15


Die Königin tobte. Die Schreie der riesigen Kreatur ließen den Boden zittern und die Ameisen, die sich um sie hatten kümmern wollen, sich wie unter Schlägen ducken. Ihr riesiger, aufgedunsener Hinterleib zuckte und warf sich wild hin und her, wobei er unentwegt weiter Eier ausstieß, wie eine gewaltige, beschädigte Maschine, die nicht mehr in der Lage war, in ihrer Arbeit innezuhalten.

Kyle spürte, daß es nicht nur der körperliche Schmerz war, der dieses Wesen in Raserei versetzte. Es war das erste Mal, daß er einer Königin so nahe gegenüberstand, aber es war nicht das erste Mal, daß er eine von ihnen sah. Und doch unterschied sich diese Königin von allen anderen, die er je zu Gesicht bekommen hatte. In ihren riesigen Facettenaugen loderte eine gewaltige Intelligenz, gepaart mit der Bosheit eines finsteren Gottes.

Es kostete Kyle all seine Kraft, den Blick von den gewaltigen Facettenaugen der Ameisenkönigin zu lösen und einen Schritt zurückzutreten. Im Inneren des zerstörten Domes befanden sich eine Unzahl Jared und Ameisen; in einiger Entfernung gewahrte er die schimmernde weiße Gestalt des Inspektors. Er stand reglos da, aber sein Blick war so unverwandt auf Kyle gerichtet, daß ihm klar war, daß er ihn erkannt hatte. Aus einem Grund, der Kyle unbegreiflich war, hatte er bisher darauf verzichtet, seinen Kriegern Befehl zu geben, ihn anzugreifen.

Langsam drehte der Megamann sich herum und ging zu Gurk zurück, der unter der Tür stehengeblieben war und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Ohren zuhielt. »Wo ist Gyell?« fragte Kyle.

Gurk nahm eine Hand herunter und deutete hinter sich. Seine Lippen bewegten sich, aber Kyle verstand überhaupt nichts. Jeder Laut ging im Kreischen der tobenden Königin unter. Als er der Geste des Zwerges folgte, erkannte er Gyell zwischen höchst aufgeregten Jared.

Während sich Kyle durch das Durcheinander in der Kathedrale auf den Jared zu arbeitete, war er sich die ganze Zeit der bohrenden Blicke des Inspektors bewußt, die jede seiner Bewegung verfolgten. Als er Gyell endlich erreicht hatte, zerrte er ihn unsanft an der Schulter. »Wo ist Helen?!« herrschte er ihn an. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«

Der Jared hob den Arm und schob Kyles Hand mit erstaunlicher Kraft beiseite. »Jetzt nicht«, sagte er.

Er wollte sich wieder herumdrehen, aber Kyle ergriff ihn so fest am Arm, daß jeder andere vor Schmerz aufgeschrien hätte. In Gyells Gesicht zuckte nicht einmal ein Muskel. »Du wirst mir jetzt sofort...«

Gyell berührte ihn beinahe sanft an der Schulter, und ein furchtbarer Schmerz schoß durch Kyles Körper und ließ ihn mit einem Schrei zurücktaumeln. Hilflos sank er zu Boden und kämpfte einen Moment lang mit verzweifelter Kraft gegen die dunklen Schleier, die vor seinen Augen tanzten und sein Bewußtsein verschlingen wollten. Gyells Gestalt begann vor seinen Augen zu verschwimmen, als er den Kopf hob.

»Wir werden für das Mädchen tun, was getan werden muß« sagte Gyell ruhig. »Aber nicht jetzt. Die Königin stirbt.«

»Ich weiß«, stöhnte Kyle. »Aber was hat das mit...«

»Wenn sie stirbt, sterben auch wir«, sagte Gyell.

Kyle blickte ihn verwirrt an.

»Und auch das Mädchen«, fügte der Jared hinzu.

Während der Jared sich herumdrehte und mit ruhigen Schritten zu seinen Brüdern zurückging, plagte sich Kyle taumelnd in die Höhe. In seinem Kopf drehte sich noch immer alles, und er hatte das Gefühl, daß seine Knie das Gewicht seines Körpers kaum zu tragen vermochten.

