3. KAPITEL


»Aber das ist doch ... unmöglich«, murmelte er fassungslos. »Du bist eine ...?«

Robin hatte keine andere Wahl mehr. Ihr blieb keine Zeit, den Dolch zu ziehen oder den Plünderer auf eine andere Weise zum Schweigen zu bringen. Mit einer Bewegung, in die sie jedes bisschen Kraft legte, das sie noch in sich fand, ließ sie seinen Kragen los, rammte ihm den Ellbogen gegen den Adamsapfel und zermalmte ihn. Guys Worte endeten in einem grässlichen Gurgeln. Seine Augen wurden noch größer, und eine Art von Entsetzen erschien darin, wie Robin es selten zuvor erblickt hatte.

Er starb, aber er starb nicht schnell. Robin ließ ihn endgültig los, stand mit einer fließenden Bewegung auf und wich zugleich zwei Schritte vor ihm zurück. Guy rang mit grässlichen, würgenden Lauten nach Luft, bäumte sich auf und schlug beide Hände gegen die Kehle, versuchte mit verzweifelter Anstrengung zu atmen und konnte es nicht.

Er begann mit den Beinen zu strampeln. Immer grässlichere, würgende Laute kamen über seine Lippen, während sich sein Gesicht allmählich blau färbte und seine Bewegungen schwächer zu werden begannen. Stirb endlich!, dachte Robin fast verzweifelt. Warum stirbst du nicht? Sie hatte seinen Tod nicht gewollt. Sie wollte ihn nicht einmal jetzt, aber - zumindest in diesem Moment - war der Anblick seiner schrecklichen Todesqual fast schlimmer als der Gedanke, ihn getötet zu haben. Wahrscheinlich ging es in Wahrheit recht schnell; wenige Augenblicke, bevor Guys Bewegungen endgültig erlahmten, sein Kopf zurücksank und seine Augen brachen. Robin kam es vor wie eine Ewigkeit. Und sie fragte sich, ob sie den Ausdruck auf seinem Gesicht jemals wieder ganz vergessen konnte.

»Eine saubere Arbeit«, sagte eine Stimme hinter ihr. Robin drehte sich langsam um und sah, wie Dariusz fast gemächlich herbeigeschlendert kam. Er hatte die Handschuhe ausgezogen und applaudierte spöttisch. »Eine etwas eigenwillige Methode, einen Mann zu töten, aber eine sehr effektive, wie ich zugeben muss. Allem Anschein nach habt Ihr doch das eine oder andere von Euren neuen Freunden gelernt, Bruder Robin.«

»Wie meint Ihr das?«, erkundigte sich Robin. Der Klang ihrer eigenen Stimme schien wie die einer Fremden in ihren Ohren. Sie hatte Mühe, überhaupt zu sprechen, geschweige denn, sich auf Dariusz’ Worte zu konzentrieren. Alles in ihr war in hellem Aufruhr. Fast beiläufig spürte sie, dass ihr Turban verrutscht war, aber nicht einmal dieser Gedanke drang wirklich in ihr Bewusstsein. Sie fühlte sich unendlich schuldig. Der Plünderer war gewiss nicht der erste Mann, den sie getötet hatte, und er gehörte ebenso gewiss zu jenen, die es wahrscheinlich am meisten verdient hatten - und doch: Sie kam sich wie eine Mörderin vor. Und zumindest in ihren eigenen Augen war sie es auch, denn es gab einen Unterschied zwischen dem Tod dieses Mannes und dem aller anderen, die bisher von ihrer Hand gefallen waren. Es waren Feinde gewesen. Feindliche Soldaten, Attentäter oder Mörder, Männer, die ihr in einer Schlacht gegenübergetreten waren oder ihr selbst nach dem Leben getrachtet hatten. Sie hatte jeden Einzelnen von ihnen töten müssen, um selbst am Leben zu bleiben. Diesen Mann hatte sie getötet, um ihn zum Schweigen zu bringen, nicht, um unmittelbar ihr Leben zu verteidigen. Und auch Dariusz’ Worte bekamen in ihren Ohren einen vollkommen neuen, grausamen Sinn. Robin verspürte ein einziges Frösteln, als ihr erst jetzt klar wurde, wie kalt, präzise und berechnend sie den Plünderer getötet hatte.

»Aber Ihr habt mir doch selbst erzählt, dass Ihr Gast auf der Burg des Assassinenfürsten seid«, antwortete Dariusz in einem Tonfall leiser Überraschung, von dem Robin nicht sicher sein konnte, ob er echt oder geschauspielert war. »Und man sagt doch, dass die Assassinen Meister in der Kunst sind, lautlos und ohne Waffen zu töten.«

Robin hob wortlos die Schultern und wandte sich wieder zu Guy um. Seine weit offen stehenden, leeren Augen schienen sie noch immer vorwurfsvoll anzustarren. Nein, dachte sie, sie würde diesen Blick niemals mehr vergessen.

»Ich hätte ihn nicht töten müssen, hättet Ihr Eure Männer nicht zurückgehalten«, sagte sie bitter. Es war nur ein Schuss ins Blaue, doch Dariusz versuchte erst gar nicht, irgendetwas zu leugnen.

»Aber ich bitte Euch, Bruder Robin«, antwortete er, nun mit überhaupt nicht mehr sanftem, sondern ganz eindeutig beißendem Spott in der Stimme. »Ein so gut ausgebildeter und kampferprobter Ritter wie Ihr wird doch wohl keine Probleme haben, mit einem dahergelaufenen Stück Dreck fertig zu werden. Ich wollte Euch nicht beleidigen.«

»Er war ein Mensch, Bruder Dariusz«, sagte Robin leise. »Kein Stück Dreck.«

»Ganz, wie Ihr meint«, sagte Dariusz verächtlich. »Und wie es aussieht, sogar ein Christ. Wenngleich einer von denen, auf die ein wahrer Christenmensch gewiss nicht stolz ist. Dennoch wollen wir ihm ein anständiges Begräbnis gewähren.« Er winkte den Männern zu, die den Plünderer zuvor niedergehalten hatten.

