harter Krallen, die über Metall kratzten.
Einer der beiden Soldaten feuerte auf die Tür. Die Geschosse blieben im Metall stecken, aber dennoch erscholl von draußen ein wütendes Zischeln und Pfeifen - und ein zweiter, noch heftigerer Schlag, der die Lifttür traf.
Der Soldat zielte abermals auf die Kabinentür, besann sich dann aber eines Besseren und riß die Waffe plötzlich in die Höhe, um den Rest des Magazines in die Decke zu feuern.
»Jetzt!« schrie er, während er zurücktrat und das Magazin auswechselte. »Versuchen Sie es noch mall«
Skudder hob abermals die Arme, und diesmal gab das Metall nach, als der Hopi zornig mit der Faust dagegen schlug.
Ein weiterer Hieb traf die Lifttür - und durchschlug sie. In einem handlangen, gezackten Riß tauchte für eine Sekunde eine Insektenklaue auf, die sich aber blitzschnell zurückzog, als der Soldat einen weiteren Schuß aus seiner MP durch die Tür jagte.
»Beeilt euch!« sagte er. »Ich versuche sie aufzuhalten - aber ich weiß nicht, wie lange ich es schaffe.«
Skudder schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung auf das Dach der Kabine und streckte die Hände herab, um erst Net und dann Charity zu sich heraufzuhelfen.
Charity blickte aus eng zusammengepreßten Augen in den vollkommen schwarzen Liftschacht.
»Wir brauchen Licht!« rief sie in die Kabine hinunter.
Einer der beiden Soldaten kletterte umständlich zu ihnen herauf, während der zweite zurückblieb und in fast regelmäßigen Abständen einen Schuß auf die Tür abgab.
Der Mann schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Strahl an den Stahltrossen hinaufwandern, an denen der Lift hing. Schließlich blieb er an den geschlossenen Türen des Ausgangs hängen - ungefähr zehn Meter über ihnen, wie Charity erschrocken erkannte.
»Schaffst du das?« fragte Skudder besorgt. Die Frage galt eher Net als Charity, aber sie beantwortete sie trotzdem mit einem Nicken, warf einen letzten, nervösen Blick in die Kabine zurück und begann an dem Stahlseil hinaufzuklettern.
Es war sehr viel schwerer, als sie erwartet hatte. Die Trosse war straff gespannt und vibrierte unter ihren Händen, als wolle sie jeden Moment zerreißen. Sie war zudem so dick mit Schmiere und Öl eingerieben, daß Charity immer wieder den Halt verlor. Sie war in Schweiß gebadet, als sie endlich die Tür erreichte.
»Rechts neben der Tür!« drang die Stimme des Soldaten zu ihr herauf. »Drücken Sie den roten Knopf!«
Charity sah nicht einmal die Tür wirklich, geschweige denn einen roten Knopf. Behutsam löste sie eine Hand von ihrem Halt und tastete mit gepreizten Fingern über die Wand neben der Tür. Nach Augenblicken ertastete sie einen rechteckigen Umriß und drückte entschlossen mit der ganzen Handfläche darauf. Ein hörbares Klicken erscholl - aber das war auch alles.
»Sie geht nicht auf!«
»Versuchen Sie es noch einmal! Die Notautomatik muß funktionieren! Und beeilen Sie sich!« Wie um die Worte des Mannes zu unterstreichen, drang aus der Liftkabine wieder ein kurzer, hämmernder Feuerstoß herauf. Ein furchtbarer Schlag, der die Liftkabine im nächsten Augenblick traf, ließ den gesamten Liftschacht erbeben. Aus dem Schalter neben der Tür drang ein hörbares Klicken, und die Aufzugtüren glitten auf.
Mit einem erleichterten Seufzen schwang sich Charity aus dem Liftschacht. Vor der Tür sank sie auf die Knie herab und blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen sitzen, um Atem zu schöpfen, ehe sie es wagte, den Kopf zu heben und sich umzusehen.
