Der Raum, in dem sie untergebracht war (Robin vermied es sorgfältig, auch nur in Gedanken das Wort gefangen zu benutzen), hatte nur ein einziges, schmales Fenster, das nach Osten hinausführte und selbst für sie zu schmal gewesen wäre, um sich hindurchzuzwängen, trotzdem aber zusätzlich vergittert war. Da das Zimmer im dritten Stock des Gebäudes lag, reichte ihr Blick ungehindert über die Dächer der gesamten Stadt und die Mauer bis über den Ölberg. Müde fragte sie sich, ob auch Jesus auf den Ölberg blicken konnte, als er vor so langer Zeit hier eingekerkert gewesen war.
Seltsam - seit sie begonnen hatte, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass sie wohl tatsächlich ihren Glauben verloren hatte, musste sie immer öfter an Gott und seinen Sohn denken. Aber wahrscheinlich war sie einfach nur verwirrt und hatte Angst, und sie hatte auch allen Grund dazu.
Sie hatte nicht wirklich die Besinnung verloren, aber der Zustand, in dem man sie hier heraufgebracht hatte, war von einer Ohnmacht nicht mehr allzu weit entfernt gewesen; und auf eine Art vielleicht sogar noch schlimmer, denn sie hatte zwar alles gesehen und gehört, was rings um sie herum und vor allem mit ihr geschah, war aber vollkommen wehrlos gewesen. Männer waren zusammengelaufen, hatten an ihrer Schulter gerüttelt und ihren Namen gerufen, und vage glaubte sie auch, sich an Bruder Abbés Gesicht zu erinnern, aber alles war verschwommen, unscharf und so bedrohlich wie die Bilder aus einem Albtraum, die sich in die Wirklichkeit hinübergeschlichen hatten und sich nun mit ihr zu vermengen begannen. Irgendwann war sie von zwei Männern ergriffen und die drei Treppen hier heraufgezerrt worden. Seither war sie allein.
Robin wusste nicht, wie viel Zeit seither vergangen war, aber es konnte allerhöchstens eine halbe Stunde gewesen sein, wahrscheinlich weniger. Sie fühlte sich mittlerweile wieder deutlich besser; die Schmerzen in ihrem Leib waren vollends verebbt, und auch Fieber und Schwindelgefühl waren fast verschwunden. Selbst ihre Schulter tat nicht mehr weh, auch wenn sie den Arm inzwischen kaum noch bewegen konnte. Voller Angst fragte sie sich, was als Nächstes geschehen würde. Auch wenn ihr Geheimnis bisher anscheinend noch immer nicht aufgedeckt worden war, zweifelte sie doch keine Sekunde daran, dass zumindest Marschall Ridefort sie erkannt hatte, und wenn schon nicht für irgendetwas anderes, so würde sie sich doch zumindest für den bloßen Umstand rechtfertigen müssen, hier zu sein, wo sie doch angeblich schwer verletzt auf Safet im Sterben lag.
Draußen auf dem Gang wurden Stimmen laut. Robin konnte durch das dicke Holz hindurch nicht hören, was gesprochen wurde, aber es hörte sich ganz eindeutig nach einem Streit an. Nach einem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Bruder Abbé kam herein. Sein Gesicht war rot vor Zorn, und er atmete so schwer, als wäre er die drei Treppen hier herauf auf seinen kurzen Beinen gerannt.
Robin setzte dazu an, etwas zu sagen, doch Abbé brachte sie mit einer verstohlenen Geste und einem fast beschwörenden Blick zum Verstummen und wandte sich in rüdem Ton an jemanden draußen auf dem Gang: »Schließt die Tür, habe ich gesagt, und untersteht euch zu lauschen, oder ich lasse euch auspeitschen! Ich gebe euch Bescheid, wenn wir bereit sind.«
Robin konnte noch immer nicht erkennen, wer sich draußen auf dem Gang aufhielt, doch die Tür wurde geschlossen, und sie hörte ein Geräusch, das es ihr vollends unmöglich machte, sich nicht als Gefangene zu fühlen: das Poltern eines schweren Riegels, der vorgelegt wurde.
