Es war noch dunkel in ihrem Zelt, als Robin erwachte. Etwas hatte sie aus ihren Träumen geschreckt, aber sie war deswegen nicht böse, denn es waren keine angenehmen Träume gewesen; wirres Zeug zum größten Teil, an das sie sich nicht wirklich erinnerte und es auch nicht wollte, bis auf einen einzelnen kurzen Part unmittelbar vor dem Erwachen: Sie hatte geträumt, ein Schatten wäre in ihr Zelt eingedrungen, und wahrscheinlich war es auch genau dieses Gefühl gewesen, das sie letztendlich geweckt hatte. Robin lauschte noch einen Moment mit geschlossenen Augen in sich hinein, und sie spürte zweierlei: zum einen, dass es noch tiefste Nacht war, Stunden, bis die kleine Glocke, die Horace eigens zu diesem Zweck mitgebracht hatte, zur Prima - dem Morgengebet in der ersten Stunde des Tages - rief, und zum anderen, dass sie keinen Schlaf mehr finden würde. Sie hatte sich in dem sicheren Gefühl niedergelegt, vor lauter Nervosität und Anspannung ohnehin nicht einschlafen zu können, und ihr Körper hatte sie eines Besseren belehrt. Nun aber war sie wieder wach, die Anspannung war noch immer da - sogar größer als zuvor -, und sie spürte, dass jeder Versuch, sich zum Einschlafen zu zwingen, es nur noch schlimmer machen würde. Robin seufzte lautlos in sich hinein. Sie hatte sich in den letzten Tagen so oft den Kopf über die Frage zermartert, wer denn nun ihr Freund und wer ihr Feind sei, dass sie möglicherweise das Nächstliegende übersehen hatte. Vielleicht war die Einzige, vor der sie sich wirklich in acht nehmen musste, sie selbst ...
Behutsam stemmte sie sich auf beide Ellbogen hoch und blinzelte aus noch immer vom Schlaf verquollenen Augen in die Runde. Es war nicht ganz so dunkel in dem winzigen Zelt, wie es ihr im allerersten Moment vorgekommen war. Matt drang das Licht eines nahen Lagerfeuers durch das Tuch der Zeltwand, und sie hörte Geräusche: das dumpfe Raunen und Wispern des Lagers selbst, das fast wie das Geräusch einer fernen, aber ungeheuer machtvollen Meeresbrandung klang, nur dann und wann unterbrochen vom einsamen Wiehern eines Pferdes oder einem einzelnen, metallenen Klang. Nicht weit entfernt klangen manchmal regelmäßige langsame Schritte auf und verschwanden dann wieder, wenn sich der Posten auf seiner Runde dem Zelt näherte und dann weiterging. Obwohl sie sich inmitten eines der größten Heere befanden, das die Kreuzfahrer jemals zusammengezogen hatten, hatten die Templer trotzdem die nötige Vorsicht walten lassen und ausreichend Wachen aufgestellt. Nicht weit entfernt schnarchte ein Mann so laut, dass das Geräusch ohnehin jeden anderen Laut bis hin zum Dröhnen einer näher kommenden Reiterarmee übertönt hätte.
Ihre Unruhe kehrte zurück. Eigentlich war sie niemals weg gewesen. Robin fragte sich erneut, was sie eigentlich geweckt hatte. Sie blinzelte in die Finsternis und lauschte noch einmal und noch konzentrierter, aber es blieb dabei: Sie war allein. Robin schalt sich in Gedanken eine hysterische Gans und wollte sich schon entspannt zurücksinken lassen, als sie eine Bewegung unter der Decke spürte.
Es war nicht einmal wirklich eine Bewegung, sondern kaum mehr als der Hauch einer Berührung, aber es war da, und es war etwas, das dort aber auch rein gar nichts zu suchen hatte. Etwas schob sich an ihrem Oberschenkel hinauf unter ihr Hemd. Stumpfe Krallen tasteten zitternd über ihre Haut. Etwas, fast so groß wie eine Hand, kroch an ihr hoch.
Robins Herz begann zu klopfen. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen oder auch nur laut zu atmen. Sie spürte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren rann, während das Kratzen und Schaben winziger harter Klauen auf ihrer Haut anhielt.