»Was ist passiert?« fragte Gurk aufgeregt, während er abwechselnd ihn und den Jared anstarrte.

»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Kyle. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Kein Schmerz lähmte ihn, sondern vielmehr das Gefühl von Schwäche. Es war, als hätte der Jared ihm etwas von seiner Lebenskraft geraubt.

»Was ist los mit dir?« wiederholte Gurk seine Frage. Als er auch diesmal keine Antwort bekam, legte er den Kopf in den Nacken und blinzelte nachdenklich zu Kyle empor. »Anscheinend bist du doch nicht ganz so unverwundbar, wie ich dachte.«

»Möglich«, antwortete Kyle einsilbig. Wieder suchte sein Blick den Inspektor. Die riesenhafte, weiße Ameise war näher gekommen und starrte ihn noch immer unverwandt an. Neben den zahllosen Arbeiterinnen, die das zerstörte Kirchenschiff nach Eiern durchsuchten, die den Angriff überlebt hatten, gewahrte Kyle jetzt ein gutes Dutzend Soldaten. Die meisten waren mit Lasergewehren bewaffnet, aber einige trugen auch die kleinen, plump aussehenden Strahlenpistolen, von denen Kyle eine in Paris erbeutet hatte. Ein Schuß aus dieser Waffe würde auch ihn töten.

»Es scheint allmählich brenzlig zu werden«, sagte Gurk neben ihm. Auch er hatte die Soldaten bemerkt. »Ergeben wir uns, oder gehen wir mit fliegenden Fahnen unter?« fragte er spöttisch.

Kyle antwortete nicht. Er hatte das sichere Gefühl, das alles, was jetzt geschah, längst nicht mehr in ihrer Entscheidung lag. Daß die Soldaten ihn bisher nicht angegriffen hatten, lag wahrscheinlich einzig an der gefährlichen Nähe der Königin, in der sie sich aufhielten. Ein einziger fehlgeleiteter Schuß könnte die Kreatur töten.

Unsicher sah Kyle sich nach Gyell um. Der Jared und ein Dutzend seiner Brüder näherten sich vorsichtig der tobenden Königin. Anders als zuvor den Ameisen gestattete sie es ihnen, nahe an sie heranzutreten. Kyle beobachtete mit einer Mischung aus Verwirrung und Faszination, wie die Jared einen Halbkreis um den riesenhaften Kopf des gigantischen Insekts bildeten. Ihre Hände vollführten langsame beschwörende Bewegungen, und Kyle glaubte, ein monotones Summen zu hören.

»Was tun sie da?« flüsterte Gurk.

Kyle achtete nicht auf den Gnom. Auch ihn verwirrte das Tun der Jared zutiefst - aber er glaubte zumindest zu wissen, was die sonderbaren Jared da taten. Zehn Minuten vergingen, in denen Gyell und die anderen einfach reglos da standen, mit den Händen Muster in die Luft zeichneten und dieses unmelodische Summen von sich gaben. Das Toben der Königin beruhigte sich allmählich, aber ihr gigantischer Leib zuckte noch immer vor Schmerz, und der Blick ihrer riesigen Augen wurde trüb.

Schließlich ließen die Jared einer nach dem anderen erschöpft die Arme sinken. Einige brachen kraftlos dort zusammen, einige andere taumelten noch ein paar Schritte zurück, ehe sie sich müde auf den Boden setzten. Auch Gyell wankte mit erschöpften Bewegungen zur Seite und griff blind und haltsuchend um sich. Kyle war mit einem Satz bei ihm und fing ihn auf, ehe er zusammenbrechen konnte. Instinktiv wartete er auf den gleichen, grausamen Schmerz, den er bei Gyells erster Berührung verspürt hatte. Aber diesmal geschah etwas völlig anderes. Für einen Moment hatte er das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen, einen bodenlosen, finsteren Schacht, in dem er all seine Kraft verlor. Dann trafen sich ihre Blicke, und der Jared las den Schrecken in Kyles Augen, und im gleichen Sekundenbruchteil erlosch die saugende Kraft.

