15. KAPITEL


Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht dazu kommen zu lassen, war sie eingeschlafen, nachdem sie sich geliebt hatten, und sie erwachte nicht auf ihre gewohnte, rasche Art, sondern dämmerte ganz allmählich aus der Umarmung eines Schlafes, der zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nicht mit Albträumen und Angst über sie gekommen war, in eine andere, höchst reale Umarmung hinüber, die sie mit einem Gefühl von Geborgenheit und Wärme erfüllte, das sie schon beinahe vergessen glaubte. Ein wohliger Schauer rann ihr über den Rücken, und sie lauschte noch einmal in sich hinein, wie um die Erinnerung noch einmal zurückzuzwingen. Nicht nur ihre Gedanken erinnerten sich, sondern auch ihr Körper. Auf ihren Lippen war noch immer der Geschmack seiner Haut, und ihr Schoß glühte von der Inbrunst, mit der sie ihn in sich gespürt hatte. Salim hatte sie zweimal genommen, das erste Mal wild und ungestüm und schnell, das zweite Mal so zärtlich und sanft, dass sie das Gefühl hatte, es hätte Stunden gedauert - und es musste Stunden gedauert haben, denn draußen war es bereits hell!

Robin fuhr mit einer fast entsetzten Bewegung hoch oder wollte es zumindest, aber das einzige Ergebnis ihres Versuches war ein scharfer Schmerz, der durch ihre Schulter schoss, und ein harter Ruck, mit dem sie zurückgerissen wurde. Salim lag auf ihrem Arm, und der klare Blick seiner Augen, mit dem er sie ebenso zärtlich wie besorgt musterte, sagte ihr, dass es nicht erst ihre hektische Bewegung war, die ihn geweckt hatte.

»Hast du schlecht geträumt?«, fragte er.

»Wir müssen auf!«, sagte Robin alarmiert. »Es ist bereits hell, und ...«

»Nein, das ist es nicht«, unterbrach sie Salim. »Es ist noch fast eine Stunde bis zu eurem Morgengebet.«

»Aber es ist ...« Robin brach verwirrt ab und betrachtete das rote Licht, das durch die dünnen Wände ihres Zeltes drang. Salim hatte Recht. Das rote Licht, das das Zelt nun viel intensiver erfüllte als vorhin, war der flackernde Schein von Lagerfeuern und Fackeln, nicht die Glut des Sonnenaufgangs. Ganz leise und weit entfernt hörte sie Stimmen.

»Anscheinend bist du nicht die Einzige hier, die keine sehr ruhige Nacht hat«, sagte Salim amüsiert. Das rote Licht, das durch die Zeltbahn drang, floss wie flüssiges Feuer über seine nackte Brust und verwandelte seine Haut nicht nur in geschmolzenes Kupfer, sondern ließ auch die Wärme aus Robins Schoß ausbrechen und sich in kribbelnden Wellen in ihrem ganzen Körper ausbreiten. Nur mit Mühe widerstand sie der Versuchung, seinen Körper nicht nur mit Blicken zu liebkosen.

»Du musst jetzt wirklich gehen, Liebster«, flüsterte sie.

»Muss ich das?« Salim küsste sie zärtlich auf die Stirn, verzog aber dann in übertrieben gespieltem Misstrauen das Gesicht.

»Wieso? Erwartest du jemanden? Einen deiner Ordensbrüder vielleicht?«

»Ich hatte gehofft, dass Bruder Dariusz noch zu mir kommt, um mir seinen Segen zu erteilen«, antwortete sie ernsthaft, »aber ich fürchte, er hat es bisher nicht geschafft, zu uns zu stoßen.«

»Dariusz ist hier«, antwortete Salim. »Sein Zelt ist nur ein paar Schritte entfernt. Wenn du willst, kann ich ihn holen. Er hat gleich als Erstes nach dir gefragt, kaum dass er angekommen war.«

»Dariusz ist hier?«, wiederholte Robin alarmiert.