»Verbrennt ihn. Und die beiden anderen Leichen gleich mit.«

Robin fuhr abermals herum und sog scharf die Luft ein. Lodernde Wut explodierte regelrecht in ihr, und vielleicht hätte sie etwas sehr Dummes getan, wenigstens aber gesagt, wäre nicht in diesem Moment vom anderen Ende des Dorfplatzes her ein schriller Schrei erklungen. Robin drehte erschrocken den Kopf, und ihr Herz machte einen Satz in ihrer Brust, als sie Nemeth erkannte, die mit weit ausgreifenden Schritten und schreckensbleichem Gesicht auf sie zugerannt kam. Ihre Mutter lief mit wehenden Kleidern hinter ihr hier, aber sie war viel zu langsam, um das Mädchen einzuholen.

»Robin!«, schrie Nemeth. Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Hat er dir etwas getan?«

»Eine Freundin von Euch?«, fragte Dariusz amüsiert.

Robin verschwendete keine Zeit damit, ihm zu antworten, sondern eilte Nemeth und ihrer Mutter so schnell entgegen, wie es gerade noch ging, ohne wirklich zu rennen. Sie hörte, wie Dariusz ihr folgte, aber langsamer, und beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Ihr Herz raste. Nemeth schrie immer noch aufgeregt ihren Namen und rannte auf sie zu, wild mit beiden Armen fuchtelnd und die blanke Angst im Gesicht. Verzweifelt versuchte sie, Nemeth mit Blicken zu signalisieren, dass sie um Himmels willen den Mund halten sollte, aber das Mädchen war viel zu aufgeregt, um ihre Blicke auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

»Hat er dir etwas getan?«, sprudelte Nemeth hervor. »Ich habe alles gesehen! Er hat nicht fair gekämpft! Er hätte dich beinahe ...«

»Jetzt ist es aber genug!« Endlich war Saila heran, und sie fackelte nicht lange, sondern zerrte Nemeth grob an der Schulter zurück und fuhr ihr in scharfem Ton über den Mund, noch bevor Nemeth auch nur ein weiteres Wort sagen konnte: »Du dummes Kind! Was fällt dir ein, so respektlos mit unserem Herrn zu sprechen? Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nur mit ihm zu reden hast, wenn er dich direkt anspricht? Willst du uns alle ins Unglück stürzen? Unser Herr hat wahrlich Besseres zu tun, als sich mit dem Geschwätz eines dummen Kindes zu beschäftigen!«

Nemeth blinzelte und sah ihre Mutter einen Moment lang vollkommen verständnislos an, aber Robin warf ihr einen raschen, dankbaren Blick zu. Sie verbiss es sich, auch nur ein einziges Wort zu sagen, aber Saila musste ihr die Erleichterung deutlich ansehen, denn sie signalisierte ihr ein rasches, lautloses Nicken und fuhr dann in unverändertem Ton an ihre Tochter gewandt fort: »Geh ins Haus, und zwar sofort! Bereite eine Mahlzeit für den Herrn und seine Gäste vor, und untersteh dich, nicht nur das Beste aufzutragen!«

»Aber ich wollte doch nur ...«, begann Nemeth verdattert, kam aber auch diesmal nicht dazu, ihren Satz zu Ende zu bringen.

»Hast du mich nicht verstanden?«, fuhr sie Saila an. »Mach, dass du ins Haus kommst! Über deine Strafe sprechen wir später!«

Einen Herzschlag lang starrte das Mädchen seine Mutter noch vollkommen fassungslos an, aber in deren Augen war plötzlich ein so zorniges Funkeln, dass sie es nicht mehr wagte, auch nur noch einen Laut von sich zu geben, sondern Robin nur noch einen hilflosen Blick zuwarf und sich dann wie der berühmte geprügelte Hund trollte. Saila sah ihr einen Moment lang mit perfekt geschauspielerter Strenge nach, ehe sie sich mit demütig gesenktem Kopf wieder zu Robin umdrehte.

»Ich bitte Euch, verzeiht das ungebührliche Benehmen meiner Tochter«, sagte sie leise. »Sie ist ein Kind und weiß es nicht besser.«

»Schon gut«, antwortete Robin. »Ich bin sicher, es war nur die Sorge um mich, die sie ihr gutes Benehmen vergessen ließ.« Sie machte eine übertrieben verzeihende Geste. »Jetzt geh und hilf deiner Tochter. Ich bin tatsächlich ein wenig hungrig, und wir haben hohe Gäste.« Sie wandte sich zu Dariusz um, der in zwei Schritten Entfernung stehen geblieben war und die Szene mit undeutbarem Gesichtsausdruck verfolgte. »Ihr bleibt doch zum Essen? Ihr müsst einen anstrengenden Weg hinter Euch haben.«

»Und einen noch anstrengenderen vor uns«, sagte Dariusz.

»Aber unsere Zeit ...«

»... ist knapp bemessen, ich weiß«, unterbrach ihn Robin. Sie lächelte flüchtig. »Aber ich weiß, wie die Feldrationen aussehen, und ich weiß noch besser, wie sie schmecken.« Ohne Dariusz’ Antwort abzuwarten, wandte sie sich mit einer entsprechenden Geste an Saila. »Geh jetzt. Und mach uns keine Schande.«

»Wie Ihr befehlt, Herr«, sagte Saila. Rückwärts gehend und mit gesenktem Kopf entfernte sie sich ein paar Schritte, ehe sie sich umdrehte und dann mit schnellen Schritten davoneilte.

Dariusz sah ihr mit gerunzelter Stirn nach. »Ein hübsches Weib«, sagte er kopfschüttelnd. »Wer ist sie?«

»Niemand«, antwortete Robin betont gleichgültig. »Nur eine Dienerin.«

»Eure Dienerin?«

»Zumindest so lange, wie ich Sheik Sinans Gast bin«, erwiderte Robin.

»Und ich nehme an, sie liest Euch jeden Wunsch von den Lippen ab«, fügte Dariusz mit einem flüchtigen, aber unverhohlen schmutzigen Lächeln hinzu.