»Rühr dich nicht! Atme nicht einmal!«
Die Stimme erklang irgendwo neben und hinter ihr in der Dunkelheit. Sie hörte ein leises, eisernes Scharren, und Metall blitzte rot in dem schwachen Licht, das durch die Zeltbahn drang. Jemand war doch hier drinnen, und sie hatte sogar das Gefühl, die Stimme der in heiserem Flüsterton hervorgestoßenen Worte kennen zu müssen, war aber zugleich viel zu aufgeregt, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Ihr Herz hämmerte immer lauter. Sie konnte nun sehen, wie sich etwas unter der dünnen Leinendecke bis hinauf zu ihrem Bauch schob und schließlich dort verharrte. Eine flache Wölbung unter der Decke ... Angst tobte in immer heftigeren Wellen durch ihre Adern und begann sich wie eine große, stachelige Faust in ihrem Magen zusammenzuballen. Ein Skorpion. Aber er musste viel größer als alle Skorpione sein, die sie bisher gesehen hatte!
Robin befolgte den Rat, den ihr der Schatten gegeben hatte, wenn auch nicht ganz freiwillig: Sie konnte gar nicht mehr atmen, denn die Angst schnürte ihr buchstäblich die Kehle zu.
»Ganz ruhig«, fuhr die Stimme hinter ihr fort. »Es ist gleich vorbei.«
Wieder hatte Robin das Gefühl, den Besitzer dieser Stimme kennen zu müssen, aber in ihrer Panik kam es ihr auch so vor, als höre sie einen Ton boshafter Vorfreude darin. Plötzlich war ihr alles klar. Der Skorpion hatte sich keineswegs zufällig in ihr Zelt verirrt, und schon gar nicht unter ihre Decke. Jemand hatte ihn hereingebracht, und ganz offensichtlich wollte sich dieser Jemand mit eigenen Augen davon überzeugen, dass sein feiger Mordanschlag auch von Erfolg gekrönt wurde. Das ergab zwar überhaupt keinen Sinn, aber Robin war in Todesangst und der Panik näher als jemals zuvor und zu keinem klaren Gedanken mehr in der Lage.
»Noch einen Schritt, und ich schreie«, flüsterte sie.
Der Schemen blieb tatsächlich stehen, und zu Robins nicht geringer Überraschung klang seine Stimme leicht amüsiert, als er antwortete: »Aber dann würde dich der Skorpion stechen, und du würdest sterben. Ich habe gehört, dass es ein sehr qualvoller Tod sein soll. Es dauert sehr lange.«
Die Kreatur unter ihrem Hemd machte einen einzelnen trippelnden Schritt und erstarrte dann wieder, wie um die Drohung des Fremden noch zu unterstreichen, und Robins Herz hämmerte mittlerweile so schnell, dass sie das Gefühl hatte, den Skorpion tatsächlich in ihrer Kehle emporkriechen zu spüren. Aber der Anblick weckte auch ihren Trotz.
»Dann bleibt mir wenigstens noch Zeit genug, um zuzusehen, wie man dich tötet«, sagte sie.
»Eine Todesdrohung als Gruß zur Nacht ...«, seufzte eine vertraute Stimme. »Ich hätte wirklich auf meinen Vater hören und mich nicht mit einem Weib einlassen sollen, das sich für einen Ritter hält.«
Robin riss ungläubig die Augen auf. »Salim?!«
»Bist du inzwischen noch eines anderen Mannes Weib, oder was soll die Frage?«, erwiderte Salim. Es war Salim, kein Zweifel! Robin hätte ihn auch dann erkannt, wenn er nicht in diesem Moment näher gekommen wäre, sodass das blasse Licht, das seinen Weg durch die Zeltbahn fand, auf sein Gesicht fiel. Aber wie war das möglich? Sie befanden sich mitten im Herzen des Heerlagers, nur einen Steinwurf vom Zelt des Königs entfernt!
»Das ... das ist jetzt wirklich nicht die richtige Zeit für deine Scherze«, antwortete sie gepresst. »Auf meinem Bauch ... sitzt ... ein Skorpion.«
»Ich weiß«, antwortete Salim. »Was mich viel mehr bewegt, ist die Frage: Ist es ein männlicher oder ein weiblicher Skorpion?«
»Wie?!«, ächzte Robin. Sie spürte den gepanzerten harten Leib des Skorpions über ihre Haut schrammen. Etwas hatte ihn beunruhigt. Er begann sich wieder zu bewegen. Ihr Blick hing wie gebannt auf der handgroßen Beule in der Decke, die sich langsam in Richtung ihrer Brüste vorwärts schob. Das Gefühl seiner winzigen harten Klauen auf der Haut war das vielleicht Grässlichste, was sie jemals erlebt hatte.