Sie befand sich im Inneren eines der kleinen Gebäude von Krämers Höhlenstadt. Draußen erklangen Schreie, und manchmal erscholl das Echo einer schweren Explosion. Langsam, ihre zerschundenen Hände unter die Achseln gepreßt, stand sie auf und ging zur Eingangstür des Gebäudes. Behutsam öffnete sie sie einen Spaltbreit und spähte hinaus.
Die Höhlenstadt befand sich in heller Aufregung. Das Heulen der Sirenen war längst verstummt, aber der gewaltige unterirdische Dom hallte wider von den Schritten Hunderter von Männern, die scheinbar ziellos hin und her hasteten, sich Befehle zuschrien oder den Ausgängen entgegenstrebten. Charity sah, daß sich vor dem Tunnel zum Landeplatz eine gewaltige Stahlplatte herabgesenkt hatte. Die Türen der meisten Gebäude standen offen und entließen Männer ins Freie. In einer der großen, fensterlosen Hallen hatte sich ein gewaltiges Tor geöffnet, aus dem hintereinander ein halbes Dutzend riesiger, stählerner Ungetüme herausrollte: Panzer, wie Charity und Skudder sie schon in Paris gesehen hatten.
Sie hörte ein Geräusch, drehte sich herum und erkannte Skudder, der geschickt an der Stahltrosse emporgeklettert kam, so schnell und scheinbar mühelos, daß Charity ein absurdes Gefühl von Neid empfand.
»Alles in Ordnung hier oben?« fragte Skudder schwer atmend.
Charity nickte. »Ja. Aber ich weiß nicht, wie lange noch.« Sie fuhr erschrocken zusammen, als ihr Blick auf Skudders zerschundene Hände fiel, »O verdammt, wie sehen deine Hände aus?«
Skudder blickte einen Herzschlag lang mit gerunzelter Stirn auf seine Hände herab. Zwischen Fett und Öl schimmerte helles Blut. Schließlich zuckte er mit den Schultern und rieb sich die Handflächen an den Hosenbeinen sauber.
Dann kam Net heftig keuchend und am Ende ihrer Kraft den Schacht herauf, und kurz nach ihr einer der beiden Soldaten.
»Wo ist ihr Kamerad?« fragte sie, als der junge Mann erschöpft neben der Lifttür zusammenbrach.
»Er ... kommt nach«, keuchte er. »Irgend etwas ... ist durch die Tür gekommen. Er ... wollte es aufhalten.«
Charity tauschte einen erschrockenen Blick mit Skudder, beugte sich in den Liftschacht - und fuhr so hastig wieder zurück, daß sie Skudder beinahe von den Füßen gerissen hätte.
An dem Drahtseil kletterte eine Gestalt hinauf. Aber es war nicht der Soldat, sondern ein Ameisenkrieger. Neben ihr schrie der Hopi überrascht auf, packte aber im gleichen Moment gedankenschnell die Waffe des Soldaten und gab einen Feuerstoß in den Liftschacht ab. Es war nicht zu erkennen, ob er traf, aber aus dem Schacht drang ein wütendes Zischeln und Pfeifen herauf, und plötzlich begann das Stahlseil zu vibrieren. Ein dürres, vielgelenkiges schwarzes Bein erschien in der Tür und versuchte sich festzuklammern. Skudder drehte die Maschinenpistole herum und schlug mit dem Kolben zu. Das Bein verschwand, aber eine halbe Sekunde später tauchte ein glotzendes Augenpaar in der Öffnung auf, und zwei, drei riesige Beine schleuderten Skudder, Charity und Net in einer einzigen, wütenden Bewegung zu Boden.