»Wie es einer guten Dienerin eben ansteht«, sagte Robin ungerührt. »Aber nun kommt, Bruder Dariusz. Auch wenn Ihr wenig Zeit habt, so ist es doch sicher auch für Euch angenehmer, sie in der Kühle des Hauses und bei einer guten Mahlzeit zu verbringen.« Sie schüttelte rasch und heftig den Kopf, bevor Dariusz auch nur die Gelegenheit fand zu antworten. »Ich werde ein Nein nicht akzeptieren, Bruder Dariusz. Nach allem, was Ihr für mich und die guten Leute hier im Dorf getan habt, ist eine kräftige Wegzehrung wohl das Mindeste, was ich Euch als Dank anbieten kann.«

Dariusz sah sie auf sonderbare Weise nachdenklich an, eine Art der Nachdenklichkeit, die Robin nervös machte. Sie konnte es sich nicht wirklich erklären, hatte aber dennoch das nahezu sichere Gefühl, schon wieder einen Fehler gemacht zu haben.

Der grauhaarige Tempelritter ließ weitere, endlose Sekunden verstreichen, in denen er sie unverwandt und auf dieselbe, seltsame Art ansah, aber schließlich nickte er. »Warum eigentlich nicht«, murmelte er. »Gott wird es mir kaum als sündhafte Völlerei auslegen, endlich einmal wieder an einem richtigen Tisch zu sitzen und von einem richtigen Teller zu essen. Doch wir müssen in längstens einer Stunde aufbrechen, Bruder Robin. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Eine Stunde genügt«, behauptete Robin. »Ihr werdet sehen, dass Saila eine wahre Künstlerin der Improvisation ist. Sie zaubert in einer Stunde ein Festmahl, das andere nicht an einem Tag fertig bringen.« Sie lächelte, doch als sie Dariusz’ Blick begegnete und das irgendwie verwirrt wirkende Stirnrunzeln auf seinem Gesicht sah, erlosch ihr Lächeln wie eine Kerze, die von einem Luftzug ausgeblasen wird, und sie wandte sich fast hastig um und deutete in die Richtung, in der Saila und ihre Tochter verschwunden waren. Sicher war es nur Einbildung. Sie war übernervös, und Dariusz’ fragender Blick mochte tausend andere Gründe haben - und dennoch nahm sie sich vor, in seiner Nähe nicht mehr so oft zu lächeln.

Unter dem Turban war von ihrem Gesicht nicht allzu viel zu erkennen, und es war zudem lange her, dass Dariusz sie das letzte Mal gesehen hatte. Robin hatte sich in der Zwischenzeit deutlich verändert. Es kam selten vor, dass sie sich selbst im Spiegel oder auf einer spiegelnden Wasseroberfläche sah, doch in letzter Zeit fielen ihr die Veränderungen immer deutlicher auf. Sie war älter geworden; deutlich älter, als es allein anhand der verstrichenen Monate der Fall hätte sein dürfen. Ihre Haut hatte einen dunkleren, fast schon ein wenig kupferfarbenen Ton angenommen, und die leise Strenge, die immer in ihren Zügen gelegen hatte, hatte sich im Nachhinein als die Spur der Entbehrungen und Strapazen herausgestellt, aus denen ihr Leben vor ihrer Ankunft in diesem Land bestanden hatte.

Während der Monate, die sie zusammen mit Dariusz, Bruder Abbé und den anderen Tempelrittern durch Europa bis Genua geritten war, war sie als sehr junger Mann mit sehr weichen Zügen durchgegangen; eine Rolle, die sie perfekt zu spielen gelernt hatte - schließlich hatte ihr Leben davon abgehangen, dass niemand ihre Maske durchschaute - und die sie zudem durch ein entsprechendes, manchmal bewusst rüdes Auftreten noch glaubhafter gestaltet hatte.

Aber seither war Zeit vergangen. Das gute Leben, das sie führte, hatte die Spuren des Hungers, der Kälte und der übermäßigen körperlichen Anstrengungen und schweren Arbeit fast vollkommen aus ihrem Gesicht getilgt. Robin machte sich klar, dass sie es einzig Dariusz’ Erinnerung zu verdanken hatte, dass er in ihr immer noch den jungen Mann sah, als den er sie kennen gelernt hatte. Wären sie sich nicht auf dem Weg nach Italien und auf dem Schiff begegnet, er hätte möglicherweise sofort die Frau in ihr gesehen. Vielleicht zweifelte er schon jetzt. Und sie erinnerte sich plötzlich zu gut an die vielen Gelegenheiten, bei denen Salim nicht müde geworden war, ihr zu versichern, wie sehr er ihr Lächeln liebte und wie schön er sie in diesen Momenten fand.

»Ihr sagt, Ihr seid auf Sheik Sinans Burg gewesen?«, erkundigte sich Dariusz, während sie gemessenen Schrittes nebeneinander hergingen.

Robin war sich sicher, dass diese Frage nicht bloße Konversation war. Dariusz wollte auf etwas ganz Bestimmtes hinaus. »Ja«, sagte sie. »Seit einigen Monaten bereits. Warum fragt Ihr?«

Obwohl sie nicht in seine Richtung sah, blieb ihr Dariusz’ Schulterzucken nicht verborgen. »Ich frage mich«, antwortete Dariusz, »warum Ihr nicht längst mit uns Kontakt aufgenommen habt, Bruder.«

»Manchmal frage ich mich das selbst«, gestand Robin und versuchte ihrerseits, ein verlegenes Achselzucken zu schauspielern. Ihre Gedanken überschlugen sich. Dariusz fragte ganz bestimmt nicht nur aus purer Neugier. Er wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. »Sheik Sinan ist ein außergewöhnlich großzügiger Gastgeber«, sagte sie betont vorsichtig. »Und ich war in keinem besonders guten Zustand, als er mich aus der Sklaverei freigekauft hat. Um ehrlich zu sein - ich war mehr tot als lebendig. Es hat lange gedauert, mich von den Strapazen zu erholen.«

»Die Gastfreundschaft des Alten vom Berge schätzen zu lernen ging ganz offensichtlich schneller«, antwortete Dariusz.