»Bruder Abbé«, begann sie, »ich bin ja so froh, Euch zu ...«
Abbé brachte sie mit einem abermaligen und noch erschrockeneren Gestikulieren zum Verstummen. Anscheinend war er nicht vollkommen überzeugt davon, dass die Männer draußen seinen Befehl auch befolgten. »Gütiger Gott, was hast du nur wieder angestellt, du Unglückskind? Was tust du hier? Willst du uns alle auf den Scheiterhaufen bringen?«
»Es tut mir ja Leid, Bruder«, sagte Robin zerknirscht. »Ich wollte wirklich nicht ...«
»Wieso bist du nicht in deinem Zimmer in Salims Haus? Ich werde diesen unfähigen Wächter auspeitschen lassen - falls wir das hier überleben, heißt das.«
Robin riss die Augen auf. »Was meint Ihr damit?«
»Wie oft habe ich den Tag schon bedauert, an dem sich unsere Wege gekreuzt haben«, fuhr Abbé mürrisch fort. »Vielleicht wollte der Herr mich auf diese Weise für das bestrafen, was in jener Nacht geschehen ist, doch allmählich muss ich doch genug Buße getan haben!« Er schüttelte den Kopf, als könne er tatsächlich nicht verstehen, was geschehen war. »Wie stehe ich jetzt da? Noch vor einer halben Stunde habe ich Marschall Ridefort berichtet, ich hätte Nachricht von Bruder Horace aus Safet, dass es nicht gut um Bruder Robin steht, und nur einen Augenblick später fällst du ihm ohnmächtig vor die Füße! Was soll ich ihm nun sagen?«
»Euch wird schon etwas einfallen«, antwortete Robin spröde. So erleichtert sie im ersten Moment gewesen war, Abbé zu sehen, so zornig wurde sie plötzlich. Abbé machte sich nicht einmal die Mühe, Besorgnis zu heucheln. »Ihr redet doch auch sonst gerne mit ihm.«
Abbé zog die Augenbrauen zusammen und schwieg. Seine Verwirrung war beinahe perfekt gespielt. Aber das machte Robin in diesem Moment eher noch wütender. »Ihr macht doch nicht tatsächlich gemeinsame Sache mit Gerhard von Ridefort, um den Großmeister zu verraten, oder?«, fragte sie.
Abbés Augen wurden groß. »Woher ...?«
»Ich habe Euch belauscht«, schleuderte ihm Robin entgegen. Plötzlich konnte sie ihre Gefühle kaum noch im Zaum halten. Von allen Menschen auf der Welt war Abbé der letzte, von dem sie erwartet hätte, dass er sie anlog. »Ich habe jedes Wort gehört!«
Abbés Augen wurden noch größer. »Du ... warst unten in den Ställen?«, murmelte er.
»Keine zehn Schritte vor Euch«, antwortete Robin. »Ich habe jedes Wort gehört. Ihr plant tatsächlich, die Zahlung des Lösegeldes zu verweigern? Ich ... ich verstehe das nicht! Ihr könnt doch unmöglich wollen, dass Gerhard von Ridefort neuer Großmeister unseres Ordens wird!«
»Der Tag, an dem ein Mann wie Gerhard von Ridefort Großmeister unseres Ordens wird, ist der Beginn unseres Untergangs«, sagte er ernsthaft. »Deine Ohren mögen ja noch die Schärfe der Jugend haben, aber du urteilst vielleicht auch etwas vorschnell. Manche Worte haben mehr als eine Bedeutung, weißt du?« Er schnitt ihr mit einer ärgerlichen Bewegung das Wort ab, als sie etwas sagen wollte. »Was um alles in der Welt hattest du im Tempelberg zu suchen? Willst du dich mit aller Gewalt ins Unglück stürzen, und uns gleich dazu?«
Robin verstand nicht, warum Abbé so überrascht war. »Aber hat Rother Euch denn nicht gesagt, wo Ihr mich findet?«
»Rother?«, gab Abbé zurück. »Wer soll das sein?« Er wiederholte seine unwillige Handbewegung. »Aber egal, wir klären das später. Jetzt bringe ich dich erst einmal hier heraus, und dann werde ich dafür sorgen, dass du noch heute aus der Stadt verschwindest und ganz bestimmt niemals wieder auftauchst.«
»Und Marschall Ridefort?«, fragte Robin. »Er hat mich gesehen, oder?«
»Ich fürchte«, sagte Abbé grimassenschneidend, »mir wird schon etwas einfallen. Notfalls kann ich ja behaupten, du hättest mich und meine Begleiter niedergeschlagen und wärst geflohen. Aber auch das hat Zeit bis später. Lass uns von hier verschwinden, bevor Ridefort am Ende noch auf die Idee kommt, sich persönlich nach deinem Befinden zu erkundigen.«
Er schlug zweimal mit der flachen Hand gegen die Tür und setzte einen möglichst finsteren Gesichtsausdruck auf, als geöffnet wurde. »Bruder Robin und ich verlassen den Tempel«, sagte er, bevor sein Gegenüber auch nur Gelegenheit fand, einen einzigen Ton herauszubekommen. »Geht zu Marschall von Ridefort und richtet ihm aus, dass ich ihn wie besprochen zum Nachmittagsgebet in der Grabeskirche erwarte.«
Der Mann, der offenbar die undankbare Aufgabe hatte, Robin zu bewachen, kam auch jetzt nicht dazu, irgendwelche Einwände vorzubringen. Abbé scheuchte ihn mit einer groben Bewegung aus dem Zimmer und bedeutete ihm kaum weniger rüde, vorauszugehen. Rasch und mit demütig gesenktem Haupt trat Robin an ihm vorbei auf den Flur, wobei sie den Mann, der draußen neben der Tür stand, nur aus den Augenwinkeln sah. Trotzdem war sein Unbehagen nicht zu übersehen. Was Abbé tat, stand offensichtlich ganz und gar nicht im Einklang mit seinen Befehlen. Aber er versuchte nicht, sie aufzuhalten, sondern starrte ihnen nur finster nach, bis sie die Treppe erreicht hatten und nebeneinander die schmalen Stufen hinabzusteigen begannen.