»Tu es«, sagte Kyle leise.

Gyells Blick wurde fragend. Du weißt, was es bedeutet?

Kyle antwortete auf die gleiche, lautlose Art, und Gyells Hand schloß sich fester um seine Finger. Erneut spürte er, wie ein Strom unsichtbarer, pulsierender Kraft von ihm auf den Jared überging, wie sein eigener Körper an Stärke verlor, während sich die erschlafften Züge des Jared wieder strafften.

Eine Sekunde, bevor Kyle einfach zusammenbrechen konnte, hörte er auf, und plötzlich war es Gyell, der ihn stützen mußte, damit er nicht fiel.

»Ich danke dir«, sagte Gyell. »Du hast diesen Körper gerettet. Er wäre gestorben.«

Kyle befreite sich mühsam aus seinem Griff und mußte für eine Sekunde seine letzten Energiereserven mobilisieren, um überhaupt noch auf den eigenen Füßen stehen zu können. Gyell wäre gestorben, hätte er ihm nicht geholfen. Kyle mußte nicht einmal den Blick wenden, um zu wissen, daß keiner der anderen Jared noch am Leben war.

»Jetzt geht!« sagte Gyell.

Kyle deutete über die Schulter zurück auf die weiße Gestalt des Inspektors. Die Zahl der Soldaten in seiner Begleitung war auf fast zwei Dutzend angewachsen; sie bildeten eine breite, undurchdringliche Kette zwischen ihnen und dem Ausgang. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre, ihre Front zu durchbrechen - er wußte, daß draußen weitere Soldaten auf sie warteten. »Sie werden es nicht zulassen.«

»Ihr steht unter unserem Schutz«, entgegnete Gyell. »Sie lassen euch gehen.«

»Und ... Helen?«

»Das Mädchen?«

Kyle nickte. Gyell antwortete nicht darauf, aber sein Schweigen war beredt genug.

»Ihr müßt gehen«, sagte Gyell noch einmal. »Sie werden euch nichts tun, solange die Königin lebt. Aber wenn sie stirbt, werden sie auch euch töten.«

»Wäre einer der Herren vielleicht so freundlich, mir zu erklären, worum es überhaupt geht?« mischte sich Gurk ein.

Kyle ignorierte ihn. Sein Blick wanderte zwischen Gyells ausdruckslosem Gesicht, den riesigen, allmählich verlöschenden Kristallaugen der Königin und der kalten, weißen Gestalt des Inspektors hin und her. »Aber es muß einen Weg geben, sie zu retten!« protestierte er.

»Ihre Verletzungen sind zu schwer«, antwortete Gyell mit ausdrucksloser Stimme. Auch der Tod schien dem Jared keine Angst einzujagen. »Geht!« sagte er noch einmal. »Solange wir euch noch schützen können.«

Verwirrt und von einem Gefühl völliger Hilflosigkeit erfüllt, wandte sich Kyle um, machte einen Schritt auf die Front der Ameisen zu und blieb wieder stehen. Wieder glitt sein Blick über den riesigen, zuckenden Leib der Königin, die furchtbaren, tödlichen Verbrennungen auf ihrem Hinterleib und die riesigen Augen, in denen das Leben nur noch als schwacher Funke glomm. Und jetzt endlich begriff er, was die Jared wirklich waren.

Eine faltige Greisenhand ergriff plötzlich seine Finger. »Komm«, sagte Gurk leise. Anders als gewohnt war seine Stimme sanft, fast warm, und auch das spöttische Glitzern war aus seinen Augen verschwunden. Das Mitgefühl, mit dem er Kyle ansah, war nicht gespielt. »Wir können nichts mehr für sie tun.«

»Helen wird sterben«, murmelte Kyle.

Gurk schüttelte ganz sacht den Kopf. »Sie ist schon tot«, sagte er. »Ich weiß, daß es weh tun, aber die Wahrheit tut manchmal weh.«

»Ich ... werde ihr helfen«, sagte Kyle.