»Oder liegt es an Eurer ... Dienerin?«

Robin überhörte den anzüglichen Ton in seiner Stimme ganz bewusst und wurde ein wenig langsamer; schon um Saila Gelegenheit zu geben, noch einmal mit ihrer Tochter zu reden. Dabei wusste Robin durchaus, dass Nemeth ihre kleinste Sorge darstellte. Das Mädchen war intelligent und alt genug, um die Situation zu begreifen, und Robin war sich nur zu bewusst, dass sie sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen konnte. Aber inwieweit galt das für alle anderen Einwohner des Dorfes? Jedermann hier wusste, dass sich unter dem Kettenhemd, das sie trug, eine Frau verbarg, auch wenn sie sich nur zu oft einen Spaß daraus machte, sich wie ein Mann zu benehmen. Und Dariusz hatte über hundert Begleiter mitgebracht. Wenn auch nur ein einziger von ihnen mit den Dörflern redete, auch nur eine einzige, falsche Frage stellte, dann war alles vorbei.

Saila trat ihnen aus dem Halbdunkel entgegen, als sie das Haus betraten. Von Nemeth war keine Spur zu sehen, was Robin trotz allem bedauerte, und die dunkelhaarige Dienerin hatte ihr Kopftuch abgelegt, sodass man ihr langes, bis weit über die Schultern fallendes, schwarzes Haar sehen konnte. Robin musste sich bekümmert eingestehen, dass Dariusz vollkommen Recht hatte. Beileibe nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, was für eine wirklich schöne Frau Saila war.

»Ich habe den Tisch für Euch und Euren hohen Gast im Hof gedeckt, Herr«, sagte Saila mit einem angedeuteten Kopfnicken und einer einladenden Geste. »Meine Tochter wird Euch gleich zu trinken bringen.«

»Gut«, antwortete Robin. »Aber danach lasst uns bitte allein. Bruder Dariusz und ich haben sicherlich eine Menge zu besprechen.«

Saila nickte noch einmal, wiederholte ihre einladende Geste und entfernte sich dann mit schnellen Schritten. Dariusz sah ihr eindeutig bewundernd hinterher.

»Ich muss Euch Abbitte tun, Bruder Robin«, sagte er. »Habe ich vorhin gesagt, sie wäre hübsch? Das stimmt nicht. Sie ist eine wahre Blume des Orients.« Sein Lächeln wurde wieder ganz eindeutig anzüglich. »Sheik Sinan weiß tatsächlich, was er seinen Gästen schuldig ist.«

Robin blickte ihn so kühl an, wie sie konnte. »Ich verstehe nicht genau, was Ihr meint, Bruder.«

Dariusz’ Grinsen wurde nur noch breiter. Saila hatte das Zimmer mittlerweile verlassen, und er drehte sich einmal um sich selbst und sah sich dabei unverhohlen neugierig um. »Es scheint Euch ja nicht schlecht gegangen zu sein, in den letzten Monaten, Bruder«, sagte er. »Für einen freigekauften Sklaven.«

»Das hier ist nicht mein Haus«, antwortete Robin, nun in ganz leicht verärgertem Ton. »Es gehört Sheik Sinan. Die Dorfbewohner halten es bereit, falls er oder einer seiner Männer hierher kommen.«

»Und wo sind sie jetzt?«, fragte Dariusz.

»Wer?«

»Sinans Männer«, antwortete der Tempelritter. »Ihr habt mir gerade erzählt, Ihr wärt zusammen mit ihnen auf der Suche nach den Plünderern gewesen. Ich war der Meinung, sie hier anzutreffen.«

»Wären Sinans Assassinenkrieger hier gewesen«, antwortete Robin fast sanft, »so hättet Ihr und Eure Männer nicht eingreifen müssen, Dariusz. Sechs von ihnen sind mehr als genug, um mit einem Dutzend dieser Halsabschneider fertig zu werden.«

»Das beantwortet nicht meine Frage«, sagte Dariusz. »Wo sind sie?«

»Sie sind den Spuren der Plünderer in die Wüste hinaus gefolgt«, antwortete Robin. »Vielleicht eine Stunde, bevor Ihr und die Euren gekommen seid.«

»Ohne Euch?«

»Ich wollte sie begleiten«, antwortete Robin. »Aber mein Pferd hat gelahmt.« Sie hob die Schultern und deutete ein verlegenes Lächeln an. »Darüber hinaus muss ich gestehen, dass ich wohl auch mit einem gesunden Pferd Mühe gehabt hätte, mit ihnen mitzuhalten. Die Assassinen reiten wie der Teufel.«

»Ja«, antwortete Dariusz. »Das hat man mir auch erzählt. Umso mehr erstaunt es mich, dass Ihr Euch mit ihnen eingelassen habt.«

»Von ihnen gekauft zu werden, Bruder Dariusz«, antwortete Robin ärgerlich, »ist wohl kaum das, was man unter Sich-mit-jemandem-Einlassen versteht.«

Einen Herzschlag lang war sie sicher, den Bogen überspannt zu haben. Trotz des schwachen Lichts hier drinnen konnte sie sehen, wie sich Dariusz’ Gesicht verfinsterte und es in seinen Augen wütend aufblitzte. Dann aber riss er sich sichtbar zusammen und schüttelte nur den Kopf. »Ich vermute, es war keine sehr angenehme Erfahrung. Aber das ist ja nun vorbei.« Er sah sich weiter unverhohlen neugierig in dem kaum möblierten, aber großzügigen Raum um, und schließlich blieb sein Blick auf Robins Wappenrock hängen, der sauber zusammengefaltet auf der Bank neben der Tür lag. »Ich sehe, dass Ihr die Insignien unseres Ordens immer noch in Ehren haltet. Das freut mich. Trotzdem frage ich mich, warum Ihr den Rock vorhin nicht getragen habt, sondern die Kleider der Einheimischen vorzieht.«

»Weil sie sehr praktisch sind«, antwortete Robin. Sie fühlte sich immer unsicherer. Obwohl sie auf der einen Seite der Meinung war, bisher alles richtig gemacht zu haben, hatte sie gleichzeitig das Gefühl, sich mit jedem Wort tiefer in ein Gespinst aus Halbwahrheiten, Lügen und durchsichtigen Ausflüchten zu verstricken, das Dariusz einfach durchschauen musste. Vielleicht hatte er es längst. Vielleicht hatte er die Wahrheit schon vor seinem Eintreffen hier gewusst und spielte nur ein grausames Spiel mit ihr. »Und ich war etwas in Eile, als ich das Haus verließ«, fügte sie, nun bewusst leicht spöttisch, hinzu.