Salim hob unendlich langsam ein Ende der Decke an. Ein Ausdruck größter Konzentration erschien auf seinem Gesicht, aber da war zugleich noch immer etwas wie ein leicht amüsiertes Funkeln in seinen Augen, das Robin in einem Moment wie diesem vollkommen unangemessen schien; ganz gleich, welchen Grund es auch haben mochte.
Mit einem plötzlichen Ruck riss Salim die Decke herunter, und im gleichen Bruchteil eines Atemzuges wirbelte sein Schwert wie ein silberner Blitz durch die Luft. Die Klinge durchtrennte ihr Hemd, traf mit einem leisen, aber ungemein hässlichen Knirschen auf den Panzer des Skorpions und zerschmetterte ihn. Die Beine des winzigen Ungeheuers krallten sich im Todeskampf in ihren Bauch, und für einen fürchterlichen Moment war Robin sicher, den dünnen, weiß glühenden Schmerz zu spüren, mit dem sich der Stachel des sterbenden Tieres in ihre Haut bohrte, doch dann tropfte nur etwas Klebriges und auf widerwärtige Weise Warmes auf ihre Haut.
Robin atmete unendlich erleichtert auf, während Salim das Schwert von der rechten in die linke Hand wechselte und mit den frei gewordenen Fingern vorsichtig das zerschnittene Hemd zur Seite zog. Robin senkte den Blick, und ein neuerlicher eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Salims Klinge hatte das Tier präzise in der Mitte durchtrennt, ohne ihre Haut auch nur zu ritzen. Einzelne Beine des Skorpions zuckten noch, und Robin hatte plötzlich alle Mühe, ein entsetztes Stöhnen zu unterdrücken, als sie sah, wie groß sein Stachel war.
Salim beugte sich neugierig vor, griff mit spitzen Fingern nach den beiden Hälften des zerschnittenen Tieres und hielt sie ins schwache Licht, um sie eingehend zu begutachten. Dann nickte er.
»Ein Weibchen«, sagte er. Er klang erleichtert. »Ich kann Euch beruhigen, holde Jungfer. Eure Tugend war keinen Moment in Gefahr. Und meine Ehre auch nicht.«
Robin fand das nicht witzig. Besorgt sah sie zu, wie Salim mit dem mehr als fingerlangen Schwanz des riesigen schwarzen Skorpions spielte. »Sei vorsichtig«, sagte sie mit belegter Stimme. »Das Gift ...«
Salim fuhr leicht erschrocken zusammen, ließ die vordere Hälfte des Skorpions fallen und betastete mit der Fingerspitze den Stachel des toten Tieres. Dann zuckte er erneut zusammen, hob die Hand vor die Augen und runzelte die Stirn, während er den einzelnen Blutstropfen musterte, der aus seiner Fingerspitze quoll. »Tatsächlich«, sagte er. »Spitz wie eine Nadel.«
Robin schlug mit einem entsetzten Keuchen die Hand vor den Mund. »Salim! Dein Finger!«
»Ich habe mich gestochen, ja«, sagte Salim. »Das kommt davon, wenn man leichtsinnig ist.« Er ließ den toten Skorpion fallen, steckte den blutenden Finger in den Mund und fuhr leicht nuschelnd fort: »Was das angeht, sind sich Allah und euer Christengott ziemlich ähnlich. Kleine Sünden bestrafen sie manchmal sofort.«
»Aber das Gift!«, keuchte Robin.
»Was für ein Gift?«, fragte er. »Diese Sorte hat kein Gift.«
Robin starrte ihn an. »Wie bitte?«
»Sie ist so groß, dass sie es nicht braucht«, erklärte Salim. Er bückte sich nach dem Kelch, aus dem sie am vergangenen Abend getrunken hatte, tauchte einen Zipfel seines Gewandes hinein und begann mit dem nassen Stoff Blut und Schleim des toten Skorpions von ihrem Bauch zu wischen. Robin sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie die Berührung seiner Finger auf der Haut spürte.
»Du hast das gewusst«, sagte sie anklagend.
»Was?«, fragte Salim.
»Das mit dem Skorpion«, antwortete sie. »Dass er nicht giftig ist.«
Salim fuhr fort, mit dem feuchten Tuch über ihren Leib zu wischen, obwohl auf ihrer Haut längst nichts mehr war, was er hätte wegwischen können. Seine Berührung war auf eine sonderbare Weise nicht einmal angenehm, aber sie ließ Robin trotzdem erschauern.