»Wir sind nahezu gleichzeitig hier eingetroffen«, bestätigte Salim. »Wir hätten sogar ein gutes Stück des Weges gemeinsam reiten können, aber ich fürchte, dein Freund ist kein sehr geselliger Mensch.«

Robin blieb ernst. »Wenn Dariusz hier ist, solltest du erst recht verschwinden. Er darf dich auf gar keinen Fall auch nur in meiner Nähe sehen. Er ist ohnehin schon misstrauisch. Und er ist der Schlimmste von allen.«

»Der Schlimmste von allen?«, wiederholte Salim. »Bist du sicher?«

Robin überlegte einen Moment lang ernsthaft, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.«

»Ich auch nicht.« Salim setzte sich mit einer fließenden Bewegung auf und griff nach seinem Hemd, zog es aber nicht an, sondern hielt es nur in der Hand und sah über die Schulter zurück und auf eine Art auf sie herab, die aus dem bloßen Kribbeln in ihrem Leib etwas anderes machte.

Aber er beließ es bei diesem Blick. Statt irgendetwas von dem zu tun, was sie in diesem Moment ebenso sehr herbeisehnte wie fürchtete, bückte er sich plötzlich und hob etwas auf, was Robin nach einigen Augenblicken - und zu ihrer nicht geringen Überraschung - als den Kadaver des toten Skorpions erkannte.

»Das ist seltsam«, sagte er in nachdenklichem Ton.

»Was ist seltsam?«

Salim wedelte mit dem halbierten Skorpion. »Ich hatte Recht, weißt du? Das hier ist die ungiftige Art, für die ich sie gehalten habe.«

»Soll das heißen, dass du bisher nicht ganz sicher warst?«, fragte Robin. Ein ganz leiser Unterton von Hysterie schwang in ihrer Stimme mit.

Salims Antwort bestand nur aus einem neuerlichen Grinsen, und Robin zog es vor, nicht weiter über die Bedeutung dieser Geste nachzudenken. »Und ... was ist daran so seltsam?«, fragte sie stockend.

»Dass diese Sorte Skorpion gar nicht in dieser Gegend vorkommt«, antwortete er. »Eigentlich gibt es sie nur in der Negevwüste südlich von Jerusalem oder den Wüsten des Sinai.«

»Anscheinend wohl doch nicht«, erwiderte Robin nervös.

»Oder der da hat sich ziemlich weit verlaufen.«

»Das dachte ich auch«, antwortete Salim stirnrunzelnd.

»Manchmal verirren sie sich unter eine Decke oder in das Bett eines Menschen. Die Nächte hier sind sehr kalt, und sie suchen die Wärme. Aber dieses Tier ...« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es dürfte nicht hier sein.«

»Da kann ich dir nur beipflichten«, sagte Robin mit einem übertriebenen Schaudern, aber Salim blieb ernst. Er betrachtete den Kadaver des Skorpions noch einen Moment lang nachdenklich, dann ließ er ihn zu Boden fallen, sah sich aufmerksam im Inneren des Zeltes um und war dann mit einem einzigen, nicht einmal sehr großen Schritt an der Rückwand, wo er sich wieder in die Hocke sinken ließ.

»Das habe ich mir gedacht«, murmelte er.

Robin betrachtete fasziniert das Spiel von Licht und Schatten auf seiner Haut und seinem schlanken und doch muskulösen Rücken. Das warme Gefühl in ihrem Leib nahm zu, und es fiel ihr plötzlich schwer, weiter ruhig liegen zu bleiben oder sich auch nur auf seine Worte zu konzentrieren. »Was?«, fragte sie mühsam.

Salim warf ihr einen strafenden Blick zu. »Das.« Er deutete auf einen Schatten in der Rückwand des Zeltes, von dem sie selbst jetzt erst auf den zweiten oder dritten Blick bemerkte, dass es gar kein Schatten war, sondern ein gut handlanger, gerader Schnitt, offenbar mit einer sehr scharfen Klinge ausgeführt.

»Dieses Tier ist nicht zufällig hier hereingekommen. Es ist unter deine Decke gekrochen, weil es deine Körperwärme gespürt hat, aber zuvor hat es jemand hier hereingesetzt.« Ein dünnes, freudloses Lächeln spielte für einen Moment um seine Lippen und erlosch beinahe schneller wieder, als es gekommen war. »Du bist wirklich gut darin, dir innerhalb kürzester Zeit tödliche Feinde zu machen, habe ich dir das eigentlich schon einmal gesagt?«

»Nein«, antwortete Robin. »Nicht einmal. Tausendmal, wenn nicht mehr.«

»Aber ganz offensichtlich noch nicht oft genug.« Ein Ausdruck ehrlicher Sorge erschien auf seinem Gesicht, während er sich wieder aufrichtete und zu ihr zurückkam. »Wie hast du es nur geschafft, dir innerhalb einer knappen Woche schon wieder einen Todfeind zu machen?«

»Vielleicht hatte ich ihn schon vorher«, sagte Robin in nachdenklichem Tonfall.