Gurk lächelte schmerzlich. »Das kannst du nicht, mein Freund«, sagte er sanft. »Ich weiß, du kannst eine Menge - aber eine Tote wirst auch du nicht erwecken können. Und du hilfst Helen nicht, wenn du dich selbst umbringst.«

Kyle rührte sich nicht. Fast eine Minute lang starrte er den Zwerg an, ohne ihn wirklich zu sehen, dann hob er noch einmal den Blick, sah den Inspektor und die Armee schwarzer, riesiger Ameisen hinter ihm an, und drehte sich dann ganz langsam zu Gyell und der Königin herum. Die Bewegungen der gigantischen Ameise waren fast nicht mehr wahrzunehmen. Eine klare, zähe Flüssigkeit sickerte aus ihrem halbgeöffneten Maul, und ihr gewaltiger Hinterleib hatte aufgehört, unentwegt Eier auszustoßen.

Kyles Blick begegnete Jared. Eine unausgesprochene Frage stand in Gyells Augen, kein Fordern, nicht einmal eine Bitte - nur die bloße Bestätigung, daß es möglich war.

»Vielleicht täuscht du dich, Zwerg«, sagte Kyle endlich, während er langsam an Gyells Seite trat und dann zusammen mit ihm auf die Königin zuging.


*


Die Computerzentrale der Eifel-Basis war kleiner als die Anlage in Paris. Aber hier war der halbrunde Saal mit der riesigen Monitorwand keine tote Gruft, sondern von pulsierendem Leben erfüllt. Die meisten Computerpulte auf der anderen Seite der Glasscheibe waren zwar im Moment unbesetzt, aber nur weil Krämer die meisten Männer hinausgeschickt hatte, als sie angekommen waren. Ansonsten wurde hier an jedem Computer gearbeitet.

Charity ahnte auch, warum sich für sie ein so großes Empfangskomitee eingefunden hatte. Sie waren nicht einfach nur Fremde, die ein Zufall hierhergebracht hatte und die in einigen Tagen wieder verschwinden würden, sondern sie stellten wahrscheinlich die ersten Menschen dar, die jemals von außen in diese Welt aus Beton und Neonlicht eingedrungen waren. Die ersten Überlebenden der großen Katastrophe, die die Männer und Frauen hier unten seit einem halben Jahrhundert zu Gesicht bekamen. Mit einem erschöpften Seufzer fuhr Charity sich mit beiden Händen durch das Gesicht. Ihre Augen brannten vom langen, angestrengten Starren auf den Bildschirm, und wenn sie die Lider schloß, dann sah sie noch immer grüne Leuchtschrift. Sie war ziemlich sicher, daß Krämer mit seiner Vermutung recht hatte. Irgendwo in den unergründlichen Datenspeichern dieser Rechneranlage war etwas verborgen, was für die Moroni entweder von ungeheurer Wichtigkeit - oder ungeheuer gefährlich war. Aber sie wußten nicht was, und solange sie nicht wenigstens einen Anhaltspunkt hatten, war ihre Suche vollkommen aussichtslos.

Plötzlich stand Hartmann neben ihr. »Sind Sie weitergekommen?« fragte er mit einer Geste auf den Monitor.

Charity schüttelte stumm den Kopf, schaltete das Terminal mit einer resignierenden Bewegung aus und drehte sich mit dem Stuhl herum.

»Keinen Schritt«, gestand sie und ballte zornig die rechte Hand zur Faust.

»Ich weiß einfach nicht, wonach ich suchen soll.«

Hartmann sog an seiner Zigarette, hustete und wedelte hektisch mit der Hand vor dem Gesicht in der Luft herum, um den Rauch zu vertreiben. Er stand auf und warf der Klimaanlage unter der Decke einen zornigen Blick zu.

»Irgendwann nehme ich mir eine Handgranate und sprenge das ganze verdammte Ding in die Luft!« versprach er.