»Ja, das kann ich verstehen«, antwortete Dariusz im selben Ton. »Aber das beantwortet nicht die Frage, warum Ihr den Rock überhaupt ausgezogen habt.« Er sah kurz Robin an, dann etwas länger in die Richtung, in der Saila verschwunden war.

»Ich war schwimmen«, antwortete Robin kühl. »Ich weiß ja nicht, wie Ihr es haltet, Bruder Dariusz, aber ich pflege nicht in voller Rüstung ins Meer zu steigen. Es schwimmt sich schlecht mit einem Zentner Eisen am Leib.«

Einen Moment lang starrte Dariusz sie so unverhohlen misstrauisch an, dass Robin fast in Panik zu geraten drohte. Dann aber lachte er. »Ihr habt natürlich Recht, Bruder. Und wer bin ich, Euch Vorwürfe oder gar Vorschriften machen zu wollen?« Er wedelte mit der Hand, wie um jedem denkbaren Widerspruch schon von vornherein zuvorzukommen. »Aber lassen wir das. Nun habe ich Euch ja wiedergefunden. Wie war das mit Eurer Einladung zum Festmahl?«

Robin deutete auf den Durchgang zum Hof. Saila hatte in den wenigen Minuten, die ihr geblieben waren, tatsächlich so etwas wie ein kleines Wunder vollbracht. Im Schatten des Aprikosenbaumes stand jetzt ein niedriger Tisch, auf dem hölzerne Teller und Schalen voller Fladenbrot, Fisch und Oliven, Gemüse und Obst arrangiert waren, dazu ein gewaltiger Krug, in dem sich vermutlich der stark verdünnte Wein befand, den man hierzulande Gästen anbot, und zwei einfache, schmucklose Becher. Saila hatte sogar noch die Zeit gefunden, ein Stück Segeltuch als Schutz vor den immer noch unbarmherzig herabbrennenden Strahlen der Sonne über den Tisch zu spannen, und Dariusz nickte nicht nur anerkennend, sondern ließ sich mit einem deutlich hörbar erleichterten Seufzer auf einen der beiden Stühle sinken. Das Möbelstück ächzte unter dem Gewicht seiner massigen Gestalt, was Dariusz aber nicht weiter zu stören schien. Er lehnte sich im Gegenteil zurück und streckte die Beine aus. »Das tut gut. Ich habe schon fast vergessen, wann ich das letzte Mal auf einem Stuhl gesessen habe und nicht im Sattel eines Pferdes oder auf nacktem Boden.«

»Wie lange seid Ihr jetzt unterwegs?«, erkundigte sich Robin. Es interessierte sie nicht im Mindesten. Aber die Stunde, von der Dariusz gesprochen hatte, war noch lange nicht vorbei, und eine Stunde war eine entsetzlich lange Zeit, um Fragen zu stellen und die falschen Antworten darauf zu geben. Vielleicht war es besser, wenn sie ihn fragte, statt ihrerseits seine Fragen zu beantworten. Robin verfluchte sich jetzt schon in Gedanken für die Geschichte, die sie ihm gerade aufgetischt hatte. Sie hielt sich zwar über weite Strecken an die Wahrheit, entfernte sich aber zugleich auch viel zu weit von ihr, als dass sie sich ernsthaft einbilden konnte, auf Dauer damit durchzukommen.

»Viel zu lange«, seufzte Dariusz. »Nur gut, dass wir den größten Teil der Strecke jetzt hinter uns haben.« Er richtete sich wieder auf, goss sich einen Becher Wein ein und leerte ihn mit einem einzigen, gierigen Zug fast zur Hälfte. Bevor er ihn wieder auf den Tisch zurückstellte und mit der anderen Hand nach dem Fladenbrot griff, um sich ein gewaltiges Stück davon abzubrechen, füllte er ihn erneut. »Nun«, begann er, »Ihr habt natürlich Recht, Bruder Robin. Ich bin es Euch wohl schuldig, Euch über den Grund unseres Hierseins aufzuklären.«

Robin nickte stumm. Ihr ungutes Gefühl verstärkte sich.

»Meine Begleiter und ich haben uns mit einer Gesandtschaft des Ordens in Latakia getroffen«, begann Dariusz und sah sie zugleich fragend an. Robin kramte einen Moment lang in ihrem Gedächtnis und nickte dann. Sie hatte dieses Wort zumindest schon einmal gehört. »Bohemund, der Fürst von Antiochia, hatte sich als Vermittler in unserem Streit mit den habgierigen Johannitern angeboten.«

»Dieser alberne Streit ist immer noch nicht beigelegt?«, erkundigte sich Robin fast beiläufig.

Dariusz schüttelte den Kopf und biss fast wütend in das Brot.

»Nein«, antwortete er kauend. »Und ich fürchte, es wird auch noch eine Weile dauern, bis wir uns darum kümmern können. Die Verhandlungen hatten noch nicht einmal begonnen, als uns Herzog Ferdinand von Falkenberg die Nachricht von einem Überfall der Sarazenen auf den König zukommen ließ.«

Robin musste ihr Erschrecken nicht einmal schauspielern.

»König Balduin?«

Dariusz nickte bekümmert. »Ja. Es war eine Falle. Der König wäre gewiss in Gefangenschaft geraten, aber Gott war auf seiner Seite.«

»Gott, oder ...?«, fragte Robin.