Salim sah stirnrunzelnd auf sie herab. »Dariusz?« Er setzte dazu an, sein Hemd überzustreifen, aber Robin ergriff rasch seinen Arm und hielt ihn fest.

»Ich glaube, er ... weiß es«, sagte sie. »Zumindest hat er einen Verdacht. Er hat mir nicht wirklich geglaubt.«

»Soll ich ihn töten?«, fragte Salim.

Robin dachte tatsächlich einen Moment über diesen Vorschlag nach, aber dann erschrak sie über ihre eigenen Gedanken. Sie würde Dariusz keine Träne nachweinen, sollte ihm etwas zustoßen, aber über seine Ermordung nachzudenken? Wie weit war es mit ihr gekommen?

»Das würde es nur schlimmer machen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Außerdem bin ich nicht einmal sicher, dass er wirklich dahinter steckt.« Sie wiegte nachdenklich den Kopf und erzählte ihm dann mit wenigen, möglichst sachlichen Worten, was seit ihrer Ankunft in Safet - aber auch auf dem Weg dorthin - geschehen war. Salim hörte ihr schweigend zu, aber vor allem in dem Teil, in dem sie von ihrem Gespräch mit Odo und dem Ordensmarschall berichtete, verdüsterte sich sein Gesicht zusehends.

»Du lässt wirklich keine Gelegenheit aus, dir neue Freunde zu suchen«, sagte er mit einem spöttischen Kopfschütteln. »Mein Vater wird höchst irritiert sein zu hören, wie seine angeblichen Freunde über ihn reden, wenn er nicht dabei ist.«

»Genau genommen«, verbesserte ihn Robin, »haben sie über dich gesprochen.«

Salim schoss einen giftigen Blick in ihre Richtung ab und zog es darüber hinaus vor, ihre Bemerkung zu ignorieren. »Ich erweitere mein Angebot gern auf euren Großmeister und Ridefort. Vielleicht sollte ich sie auch umbringen.«

»Warum nicht gleich den gesamten Orden?«, fragte Robin.

»Hätten sie dir auch nur ein Haar gekrümmt«, sagte Salim sehr ernst, »dann hätte ich es getan. Du bist mein Weib. Niemand bedroht meine Frau. Und einen Mordanschlag auf sie nehme ich persönlich übel.«

»Aus Sorge um mich«, fragte Robin, »oder weil es gegen deine Ehre geht?« Salim wollte auffahren, doch Robin fuhr mit leicht erhobener Stimme, aber trotzdem eher nachdenklichem Ton fort: »Ich bin nicht einmal wirklich sicher, dass es ein Mordanschlag gewesen ist.«

»Und wofür hältst du das?« Salim blickte fragend auf den toten Skorpion hinab.

Robin musste wieder an die sonderbare Nachricht denken, die sie auf ihrem Bett gefunden hatte. »Vielleicht eine Warnung?«

»Eine Warnung?« Salim lachte. »Ja, von einem guten Freund, den du im Orden hast, wie? Aber wer immer es war, hat in der Wahl seines Botschafters keine gute Hand bewiesen.« Er stupste den toten Skorpion mit dem Fuß an und lachte dann leise. »Es muss wohl stimmen, was ihr Christen über die Überbringer schlechter Nachrichten sagt.«

Robin blieb ernst. »Und wenn er es gewusst hat?«

»Was?«

»Dass der Skorpion nicht giftig ist.«

»Du meinst, jemand wollte dir nur einen Schrecken einjagen?«

»Wenn ja, dann ist es ihm gelungen«, antwortete Robin, zuckte mit den Schultern und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf. »Es hätte in den letzten Tagen genug Gelegenheiten gegeben, mich zu töten. Gar nicht zu reden von der bevorstehenden Schlacht. Ein verirrter Pfeil, ein fehlgeleiteter Schwerthieb ...«

Salim schien einen Moment lang ernsthaft über diese Möglichkeit nachzudenken, aber schließlich machte er eine wegwerfende Geste. »Ihr Christen seid mir zu kompliziert. Außerdem spielt es keine Rolle mehr.«

»Wieso?«

»Du hast mich noch gar nicht gefragt, warum ich eigentlich hergekommen bin«, sagte Salim, ohne ihre Frage damit zu beantworten.