»Anscheinend funktioniert hier unten doch nicht alles so einwandfrei, wie Sie gesagt haben.«

»Das verdammte Ding hat noch nie funktioniert. Wie wäre es, haben Sie Lust mit mir ein wenig hinauszugehen? So wie Sie aussehen, müssen Sie totmüde sein.«

Charity sah auf ihre Uhr - und erschrak. Sie hatte mehr als vier Stunden vor dem Computerterminal verbracht. Kein Wunder, daß sie kaum noch in der Lage war, die Augen offenzuhalten. Sie stand auf, warf dem erloschenden Monitor des Terminals einen letzten, fast vorwurfsvollen Blick zu und folgte Hartmann aus dem Raum.

Die Computerzentrale befand sich in einem speziell abgesicherten Raum zwanzig Meter unter der Höhlenstadt. Mit einem Aufzug fuhren sie nach oben und durchquerten einen langen, vollständig kahlen Gang, unter dessen Decke die mißtrauischen Videoaugen einer vollautomatischen Überwachungsanlage ihren Schritten folgten. Obwohl Charity wußte, daß die Computer nur auf nichtautorisierte Eindringlinge ansprechen würden, konnte sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, während sie hinter Hartmann durch den Gang schritt. Sie atmete erst wieder auf, als sie durch die dreifach gesicherte Schleuse nach draußen traten. Obwohl ihr ihre Logik sagte, daß es völliger Unsinn war, hatte sie wirklich das Gefühl, hier draußen freier atmen zu können.

»Sind Sie müde?« fragte Hartmann mit beinah sanfter Stimme.

»Nein, nur enttäuscht«, antwortete Charity.

»Was haben Sie erwartet?«

Charity zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Irgendwie hatte ich wohl die naive Vorstellung, nur ein paar Tasten drücken zu müssen, um auf alles Antworten zu bekommen.«

»Wahrscheinlich haben Sie nur nicht die richtigen Fragen gestellt.«

»Wissen Sie sie denn?«

Hartmann schüttelte den Kopf, griff in die Jackentasche und zündete sich eine neue Zigarette an. »Nein«, sagte er. »Und ich bin nicht sicher, ob ich sie überhaupt wissen will.«

Ein leises, aber durchdringliches Piepen drang aus Hartmanns Brusttasche. Der Leutnant griff in sein Hemd, zog ein rechteckiges Gerät hervor und blickte eine Sekunde lang stirnrunzelnd darauf. Dann drückte er einen Knopf auf seiner Oberseite, und das Piepen verstummte. Charity sah ihn fragend an.

»Mein Herr und Meister ruft«, sagte Hartmann spöttisch.

»Krämer?«

Hartmann nickte. »Ja. Es ist besser, wenn ich gleich hingehe. Begleiten Sie mich?«

Charity zögerte. Sie hatte im Grunde keine Lust, Krämer wiederzusehen, aber die Vorstellung, allein hier zurückzubleiben, gefiel ihr noch viel weniger. Nach einigen Augenblicken nickte sie, und Hartmann drehte sich herum und deutete auf das kleine Gebäude am anderen Ende der Höhle, in dem Krämers Büro lag.

»Wie viele Männer haben Sie hier unten?« erkundigte sich Charity.

Hartmann zögerte, gerade lange genug, daß Charity begriff, daß er nicht sicher war, ob er ihr diese Auskunft wirklich geben durfte. Dann zuckte er ganz sacht mit den Schultern und sagte: »Normalerweise ungefähr sechshundert.«

»Was soll das heißen - normalerweise?«

Hartmann wiederholte sein Achselzucken. »Sechshundert Mann ist die Zahl, die wir brauchen, um diese Station ständig bemannt zu halten«, antwortete er. »Ich habe Ihnen das System doch erklärt - ein Jahr Wache, zehn Jahre Schlaf.«

Charity sah ihn leicht überrascht an. »Sie meinen, Sie haben sechstausend Männer hier unten?«

Hartmann schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind nicht ganz zehntausend.« Er zog eine Grimasse und seufzte hörbar. »Krämer wird mir den Kopf abreißen, wenn er erfährt, daß ich es Ihnen erzählt habe. Aber früher oder später erfahren Sie es ja doch.«