»In Gestalt Humfried von Toron«, bestätigte Dariusz mit einem angedeuteten Lächeln, »der gerade im rechten Moment erschien und ihn tapfer verteidigte. Seither belagert Saladin Humfrieds Burg an der Jakobsfurth, und König Balduin hat alle Ritter des Königreiches und der Fürstentümer Tripolis und Antiochia aufgerufen, sich unter unserer Fahne zu versammeln, um gegen Saladin zu ziehen.« Er sah Robin mit schlecht gespieltem Erstaunen an. »Ich bin ein wenig überrascht, dass Ihr nichts davon gehört habt, Bruder.«

Robin blickte Dariusz alarmiert an. Sie spürte, dass er nun zum Thema kam. »Sinans Burg liegt ...«, sie suchte einen Moment nach Worten, »... vielleicht nicht unbedingt im Brennpunkt des politischen Geschehens.«

»Aber man sagt doch, dass es die größte Stärke des Alten vom Berge ist, über alles und jeden informiert zu sein«, gab Dariusz zurück. Jede Spur von Freundlichkeit war aus seiner Stimme gewichen.

»Gewiss trifft das auf Sinan zu«, pflichtete ihm Robin ruhig bei. »Aber das gilt nicht unbedingt und zwangsläufig auch für seine Gäste.«

Der Templer brach ein weiteres Stück Brot ab, das er mit einem noch größeren Schluck Wein herunterspülte, aber Robin zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er das nur tat, um Zeit zu gewinnen. »Nun«, sagte er schließlich, »das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Ihr könnt aufatmen, Robin. Ihr braucht die Gastfreundschaft des Sheiks nicht länger in Anspruch zu nehmen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Robin alarmiert.

Dariusz sah sie vieldeutig an. »Was auch immer Euch in dieses Fischerdorf verschlagen hat, Bruder«, antwortete er, »ich habe den direkten Befehl unseres Großmeisters Odo, jeden Tempelritter und jeden Vasallen des Königs von Jerusalem mitzubringen, auf den ich auf dem Rückweg stoße.«

»Auf dem Rückweg?« Robin versteifte sich ein wenig. Ihr Herz begann zu klopfen. »Wohin?«

»Wir sollen uns in der Burg Safet einfinden«, antwortete Dariusz. »Ich und die Männer in meiner Begleitung sind nicht die einzigen. Ein großes Heer hat sich dort bereits versammelt. Wir werden den Hund Saladin durch die Wüste bis nach Damaskus zurückprügeln und ihn am Tor seines eigenen Palastes aufknüpfen zur Warnung an alle anderen Ungläubigen und Barbaren, nicht noch einmal die Hand gegen unseren König zu erheben.«

»Ich ... soll Euch begleiten?«, murmelte Robin.

»So lauten jedenfalls der Befehl des Königs und der ausdrückliche Wunsch unseres Großmeisters«, bestätigte Dariusz. Mit einem angedeuteten, eindeutig bösen Lächeln fügte er hinzu:

»Auch wenn es mir fast schwer fällt, es zu formulieren. Zweifellos brennt Ihr bereits darauf, endlich wieder zu uns zurückzukehren und nicht länger bei diesen primitiven Heiden leben zu müssen.«

Robin antwortete nicht. Bei den Menschen, die Dariusz als Heiden und Primitive bezeichnete, hatte sie eine Gastfreundschaft, eine Wärme und Liebenswürdigkeit kennen gelernt, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal für möglich gehalten hätte. Sie hatte auf Sinans Felsenburg Kunstwerke von solcher Pracht und solch unbeschreiblicher Schönheit gesehen, dass selbst die größten Schätze aller Kirchen, die sie kannte, dagegen verblassten, und trotz aller Grausamkeit, die den Assassinen zu Recht nachgesagt wurde, hatte sie ausgerechnet in einem von ihnen den Menschen gefunden, den sie nicht nur am meisten liebte, sondern der auch so sanftmütig, verzeihend und großherzig sein konnte wie kein anderer auf der Welt.

Sie ballte unter der Tischplatte die Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen gruben, damit Dariusz ihre wahren Gefühle nicht etwa auf ihrem Gesicht ablesen konnte. Vermutlich tat er es trotzdem. Robin hatte gelernt, ihre wirklichen Empfindungen zu verbergen und stets eine Maske zu tragen, aber in diesem Moment spürte sie, wie diese Maske zu zerbröckeln begann. Sie fühlte sich überfordert, allein gelassen und verzweifelt. Was sollte sie nur tun?

»Ja, es ist sicherlich ein erfreulicher Gedanke, wieder zu unseren Brüdern zurückkehren zu dürfen«, antwortete sie mit wenig Überzeugung in der Stimme. »Dennoch sollte ich vielleicht zuerst mit Sinan reden. Immerhin bin ich ...«

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach sie Dariusz. »Ich werde einen Boten zu seiner Burg schicken, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass Ihr mit uns geritten seid, und ihm meinen Dank für Eure Errettung überbringen. Macht Euch keine Sorgen. Die Assassinen sind schließlich unsere Verbündeten.«

»Ja«, murmelte Robin einsilbig. »Das ist wohl wahr.«

Dariusz stürzte seinen dritten Becher Wein hinunter und knabberte mit sichtlichem Genuss an einem gebratenen Hühnerschenkel herum. »Nehmt es mir nicht übel, Robin«, sagte er mit vollem Mund, »aber Ihr macht mir keinen sehr ... erfreuten Eindruck.«

»Unsinn«, antwortete Robin hastig und mit einem dünnen, vollkommen verunglückten Lächeln. »Es kam nur so ... überraschend. Nach all der Zeit hatte ich die Hoffnung schon fast aufgegeben, jemals wieder von hier wegzukommen.«

»Die Hoffnung auf ein gütiges Schicksal aufzugeben heißt, den Glauben an Gott aufzugeben«, antwortete Dariusz, entschärfte seine eigenen Worte aber sofort wieder, indem er lächelte und hinzufügte: »Aber ich glaube, das gehört zu den kleinen Schwächen, die unser Herr uns nur zu gerne vergibt.«

Er füllte seinen Becher zum vierten Mal, betrachtete die goldgelb schimmernde Flüssigkeit darin dann einen Moment lang stirnrunzelnd und setzte ihn wieder ab, ohne getrunken zu haben. Fast in der gleichen Bewegung stand er auf. »Aber nun müsst Ihr mich entschuldigen, Bruder. Ich will nach den Männern sehen. Unser Aufbruch muss vorbereitet werden. Und ich nehme an, dass Ihr Euch noch von Eurer Dienerin und deren entzückenden Tochter verabschieden wollt. Ein wirklich hübsches Kind. Ich warte dann unten am Dorfplatz auf Euch. Und sorgt Euch nicht wegen des lahmenden Pferdes. Wir werden sicherlich noch ein Ersatzpferd für Euch auftreiben.«