Der Hopi fiel hilflos auf den Rücken, aber er besaß genug Geistesgegenwart, die Waffe abermals herumzudrehen und den Abzug durchzudrücken. Der winzige Raum schien unter dem Dröhnen der MP-Salve auseinanderzubersten. Charity sah aus den Augenwinkeln, daß die Salve das Monster traf. Das Ungeheuer kreischte und stürzte haltlos in den Schacht zurück. Wenig später erscholl ein krachender Aufprall, und dann zerriß das Stahlseil endgültig. Polternd stürzte die Liftkabine in die Tiefe.
Charity überzeugte sich hastig davon, daß keiner von ihnen schwer verletzt war, dann kroch sie auf Händen und Knien zurück zur Tür. Der Liftschacht lag vollkommen dunkel unter ihr, aber sie glaubte trotzdem einen huschenden, mißgestalteten Schatten zu sehen, der sich langsam zu ihr hinaufarbeitete. Sie war ziemlich sicher, daß diese Kreatur kein Stahlseil brauchte, um den Liftschacht hinaufzuklettern...
»Wir müssen die Tür schließen!« rief sie. »Helft mir!«
Sie schafften es mit vereinten Kräften und buchstäblich im letzten Augenblick. Die beiden Türhälften hatten sich kaum geschlossen, als etwas von innen mit solcher Wucht dagegenhämmerte, daß Charity erschrocken zurücktaumelte.
»Die Tür hält höchstens ein paar Minuten!« sagte Skudder. »Raus hier - schnell!«
Erst als Charity bereits an der Tür war, fiel ihr auf, daß der Soldat keine Anstalten machte, ihnen zu folgen. »Was ist los!« fragte sie ungeduldig. »Worauf warten Sie?«
»Ich ... kann nicht mehr«, stöhnte der Soldat. Er stand zitternd an der Wand neben der Lifttür. Sein Gesicht war bleich, und Charity sah erst jetzt die rasch größer werdende Blutlache, die sich unter seinem rechten Bein bildete. »Das Vieh hat mich erwischt, als ich ... am Seil hing«, stöhnte er. »Verschwindet! Ich ... versuche sie einen Moment aufzuhalten.«
Charity zögerte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, den Mann hier zurückzulassen. Aber sie sah auch, daß er wirklich schwer verletzt war - und die Tür neben ihm erzitterte immer heftiger unter den Schlägen des Ungeheuers. Schließlich nickte sie Skudder zu. Der Hopi nahm das Gewehr von der Schulter und warf es zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurück. Der junge Soldat fing es auf, schob mit zusammengebissenen Zähnen ein neues Magazin in den Schaft und humpelte einige Schritte von der Lifttür weg.
»Viel Glück«, sagte Charity. »Und spielen Sie nicht den Helden. Wenn sie durchkommen, verschwinden Sie!«
Obwohl die Entfernung bis zu Krämers Befehlszentrale kaum zweihundert Meter betrug, brauchten sie fast zehn Minuten, um sie zurückzulegen. Die Höhlenstadt hatte sich in ein Irrenhaus verwandelt. Der Boden unter ihren Füßen erzitterte immer öfter unter schweren Explosionen, von denen einige eindeutig aus der Tiefe der Station herauf drangen. Charity schätzte, daß die Bunkerfestung dem Angriff keine halbe Stunde mehr Stand halten würde.
Zu ihrem Erstaunen trafen sie weder vor noch in dem kleinen Gebäude auf Wachen. Aber als sie sich Krämers Büro näherten, ging die Tür auf, und Hartmann trat heraus.
Ein ungläubiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, als er sie erkannte. »Wie zum Teufel kommen Sie hierher?« fragte er fassungslos.
»Ist Krämer dort drinnen?« herrschte ihn Charity an.