»Zehntausend Mann?! Aber das ist ... eine ganze Armee!«

»Was haben Sie erwartet?« Hartmann lächelte flüchtig. »Das hier ist eine militärische Einrichtung. Sie war ursprünglich dafür gedacht, einen Atomschlag zu überstehen und anschließend als Zentrum des Wiederaufbaus zu dienen.«

»Damit der ganze Wahnsinn von vorn losgeht?«

»Ohne diesen ganzen Wahnsinn«, sagte Hartmann betont, »wären Sie wahrscheinlich nicht mehr am Leben, Captain Laird.«

Sie legten die Hälfte des Weges schweigend zurück, ehe Charity abermals stehenblieb und mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken auf einen der kleinen Elektrokarren blickte, die beständig zwischen den einzelnen Gebäuden hin- und herfuhren. Auf der Ladefläche des kleinen Gefährts erhob sich ein Käfig aus verchromten Gitterstäben, in dem ein braungraues Pelzbündel hockte und sie aus dunklen, haßerfüllten Augen anstarrte.

»Keine Sorge, Miss Laird«, sagte Hartmann amüsiert, dem ihr Schrecken natürlich nicht entgangen war. »Diese Käfige sind völlig ausbruchsicher.«

Verwirrt blickte Charity dem Wagen nach, bis er im Tor einer der großen Hallen verschwunden war, das sich lautlos hinter ihm schloß. Erst dann sah sie Hartmann wieder an.

»Sie haben unsere kleinen Schoßtierchen ja schon kennengelernt«, fügte Hartmann hinzu.

»Ihre - was!« wiederholte Charity verblüfft.

»Vielleicht wäre Ihnen ein anderer Ausdruck lieber.« Hartmann forderte sie mit einer Geste auf weiterzugehen. »Ich hoffe, Sie gehören nicht zu denen, die schreiend auf einen Tisch springen, wenn sie eine Maus sehen. Wir haben nämlich eine ganze Anzahl von diesen kleinen Biestern hier unten.«

»Aber wozu?«

Hartmann seufzte. »Ich sagte Ihnen doch bereits - wir sind ziemlich viele hier unten. Was glauben Sie, wovon wir leben?« Er lachte leise.

»Ich glaube nicht, daß ich ... verstehe, was Sie meinen«, sagte Charity zögernd.

»Sie sind unsere Schöpfung«, entgegnete der Leutnant. »Sie müssen zugeben - sie sind nicht unbedingt hübsch, aber sie sind uns gelungen.«

»Wollen Sie damit sagen, sie haben sie erschaffen!« stieß Charity erschrocken hervor.

»In gewissem Sinne«, sagte Hartmann. »Wir haben sie sozusagen ein wenig verändert. Sie haben gesehen, wie sie sich auf die Biester gestürzt haben, die Sie und Ihre Freunde in dem Kanalisationsschacht angegriffen haben.«

Charity starrte ihn schockiert an. Die Erinnerung an die rasende Wut, mit denen sich die mutierten Riesenratten auf die Kreatur von Moron gestürzt hatten, stand ihr noch deutlich vor Augen. Sie hatte den Haß gefühlt, den die Ratten empfanden, ein Haß von solcher Intensität, daß ihr selbst bei der bloßen Erinnerung daran ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

»Sie haben sie genetisch verändert?«

Hartmann tat so, als müsse er einen Moment über dieses Wort nachdenken. »Fragen Sie mich bitte nicht nach Einzelheiten - aber es läuft darauf hinaus, daß die Biester gar nicht mehr anders können, als alles anzugreifen, was mehr als vier Beine hat und nicht von diesem Planeten stammt.«

»Das ist unglaublich«, murmelte Charity.