Robin lächelte schelmisch. »Ich dachte, das wüsste ich schon. Zweimal, wenn ich mich richtig erinnere.«

»Ach, das.« Salim machte eine wegwerfende Geste. »Ich wollte lediglich etwas ausprobieren, was mir eine der neuen nubischen Sklavinnen meines Vaters gezeigt hat, und ...«

Robin knuffte ihn in die Rippen, und Salim verzog mit einem übertrieben gespielten Keuchen das Gesicht und tat so, als krümme er sich vor Schmerz, und Robin nutzte die Gelegenheit, seine Hände zu ergreifen und ihn mit einem überraschenden Ruck zu sich herunterzuziehen.

»Lügner«, keuchte sie, nachdem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten und sie wenigstens halb wieder zu Atem gekommen war. »Dein Vater hat keine nubischen Sklavinnen.«

»Natürlich nicht.« Salims Hände strichen sanft über ihren Rücken. »Jetzt nicht mehr. Ich habe ihn gebeten, sie mir zu schenken. Das kannst du doch verstehen, oder? Ich meine: Du warst nicht da, und ich bin ein Mann mit gewissen Bedürfnissen.«

»Aber natürlich«, antwortete Robin. »Nur eins verstehe ich nicht: Wenn sie dir wirklich etwas Neues gezeigt hat, warum behältst du es dann für dich?«

Salims Hände hörten für einen Moment auf, sanft über ihren Rücken zu streichen. »Ich hätte dich doch bei dem Sklavenhändler lassen sollen.«

»Stimmt«, antwortete Robin. »Ich bin sicher, über kurz oder lang hätten wir uns aneinander gewöhnt. Im Grunde war er ein sehr gut aussehender Mann.«

»Er lebt noch«, sagte Salim. »Ich glaube, ich habe ihn vor kurzem gesehen, als ich unten in den Kerkern meines Vaters war. Die zwei Jahre dort haben ihm möglicherweise nicht besonders gut getan, aber wenn du ihn richtig pflegst ... soll ich meinen Vater bitten, ihn dir zu schenken?«

»Warum nicht?«, sinnierte Robin. »Die Mühe könnte sich lohnen. Ich wollte schon immer wissen, wie es mit einem richtigen Mann ist.«

Salim lachte zwar, aber Robin sah auch das warnende Glitzern in seinen Augen und spürte, dass sie im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten, die sie besser nicht überschreiten sollte. Für einen Mann seines Volkes - noch dazu einen Mann mit Macht - ließ er ihr ungewöhnlich viel durchgehen, aber er konnte letzten Endes nicht aus seiner Haut. Und vielleicht war es auch gut so. Was sie vor Wochenfrist über Saila und ihre Tochter gedacht hatte, das galt vielleicht ebenso - vielleicht noch viel mehr - für sie selbst. Solange sie unter Salims Schutz stand, konnte sie sich beinahe jede Freiheit herausnehmen, aber sie tat ihm damit keinen Gefallen und sich selbst auch nicht.

»Hast du vorhin die Wahrheit gesagt über Dariusz?«, fragte sie. »Er ist wirklich hier?«

»Wir sind praktisch zusammen hier eingetroffen«, bestätigte Salim noch einmal, »wenn auch nicht gemeinsam. Sein weißer Mantel ist nun wirklich nicht zu übersehen. Er leuchtet meilenweit durch die Nacht. Wie eine Zielscheibe.«

»Du wirst ihm nichts tun«, sagte Robin ernst.

»Weil du so sehr um sein Wohl besorgt bist?«

»Weil ich nicht will, dass er ermordet wird«, sagte Robin ernst.

»Und das sagt die Schwiegertochter des Mannes, dem man nachsagt, er wäre Herr der Meuchelmörder und Attentäter?«

Robin schwieg dazu, aber sie wusste, dass dem nicht so war. Man sagte viel über Raschid Sinan, den Alten vom Berge, und manches davon mochte wahr sein. Manches kam der Wahrheit vermutlich nicht einmal nahe. Aber eines war er gewiss nicht: ein Mörder.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Salim und küsste sie erneut, lange und sehr zärtlich. »Ich bringe dich hier weg. Noch bevor es hell wird.«

Robin schob ihn überrascht ein kleines Stück von sich weg und versuchte sich unter ihm aufzurichten, aber Salim war zu schwer. Er stützte sich rechts und links von ihr mit den Ellbogen auf und ließ ihr gerade genug Raum, Hinterkopf und Schultern eine Winzigkeit von ihrem harten Lager zu erheben, rührte sich aber ansonsten nicht.