»Irgendwann frage ich Euch einmal, wer Ihr wirklich seid, Bruder Abbé«, sagte Robin leise.
»Wer ich wirklich bin?«
»Mit Sicherheit kein kleiner Ritter aus einer unbedeutenden Komturei in Friesland«, behauptete Robin.
»Aber nichts anderes bin ich«, erwiderte Abbé. Täuschte sie sich, oder klang seine Stimme leicht amüsiert? »Genau so hast du mich doch kennen gelernt, Bruder Robin. Als unbedeutenden Ritter aus einer noch viel unbedeutenderen Komturei in Friesland.«
»Dem man kaum weniger Respekt entgegenbringt als dem Großmeister und den Männer wie Gerhard von Ridefort in wichtigen Angelegenheiten des Ordens um Rat fragen«, sagte Robin spöttisch. »Wie gesagt: Eines Tages werde ich Euch fragen, wer Ihr wirklich seid. Und Ihr werdet mir diese Frage beantworten.«
»Kaum«, antwortete Abbé. »Du wirst Jerusalem noch vor Ablauf der nächsten Stunde verlassen, und wir werden uns nicht wiedersehen.«
Robin starrte ihn beinahe entsetzt an. Noch vor einem Moment war sie so wütend auf ihn gewesen, wie selten zuvor auf irgendjemanden. Aber ihn niemals wiedersehen? Ein einziger Blick in Abbés Gesicht machte ihr klar, dass er auf keine der tausend Fragen antworten würde, die ihr plötzlich auf der Zunge brannten. Wenigstens jetzt nicht. Schweigend legten sie den restlichen Weg nach unten zurück.
Als sie das Gebäude verlassen wollten, traten ihnen zwei Männer in weißen Templeruniformen entgegen. Beide hatten ihre Schilde abgenommen und am linken Arm befestigt, und ihre Hände lagen auf den Schwertern. »Ritter Robin von Tronthoff?«, sprach sie der eine an.
Robin war so überrascht, dass sie im allerersten Moment gar nicht reagierte, sondern den Mann nur verwirrt anblickte. Er war überdurchschnittlich groß, und die Schultern unter dem weißen Hemd schienen beständig darum bemüht zu sein, ihr Gefängnis aus Stoff und Kettengewebe zu sprengen. Auch sein Begleiter war von ähnlich beeindruckendem Wuchs, und jetzt fiel Robin auch auf, dass die beiden Männer nicht allein gekommen waren. Vier weitere Ritter, alle mit ihren Schilden an den Armen, standen wie zufällig ganz in der Nähe, aber sie blickten bestimmt ganz und gar nicht zufällig in ihre Richtung.
»Was geht hier vor?«, fragte Abbé scharf. Er trat mit einem einzigen Schritt zwischen Robin und den Ritter und funkelte ihn an. Abbé reichte dem bärtigen Hünen kaum bis zum Adamsapfel, doch es war nicht das erste Mal, dass Robin Zeuge wurde, wie der kahlköpfige, dicke Mann andere einfach dadurch in die Flucht schlug, dass er sie anstarrte.
So weit kam es diesmal nicht, aber das herausfordernde Glitzern in den Augen des Hünen machte für einen Moment Verwirrung und dann deutlicher Unsicherheit Platz. »Verzeiht, Bruder Abbé«, sagte er. »Ich habe Euch nicht gleich erkannt.«
»Ja, ja, schon gut«, unterbrach ihn Abbé unwillig. »Was soll das? Was fällt Euch ein, uns aufzuhalten?«
»Es tut mir Leid, Euch Ungelegenheiten zu bereiten«, antwortete der Mann. Er fühlte sich sichtlich mit jedem Wort weniger wohl in seiner Haut. Er wich Abbés Blick aus, doch er sprach trotzdem weiter. »Aber ich fürchte, wir müssen Bruder Robin von Tronthoff mit uns nehmen.«
»Auf wessen Anweisung?«, fragte Abbé lauernd.
»Der Befehl kommt von Ordensmarschall von Ridefort persönlich, Bruder Abbé. Unsere Order lautet, Robin von Tronthoff unverzüglich zu ihm zu bringen, damit Anklage gegen ihn erhoben werden kann.«
»Anklage?«, ächzte Abbé. »Weswegen?«
»Man beschuldigt ihn der Feigheit im Angesicht des Feindes«, antwortete der Ritter. »Aus diesem Grunde soll über ihn zu Gericht gesessen werden. Jetzt gleich.«