»Keineswegs. Ich bin nur ein einfacher Soldat, der außer Schießen nicht besonders viel gelernt hat, aber die Jungs in den Labors behaupten, daß es nicht einmal besonders schwer war. In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr Mutationen aufgetreten. Es muß irgend etwas damit zu tun haben, was sie mit der Erde machen. Einige Spezies haben sich angepaßt, einige sind ganz verschwunden, und die Ratten sind ein bißchen größer geworden. Und ein bißchen schlauer.«

»Hören Sie auf, den Trottel zu spielen!« sagte Charity ärgerlich. »Diese Biester sind intelligent, Hartmann. Und Sie wissen das verdammt gut.«

Hartmann nickte. »Ein Grund mehr, sie auf unsere Freunde aus dem Weltraum abzurichten, finden Sie nicht?«

Sie hatten Krämers Gebäude erreicht, und Hartmann zog eine kleine Ausweiskarte aus Plastik aus der Tasche und schob sie in einen Schlitz neben der Tür, hinter der sie zwei bewaffnete Posten erwarteten. Der Generalmajor erwartete sie in dem kleinen Büro, in dem Charity auch das erste Mal auf ihn getroffen war. Net und Skudder waren bei ihm, und obwohl Krämer und der Hopi ihr Gespräch sofort unterbrachen, als Charity eintrat, hatte sie das sichere Gefühl, in eine Diskussion hineinzuplatzen, die kurz davor stand, in einen Streit auszuarten.

Als er sie erkannte, drehte sich Krämer mit einem Ruck herum, musterte sie kurz und fast feindselig und deutete dann mit einer abgehackten Kopfbewegung auf Skudder. »Captain Laird!« begann er im Befehlston. »Vielleicht würden Sie Ihrem Freund erklären, daß im Moment niemand die Station verlassen kann.«

»Gern«, antwortete Charity nach einem raschen, beruhigenden Blick in Skudders zorngerötetes Gesicht. »Wenn Sie es zuvor mir erklären.«

Krämers Miene verdüsterte sich noch mehr. »Ich glaube nicht, daß jetzt der richtige Moment für Scherze ist, Captain Laird«, antwortete er eisig. »Wir haben verdammt große Probleme, und Sie sind nicht ganz unschuldig daran. Das mindeste, was ich von Ihnen erwarten kann, ist ein wenig Kooperation.«

»Selbstverständlich«, antwortete Charity betont gelassen. »Aber Kooperation beruht immer auf Gegenseitigkeit. Wieso ist alles unsere Schuld? Wir haben nicht darum gebeten, von Ihren Männern entführt zu werden!«

»Das ganze verdammte Land dort draußen befindet sich in Aufruhr!« entgegnete Krämer in scharfem Ton. »Ihretwegen.«

»Und Ihre ganze schöne Station dazu«, sagte Charity.

Krämer erbleichte sichtlich. Einen Herzschlag lang starrte er sie durchdringend an, dann fuhr er herum und wandte sich wütend an Hartmann. »Sie verdammter...«

»Er hat kein Wort gesagt«, unterbrach ihn Charity ruhig.

Krämer blickte sie lauernd an. »Woher wissen Sie dann, was hier geschieht?«

»Man müßte schon ziemlich dumm sein, um nicht zu merken, daß hier irgend etwas nicht in Ordnung ist«, antwortete Charity freundlich. »Was ist passiert?«

Krämer biß sich unentschlossen auf die Unterlippe. Dann sagte er: »Sie haben recht. Wir haben tatsächlich Schwierigkeiten. Es hat mit den Bomben zu tun, die sie geworfen haben.«

Charity sah ihn fragend an, worauf Krämer sich nervös mit der Hand über sein Gesicht fuhr. »Sie sind ein bißchen zu nahe an der Station explodiert.«

»Und?« fragte Charity verwirrt.

»Das hier ist eine militärische Einrichtung, Captain Laird, haben Sie das noch immer nicht begriffen?« fragte Krämer schneidend. »Unter normalen Umständen haben wir hier nur eine Mindestbesatzung, gerade genug, diesen Riesenkomplex vor dem Verfall zu bewahren. Neunundneunzig Prozent der Arbeit wird von Computern verrichtet. Und die reagieren auf eine ganz bestimmte Weise auf einen Angriff mit Nuklearwaffen.«

Charity starrte ihn an. Sie verstand, was Krämer mit diesen Worten sagen wollte - aber es dauerte volle zehn Sekunden, bis sie wirklich begriff, was sie bedeuteten. Ein eisiger, ungläubiger Schrecken machte sich in ihr breit.