Robin hätte nicht einmal antworten können, wenn sie es gewollt hätte. Sie saß einfach nur da und starrte Dariusz fassungslos an, und sie hatte mit jedem Moment mehr das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Plötzlich war ihr klar, dass nichts von dem, was Dariusz gerade gesagt oder getan hatte, kein Wort, kein Blick, keine noch so winzige und bedeutungslos erscheinende Geste, in irgendeiner Form Zufall gewesen war. Und es war auch kein Zufall, dessen war sie sich jetzt vollkommen und absolut sicher, dass er und seine Begleiter ausgerechnet hierher, in dieses winzige, bedeutungslose Fischerdorf gekommen waren. Ganz plötzlich begriff sie, dass er sie gesucht hatte. All seine vermeintliche Freundlichkeit, sein ganz genau dosiertes Misstrauen hatten nur der Vorbereitung auf diese letzte Eröffnung gedient.

Robin starrte die Tür immer noch an, auch als Dariusz schon längst gegangen war. Ihre Hände begannen zu zittern. Ihr Herz klopfte plötzlich so stark, dass es ihr fast den Atem nahm, und der Innenhof drehte sich immer schneller und schneller um sie. Hätte sie nicht ohnehin auf dem Stuhl gesessen, sie hätte vielleicht wirklich den Boden unter den Füßen verloren und wäre gestürzt. Dariusz wollte sie mitnehmen? Nein - sie korrigierte sich in Gedanken. Er würde sie mitnehmen. Er war aus keinem anderen Grund hergekommen.

»Herrin?«

Robin schrak heftig zusammen, als eine Stimme in ihre Gedanken drang. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass ihre Dienerin zu ihr auf den Hof getreten war. Mühsam und erst nach endlosen Sekunden riss sie den Blick von der Tür los, durch die Dariusz verschwunden war, und drehte sich, wie gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfend, zu ihr um. Saila sah sie aus aufgerissenen Augen an, die dunkel vor Furcht waren. »Ist alles ... in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

Die Frage erschien Robin so grotesk, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. »Nein«, antwortete sie mit flacher, tonloser Stimme. »Es ist ... nichts in Ordnung. Dariusz ...«

»Ich habe alles gehört«, unterbrach sie Saila. »Verzeiht, dass ich Euch belauscht habe, aber ...«

»Das macht nichts«, unterbrach sie Robin. Nervös fuhr sie sich mit dem Handrücken über das Kinn. Ihre Gedanken jagten sich noch immer. Sie hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, Saila zu antworten. »Dariusz war ja auch laut genug.«

»Was werden wir jetzt tun?«, fragte Saila.

»Wir?« Robin schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, es gibt nicht viel, was wir tun können«, murmelte sie. Ein Teil von ihr weigerte sich immer noch zu glauben, was gerade geschehen war. Es konnte nur ein Albtraum sein. Mühsam stand sie auf.

Ihre Bewegungen mussten unsicherer sein, als ihr selbst klar war, denn Saila steckte plötzlich die Hände aus, wie um sie aufzufangen, sollte sie stürzen, dann fuhr sie fast unmerklich zusammen, wich einen halben Schritt zurück und sah gleichermaßen betroffen wie erschrocken aus. »Ihr müsst fliehen, Herrin. Ich habe Nemeth schon losgeschickt, um Euer Pferd ...«

»Ich fürchte, das geht nicht«, unterbrach sie Robin. Sie schluckte, um den bitteren Geschmack loszuwerden, der plötzlich in ihrem Mund war. Ein Teil von ihr lauschte mit einer Art hysterischen Entsetzens ihren eigenen Worten, aber da war noch ein anderer Teil, der sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation vollkommen klar war und sie fast schon unnatürlich ruhig weitersprechen ließ. »Du hast Dariusz gehört. Er ist auf Befehl des Königs und unseres Großmeisters hier. Er wird nicht ohne mich abziehen.«

»Aber Ihr könnt doch nicht wirklich mit ihm reiten!«, antwortete Saila ungläubig. »Nicht in Eurem ...«

»Ich muss«, unterbrach sie Robin. Sie schüttelte ein paar Mal hintereinander den Kopf und versuchte, Saila beruhigend zuzulächeln, spürte aber selbst, wie kläglich es misslang. »Ich kenne diesen Mann von früher, Saila. Er wartet nur auf einen Vorwand, mich in Ketten von hier wegzubringen.«

»Aber Salim wird bald zurück sein«, sagte Saila. Sie klang plötzlich hilflos. Fast so hilflos und verstört, wie Robin selbst sich fühlte. »Er wird niemals zulassen, dass dieser schreckliche Mann Euch mitnimmt.«

»Und ganz genau darum muss ich mit ihm gehen«, antwortete Robin. »Ich kann nur hoffen, dass Salim und seine Männer nicht zurückkommen, bevor wir aufgebrochen sind. Dariusz würde ihn töten.«

»Ein Grund mehr, zu fliehen«, beharrte Saila. Ihre Stimme klang jetzt fast panisch. »Das Pferd steht hinter dem Haus bereit. Und es ist schnell. Auf der Burg unseres Herrn seid Ihr in Sicherheit.«

Aber nicht einmal dessen war sich Robin wirklich sicher. Sheik Sinan würde niemals zulassen, dass Dariusz sie gegen ihren Willen zwang, ihn und seine Männer zu begleiten, aber sie vermochte einfach nicht zu beurteilen, wie Dariusz’ Reaktion darauf ausfallen würde. Sie traute diesem Fanatiker durchaus zu, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen - oder es wenigstens zu versuchen. Dariusz hatte nie zu denen gehört, die das Bündnis zwischen den Tempelrittern und den Assassinen billigten, und er hatte niemals einen Hehl daraus gemacht.

»Nein«, sagte sie noch einmal, und jetzt mit ruhiger, fester Stimme. »Ich muss sie begleiten.«

»Dann komme ich mit«, sagte Saila bestimmt.