Hartmann nickte. »Ja, aber...«
»Sie sind hier!« unterbrach ihn Charity. »Sie sind bereits in der Station, Hartmann!«
Sämtliche Monitore in der Wand hinter Krämers Schreibtisch waren zum Leben erwacht, als sie in den Raum stürmten. Jeder zeigte einen anderen Ausschnitt der unterirdischen Basis. Trotzdem ähnelten sich die Bilder auf schreckliche Weise: Fast alle zeigten eine Armee schwarzer, vielarmiger Insektenkrieger, die die Abwehr der Bunkerfestung so mühelos überrannten, als wäre sie gar nicht vorhanden. Auf den Bildschirmen flammte eine grellweiße Explosion nach der anderen auf und zeigte den Untergang von Krämers Abwehrstationen. Nur ein Dutzend der sorgsam getarnten Geschützstände feuerte noch, aber für jeden Gleiter, der in einer Explosion verglühte oder abstürzte, schienen zwei neue am Himmel aufzutauchen.
»Krämer - Sie sind hier!« Skudders Stimme war so schrill, als wolle sie jeden Moment umkippen. Mit einer zornigen Bewegung beugte er sich vor und streckte die Arme aus, wie um Krämer an den Schultern zu packen und herumzureißen, trat dann aber im letzten Moment wieder zurück und starrte aus entsetzt geweiteten Augen auf das apokalyptische Schauspiel, das sich auf den Bildschirmen bot.
»Was ... was tun Sie hier?« stammelte Krämer.
»Sie sind bereits in der Station!« schrie Charity. »Krämer, wir müssen zu Gyell! Geben Sie uns eine Maschine!«
»Unmöglich!« rief Krämer. »Sie lügen. Wir ... wir sind hier vollkommen sicher. Sie können nicht hier herein! Sie kommen nie durch die Tore!«
Charity tauschte einen alarmierten Blick mit Skudder. Beide begriffen, daß Krämer kurz davor stand, den Verstand zu verlieren.
»Ich kann sie aufhalten«, sagte Charity. »Vielleicht kann ich sie daran hindern, sie alle umzubringen. Bitte, Krämer - wir brauchen einen Hubschrauber!«
»Nein«, antwortete Krämer. »Sie ... Sie lügen. Was tun Sie überhaupt hier? Sie ... Sie sind meine Gefangene!« Plötzlich sprang er auf, fuhr herum und deutete heftig gestikulierend auf Hartmann. »Nehmen Sie sie fest! Erschießen Sie sie, wenn sie fliehen wollen! Sie sind Verräter! Es ist ... es ist alles ihre Schuld!«
Skudder riß ihn mit einer zornigen Bewegung in die Höhe. »Sie...«
»Hören Sie auf!«
Skudder erstarrte, und auch Charity blickte einen Moment lang ungläubig auf die Pistole, die plötzlich in Hartmanns Hand lag.
Dann fing sie Hartmanns Blick auf und begriff.
»Lassen Sie ihn los, oder ich erschieße Sie gleich hier!« sagte Hartmann. »Sofort«
»Tu, was er sagt«, sagte Charity hastig. »Er hat recht, Skudder. Es ist alles unsere Schuld. Aber wir sind hier sicher. Krämers Leute werden sie besiegen.«
Skudder schien immer noch nicht zu begreifen. Eine Sekunde lang starrte er auch sie fassungslos an, aber dann fing er ihren fast verzweifelten Blick auf und ließ den kleinen Mann endlich los.
Krämer taumelte mit einem Keuchen zurück und fiel schwer in seinen Sessel. »Bringen Sie sie weg, Hartmann!« kreischte er. »Erschießen Sie sie! Ich verurteile Sie wegen Hochverrat und Konspiration mit dem Feind zum Tode!«
»Zu Befehl, Herr Generalmajor«, sagte Hartmann. Mit grimmigem Gesichtsausdruck wandte er sich an Charity und machte eine wedelnde Bewegung mit der freien Hand. »Raus hier! Los!«
Charity hob langsam die Arme, und auch Net und Skudder traten auf den Korridor zurück. Hartmann folgte ihnen mit der Waffe im Anschlag. Für einen winzigen Moment kamen Charity Zweifel, als sie den verbissenen Ausdruck auf Hartmanns Gesicht sah. Er war wirklich ein überzeugender Schauspieler.