»Das hier ist nicht nur eine Überlebensstation, nicht wahr?« fragte sie mit leiser, fast tonloser Stimme.

Krämer antwortete nicht, aber Charity wußte, daß sie recht hatte.

»Sie können alles andere, als sich bloß zu verteidigen, Krämer! Und Ihre verdammten Computer haben einen Gegenschlag ausgelöst!«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Krämer. »Wir haben die...«

»Wovon redet ihr?« mischte sich Skudder ein. Seine Stimme klang alarmiert.

Charity drehte sich fast zornig zu ihm herum. Anklagend deutete sie mit der Hand auf Krämer.

»Davon, daß uns diese Idioten um ein Haar alle in die Luft gesprengt hätten! Wenn sie es nicht noch tun!«

»Ich sagte bereits«, unterbrach sie Krämer scharf, »daß wir das Programm gestoppt haben.«

»Oh, wie beruhigend!« sagte Charity sarkastisch. »Lief der Countdown für die Raketen schon?«

»Ich habe diese Anlage nicht entworfen!« verteidigte sich Krämer.

»Nein!« antwortete Charity aufgebracht.

»Aber Sie hätten es bestimmt mit Freuden getan, wenn Sie gekonnt hätten, nicht wahr?«

Sie machte eine wütende Handbewegung. »Allmählich beginne ich mich zu fragen, wieso wir uns nicht schon hundertmal selbst in die Luft gesprengt haben, bevor Sie gekommen sind.«

»Ich sagte bereits zweimal - wir haben das Programm gestoppt«, sagte Krämer zornig. »Es ist absolut nichts passiert.«

»Dann verstehe ich nicht, worüber Sie sich aufregen.«

»Die Raketen wurden nicht gestartet«, sagte Krämer. »Aber die ganze Basis befindet sich in Alarmbereitschaft. Ich bin nicht sicher, ob Sie begreifen, was das bedeutet. Wir haben über zehntausend Soldaten hier, Eliteeinheiten, die sich im Tiefschlaf befinden. Und die sind gerade dabei aufzuwachen.«

»Und wo ist das Problem?« erkundigte sich Skudder.

Krämer maß ihn mit einem Blick, als zweifele er an seinem Verstand, aber Hartmann kam ihm mit der Antwort zuvor.

»Wir haben weder den Platz noch die nötigen Vorräte, um eine so große Zahl von Männern länger als einige Tage zu beherbergen«, sagte er ruhig.

»Dann schalten Sie Ihre Computer ab und lassen Sie sie weiterschlafen«, schlug Skudder vor.

Hartmann schüttelte beinahe traurig den Kopf.

»Das geht nicht«, sagte er. Er zögerte einen Moment, wobei er Krämer einen Blick zuwarf, als müsse er sich seine Erlaubnis einholen, weiterzureden. »Sehen Sie, Captain Laird, diese Soldaten befinden sich nicht in Schlafanks, wie Sie oder ich oder die Männer, die Dienst in den Horchstationen draußen tun. Sie wissen, wie kompliziert und aufwendig die Winterschlaftechnik ist. Es wäre völlig unmöglich gewesen, ausreichend Geräte für eine so große Anzahl von Menschen bereitzustellen. Wir benutzen eine andere Technik. Bitte ersparen Sie mir, Ihnen zu erklären, wie sie funktioniert - genau weiß ich es selbst nicht. Aber sie ist riskant. Nicht alle von ihnen werden wieder aufwachen. Und wir haben nicht die Möglichkeit, sie erneut in Tiefschlaf zu versetzen.«

»Das heißt, wenn diese Männer einmal wach sind, bleiben sie es auch«, sagte Charity. »Im Klartext: Sie haben sie am Hals.«

»Wenn das alles wäre...« sagte Hartmann leise.

»Was soll das heißen?« fragte Net.

Krämer atmete hörbar aus. »Zeigen Sie es ihnen Hartmann«, sagte er.

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