Robin lächelte. »Ich wusste, dass du das sagen würdest. Aber es geht nicht. So gerne ich dich bei mir hätte, eine Frau bei den Tempelrittern ist ... undenkbar.«

»So?«, fragte Saila. Ihr Blick blieb ernst, aber der Tonfall, in dem sie dieses eine Wort ausgesprochen hatte, war beredt genug.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Robin. »Ich bin diese Rolle gewohnt. Ich habe sie jahrelang mit Erfolg gespielt, es wird mir auch noch für einige wenige weitere Tage gelingen.« Sie schüttelte rasch den Kopf, als sie sah, dass Saila abermals widersprechen wollte, und machte eine zusätzliche, fast befehlende Geste.

»Ich brauche dich hier, Saila.«

»Wozu?«, erkundigte sich Saila verwirrt.

»Du musst auf Salim warten«, antwortete Robin. »Erzähle ihm, was geschehen ist. Und ich flehe dich an, Saila - sorg dafür, dass er keine Dummheiten macht. Du weißt, was ich meine?«

Saila nickte wortlos. Ihr Gesicht war ein einziger Ausdruck der Qual.

»Und danach müsst ihr zurück zur Burg reiten und Salims Vater berichten, was passiert ist. Er darf auf gar keinen Fall etwas Unüberlegtes tun, hast du das verstanden? Macht euch keine Sorgen um mich. Ich finde schon einen Weg, um zurückzukommen. Wahrscheinlich«, fügte sie mit einem diesmal fast überzeugenden Lächeln und in einem Ton der Zuversicht, die sie ganz und gar nicht empfand, hinzu, »werde ich schon in ein paar Tagen zurückkommen. Ich werde bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fliehen.«

»Die erste Gelegenheit wäre jetzt«, antwortete Saila.

Robin schüttelte nur erneut den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich«, beharrte sie. »Du kennst Dariusz nicht. Ich bin lange genug mit diesen Männern geritten, um zu wissen, wozu sie imstande sind. Er würde das ganze Dorf büßen lassen. Er würde es niederbrennen und jeden Mann und jede Frau und jedes Kind töten, glaub mir. Und selbst wenn ich es bis zur Burg schaffe, würde er sie möglicherweise belagern, nur um meiner wieder habhaft zu werden.«

Saila widersprach zwar nicht, aber sie sah sie so unübersehbar zweifelnd an, das Robin sich fast genötigt fühlte hinzuzufügen:

»Dariusz ist ein Fanatiker, Saila. Wenn es etwas gibt, was er noch mehr hasst als Saladin und seine Verbündeten, dann sind es Tempelritter, die gegen ihren Eid verstoßen. Er würde eher einen Krieg vom Zaun brechen, als einen Verräter aus seinen eigenen Reihen davonkommen zu lassen. Und ganz genau dafür würde er mich halten, wenn ich jetzt fliehe.«

»Aber das habt Ihr doch schon längst, Herrin«, sagte Saila leise. Robin sah sie fragend an, und die Dienerin fügte hinzu: »Den Eid gebrochen.«

Nicht wirklich, dachte Robin. Sie hatte ihn nie geleistet. Sie hatte diese lebensgefährliche Scharade niemals spielen wollen, zu der sie jahrelang gezwungen gewesen war, und sie verfluchte sich in Gedanken dafür, nicht nach ihrer Errettung genau das getan zu haben, worum Salim sie so oft gebeten hatte, nämlich das weiße Ordensgewand endgültig abzulegen und zu verbrennen, und auch dem Kettenhemd, dem Schwert und dem Schild abzuschwören und einfach nur Salims Frau zu sein, die an seiner Seite lebte und herrschte. Ganz plötzlich begriff sie, auf welch entsetzliche Weise sich Salims Worte zu bewahrheiten begannen.

Was sie so lange Zeit für nichts anderes als ein Spiel gehalten hatte, ein harmloses Kokettieren mit einer Vergangenheit, die sie endgültig hinter sich gelassen zu haben glaubte, das war von einem Herzschlag auf den anderen zu einer Gefahr längst nicht nur für ihr Leben geworden. Warum war sie in Rüstung und Waffenrock hergekommen? Sie war sicher, dass Dariusz sie nicht einmal erkannt hätte, hätte sie die seidenen Gewänder und kostbaren Tücher getragen, in denen Salim sie so gerne sah, und einen Strauß Blumen oder einen Korb mit Früchten in der Hand gehalten statt eines Schwertes.

Aber es war noch niemals Robins Art gewesen, mit dem Schicksal zu hadern. Sie musste einfach akzeptieren, was geschehen war, und versuchen, das Beste daraus zu machen - auch wenn sie sich sehr wohl bewusst war, dass sie die Situation in Wahrheit noch nicht einmal ansatzweise begriffen hatte.

Leichte Schritte näherten sich, dann trat Nemeth zu ihnen heraus. Auch das Mädchen war schreckensbleich. Es zitterte am ganzen Leib, und Robin musste nicht fragen, um zu wissen, dass auch Nemeth ihr Gespräch mit Dariusz belauscht hatte; vermutlich auch das mit ihrer Mutter. Bevor Nemeth jedoch auch nur ein Wort sagen konnte, machte Robin eine Kopfbewegung zum Ausgang hin. »Geh zur Tür«, sagte sie, »und pass auf, dass uns niemand stört.«

»Aber ...«, begann Nemeth.

Robin unterbrach sie sofort. »Schnell. Es ist wichtig, Nemeth. Wir verlassen uns auf dich.«

Das Mädchen sah sie noch einen Moment lang aus großen, furchterfüllten Augen an, aber dann wandte es sich um und verschwand mit schnellen Schritten im Haus, und Robin drehte sich wieder zu Saila um und streifte gleichzeitig mit einer entschlossenen Bewegung den Turban ab. »Eines musst du noch für mich tun, Saila«, sagte sie.

»Herrin?« Saila wirkte unsicher, fast erschrocken.

»Hol das schärfste Messer, das du in der Küche findest«, sagte Robin schweren Herzens. »Und dann schneide mir das Haar.«

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