Sie hoffte nur, daß er auch wirklich nur schauspielerte...
Sie hatten das Gebäude kaum verlassen, da senkte Hartmann die Waffe und steckte sie wieder ein. Charity atmete erleichtert auf, und auch von Skudders Gesicht wich der angespannte Ausdruck.
»Ist das wahr?« fragte Hartmann. »Sie sind wirklich schon hier?«
Charity blickte ihn einen Moment lang verständnislos an. »Sie ... wissen es wirklich nicht?«
»Was?!«
»Aber ... Krämer muß es doch gemerkt...« Skudder verstummte mitten im Wort. »Er hat nichts gesagt«, murmelte er. »Nicht wahr? Sie sind dabei, eure Festung von innen heraus aufzurollen, und er sagt kein Wort. Der Kerl ist ja wahnsinnig!«
»Vermutlich«, sagte Charity. »Aber darüber können wir uns später aufregen.« Sie wandte sich an Hartmann. »Was ist mit dem Helikopterlandeplatz? Haben sie ihn schon genommen?«
»Noch nicht.« Hartmann zögerte. »Aber ich weiß nicht, ob ich einen Piloten finde.«
Sie liefen los. Das Grollen der Explosionen hielt an, während sie die gewaltige Höhle durchquerten, und ein paarmal zitterte der Boden unter ihren Füßen so stark, als wolle die gesamte Höhle einstürzten.
Charity schüttelte den Kopf, als Hartmann auf den Aufzug deutete. »Gibt es keine Treppe?«
»Doch«, antwortete Hartmann. »Aber das geht sehr viel...«
»Dann zeigen Sie sie mir«, unterbrach ihn Charity. Hartmann blickte sie an, als zweifele er an ihrem Verstand, wandte sich aber gehorsam nach rechts und lief auf eine Reihe eiserner Sprossen zu, die an der Felswand nach oben führten.
Sie hatten noch nicht ein Drittel der Strecke zurückgelegt, als eine weitere Explosion die Höhle erzittern ließ. Die Motoren des Lastenaufzugs heulten auf, sprühten eine Sekunde lang Funken - und dann stürzte die ganze Kabine in die Tiefe und verwandelte sich in einen wirren Trümmerhaufen. Hartmann starrte abwechselnd sie und die zerstörte Liftkabine an.
Der Helikopterlandeplatz im Krater schien ein paar schwere Treffer abbekommen zu haben, denn alles, was Charity sah, als sie hinter Hartmann aus dem Tunnel gerannt kam, waren schwarze Rauchwolken und ein Himmel, der nicht mehr aus dem körperlosen Flimmern der Holografie bestand, sondern voller Blitze und silbrig schimmernder Flugscheiben war, deren Laserkanonen immer und immer wieder aufflammten.
Charity sah einen schwarzen Schatten aus den Augenwinkeln, fuhr herum und war im gleichen Sekundenbruchteil beinahe froh, unbewaffnet zu sein. Die Gestalt in der zerfetzten Kleidung, die ihr entgegentaumelte, war kein Moroni, sondern einer von Krämers Soldaten.
»Dort!« schrie Hartmann über das Heulen der Gleiter und das unentwegte Donnern der Explosionen hinweg. Er deutete in die Wand aus schwarzem Qualm. »Vielleicht ist eine der Maschinen noch flugfähig!«
Charity blinzelte einen Moment lang angestrengt in die gleiche Richtung, aber sie konnte außer brodelndem Rauch und grellen Flammenzungen nichts erkennen. Trotzdem zögerte sie keine Sekunde, Hartmann zu folgen. Die beiden ersten Maschinen, die aus dem Qualm vor ihnen auftauchten, waren nichts weiter als brennende Trümmerhaufen, aber die dritte schien unbeschädigt zu sein. Hartmann sprang mit einem Satz in den Helikopter, zerrte Charity hinter sich herein und rannte geduckt zum Pilotensitz. Eine Sekunde später stieß er einen wütenden Fluch aus.