»Aber woher hätte ich das wohl wissen sollen?«, fragte er mit fast überzeugend gespieltem Erstaunen. Er ließ den Tuchzipfel fahren, zog die Hand aber keineswegs zurück, sondern fuhr nun sacht mit den Fingerspitzen über ihren Bauch. Ganz instinktiv griff Robin nach seiner Hand, um sie wegzuschieben oder wenigstens festzuhalten, aber sie konnte weder das eine noch das andere.
»Du hast es gewusst«, beharrte sie. Ihr Atem ging ein wenig schneller, und statt seine Hand zur Seite zu stoßen, was in diesem Moment das einzig Vernünftige gewesen wäre, hielt sie sie einen Atemzug lang fest und schob sie dann ein kleines Stück weiter nach oben. Salim zog fragend die Augenbrauen hoch, lächelte aber dann und ließ seine Finger von sich aus weiter in dieselbe Richtung wandern. Robin wartete, bis sie ihr Ziel fast erreicht hatten, dann umschlang sie mit den Fingern sein Handgelenk, hielt es fest und schob ihn mit der anderen Hand ein kleines Stück weit von sich weg. »Hast du, oder hast du nicht?«
Salim verdrehte die Augen. »Also gut«, seufzte er, »ich gebe mich geschlagen. Ich habe es gehofft.«
»Gehofft?«, ächzte Robin. »Du hast es gehofft?!«
»Ich war sogar ziemlich sicher«, antwortete Salim. »Es gibt nur eine einzige Sorte Skorpione, die so groß werden, und die sind nicht giftig.«
»Und du hast es nicht für nötig befunden, es mir zu sagen?«, grollte Robin. »Ich hatte Todesangst!«
»Ich war ja nicht ganz sicher«, antwortete Salim mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt. Dann grinste er plötzlich.
»Außerdem sagt man, dass so ein kleiner Schrecken dann und wann ungemein anregend sein soll.«
»Du elender Schuft«, grollte Robin. »Weißt du, was ich dich könnte?«
Salims Grinsen wurde nur noch breiter. »Da würde mir schon das eine oder andere einfallen. Aber glaubst du wirklich, jetzt wäre der richtige Moment dafür? Ich meine: Es könnte jeden Moment jemand hereinkommen. Andererseits ...« Er seufzte, schüttelte dann jedoch plötzlich den Kopf und streifte dann in einer einzigen raschen Bewegung Turban und Mantel ab. Darunter trug er nur ein schlichtes, schwarzes Hemd.
Robin riss die Augen auf. »Was tust du da?«
»Wenn du es schon selbst sagst ...« Salim glitt mit einer so raschen Bewegung neben sie auf die Liege, dass Robin kaum begriff, was er tat, bevor er sie auch schon mit den Armen umschlang und ihre Lippen mit einem Kuss verschloss. Im allerersten Moment wehrte sie sich ganz instinktiv, aber ihr Widerstand schmolz so schnell dahin wie eine Schneeflocke am heißesten Tag des Jahres in der Wüste. Nach einem einzigen Atemzug erwiderte sie seine Umarmung nicht nur, sondern zog ihn mit aller Kraft an sich. Wie sehr, wie unendlich schmerzhaft hatte sie ihn vermisst, und wie sehr hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt! Robin hatte das Gefühl, vor lauter Glück, vor lauter Glückseligkeit zerspringen zu müssen, während sie seinen warmen Atem an ihrem Hals spürte und er mit halb erstickter Stimme all die Kosenamen flüsterte, die sie so sehr vermisst hatte. Seine Hand kroch unter ihr zerrissenes Hemd und erkundete jene Bereiche ihres Körpers, die sie sonst so sorgsam vor jedem neugierigen Blick verbarg. Die Berührung seiner Finger schien ihre Haut in Flammen zu setzen. Sie verzehrte sich vor Sehnsucht nach ihm.
Dennoch legte sie ihm nach wenigen weiteren Augenblicken die Hand auf die Brust und schob ihn sanft, aber nachdrücklich von sich weg. »Das ... das dürfen wir nicht, Salim«, flüsterte sie mit bebender Stimme.
»Wieso nicht?« Salims Lippen fuhren zärtlich an ihrem Hals empor und suchten nach ihrem Mundwinkel, und Robin musste sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen.
»Natürlich dürfen wir das«, flüsterte er. »Wir sind schließlich Mann und Frau.«
»Aber es ist viel zu gefährlich«, keuchte Robin. »Wenn uns jemand überrascht, sind wir beide verloren.«
»Da hast du Recht«, entgegnete Salim und küsste sie erneut und noch zärtlicher, und Robin gab auf. Sie hatte ohnehin nicht wirklich vorgehabt, sich zu wehren.