»Was ist los?« fragte Charity.
Hartmann deutete mit der geballten Faust auf den Pilotensitz. »Was ich befürchtet habe!« antwortete er. »Wir haben nur drei Maschinen mit Alpha-Steuerung. Und ausgerechnet eine davon müssen wir erwischen!« Er fuhr herum, starrte einen Moment lang verbissen in den brodelnden Qualm hinaus und seufzte. »Versuchen wir, eine andere...«
Charity schob ihn einfach zur Seite, ließ sich in den Pilotensitz fallen und griff nach dem wuchtigen Helm, der auf dem Armaturenbrett lag.
»He!« protestierte Hartmann. »Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun!«
»Ich glaube schon«, antwortete Charity. »Und wenn nicht, dann gehören Sie zu den ersten, die es herausfinden. Setzen Sie sich!« Sie rückte den Helm gerade, schaltete mit der linken Hand die Computerkontrolle des Stealth-Copters ein und deutete mit der anderen auf den Sitz des Copiloten. »Können Sie die Waffenkontrolle übernehmen?«
»Sicher«, antwortete Hartmann verdutzt, »aber...«
Er kam nicht weiter. Charity registrierte aus den Augenwinkeln, wie Skudder und Net hinter ihnen in die Maschine sprangen und die Tür schlössen, und im gleichen Sekundenbruchteil startete sie die Triebwerke. Die Turbinen des Copters heulten schrill auf, die drei sichelförmigen Rotorblätter verwandelten sich in einen wirbelnden Kreis aus aufblitzendem Silber, und die Maschine sprang mit einem Satz in die Höhe.
»Passen Sie bloß auf!« brüllte Hartmann, der sich verzweifelt an seinen Sitz klammerte.
Der Stealth-Copter hob ab, als die Sensoren des Helmes ihre Gehirnwellen auffingen und in elektrische Steuerimpule umwandelten. Es war die alte Idee des Biofeedbacks, die in diesem technischen Wunderwerk zur Perfektion entwickelt worden war - aber wenn das, was dieser Helm tat, tatsächlich das sichtbare Ergebnis ihrer Gehirnwellen war, dachte sie, dann mußte hinter ihrer Stirn ein ganz schönes Chaos herrschen. Der Copter legte sich auf die Seite, schoß in wirren Sprüngen und Kehren nach rechts und links und geriet für einen schrecklichen Moment ins Trudeln, ehe Charity die Kontrolle zurückerlangte.
Ein Gleiter schoß auf sie zu. Charity wich instinktiv aus, verriß die Maschine prompt wieder und hätte sie um Haaresbreite in die Flanke eines zweiten Moron-Schiffes gejagt, das urplötzlich vor ihnen auftauchte.
»Um Gottes willen - bewahren Sie Ruhe!« brüllte Hartmann. »Wenn Sie in Panik geraten, ist es aus!«
»Ich weiß«, murmelte Charity mit zusammengebissenen Zähnen. Die Maschine bockte und hüpfte immer noch wie ein durchgehendes Wildpferd, aber allmählich bekam sie ein wenig Gefühl für die Steuerung. Aber sie wußte auch, daß sie einen gutgezielten Angriff kaum überleben würden. Diese Maschine wurde im Prinzip von Gefühlen gesteuert - und genau das war der Grund, aus dem sich sein Pilot keinerlei Gefühle erlauben durfte.
»In welcher Richtung liegt die Stadt?« fragte sie.
»Norden«, antwortete Hartmann. »Gehen Sie höher. Wir müßten den Dom von hier aus sehen können!«