»Heute noch?«, fragte sie zweifelnd. »Noch vor der Schlacht?«

»Ganz bestimmt vor der Schlacht«, antwortete Salim, betont und mit einem sonderbaren Blick. »Ich bin wie der Teufel geritten, um dich hier wegzubringen, bevor dieser Irrsinn beginnt.«

Robin antwortete auch darauf nicht, und was hätte sie denn auch sagen sollen? Auch wenn sie das Gefühl bisher mit mehr oder weniger Erfolg unterdrückt hatte, so hatte sie doch tief in sich drinnen furchtbare Angst vor dem gehabt, was morgen geschehen würde. Trotzdem schob sie Salim abermals von sich, als er sie küssen wollte.

»Aber das geht nicht«, sagte sie fast erschrocken. »Ich kann nicht einfach am Morgen vor der Schlacht verschwinden! Alle werden glauben, ich wäre feige davongelaufen!«

»Wäre das denn so falsch?«, fragte Salim, hob aber rasch die Hand, als sie etwas sagen wollte, und schnitt ihr mit einer energischen Bewegung das Wort ab. Einen Moment lang blickte er noch ebenso nachdenklich wie verärgert auf sie herab, dann setzte er sich mit einem Ruck auf, schwang die Beine von der schmalen Pritsche und bückte sich nach seinem Hemd, das er vorhin fallen gelassen hatte, zog es aber noch nicht an, sondern sah nur über die Schulter auf eine so sonderbar abschätzende Art auf sie herab, dass Robin sich - absurd genug - plötzlich ihrer Nacktheit schämte und in einer fast unbewussten Bewegung die zerschlissene Decke, die zerknüllt und von ihrer beider Schweiß getränkt neben ihr lag, fast bis zu den Schultern hochzog.

»Du hast Angst, dass man Bruder Robin einen Feigling nennen wird, der vor der Schlacht geflohen ist«, fuhr Salim fort.

»Niemand wird das tun.«

»Und wenn doch?«, hörte sich Robin fast zu ihrer eigenen Überraschung antworten. »Die Templer vergessen nicht. Ich möchte nicht, dass sie mich als Feigling in Erinnerung behalten.«

»Niemand wird sich an dich erinnern«, widersprach Salim ruhig. »Sie werden sich an Bruder Robin erinnern, einen jungen Ritter, der als Protegé eines alten Mannes in den Orden aufgenommen wurde und ein paar Jahre mit ihnen geritten ist. Vielleicht werden sie ihn einen Feigling nennen, aber das glaube ich nicht einmal. Sie werden ihn vergessen. Er wird ebenso spurlos wieder verschwinden, wie er aufgetaucht ist. Für immer.«

Robin wollte auffahren, doch Salim brachte sie abermals und mit einer diesmal eindeutig ärgerlichen Geste zum Verstummen.

»Es ist vorbei, Robin. Bruder Robin ist tot. Er ist gestorben, gerade jetzt, in diesem Moment.«

Natürlich hatte er Recht, dachte Robin. Seit sich Dariusz’ und ihre Wege wieder gekreuzt hatten, hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass dieser Albtraum endlich ein Ende haben würde, als dass sie wieder an Salims Seite, in den Schutz seiner starken Arme und die Sicherheit und das angenehme Leben in seiner Bergfestung Masyaf zurückkehren könnte. Und doch ... warum erfüllte sie der Gedanke, einfach davonzulaufen, mit einer so sonderbaren Bitterkeit?

»Morgen zu dieser Stunde«, fuhr Salim fort und machte eine ausholende Bewegung mit der Hand, die die Hälfte des Lagers jenseits der Zeltplanen einschloss, »wird die Hälfte dieser Männer dort draußen tot sein und die andere Hälfte verwundet. Zu welcher Hälfte möchtest du gehören?«

»Ich habe einen Eid geschworen«, sagte Robin, ohne seine Frage damit direkt zu beantworten. Was hätte sie auch sagen sollen?

»Nein, das hast du nicht«, antwortete Salim heftig. »Bruder Robin hat diesen Eid geschworen. Aber damit ist es jetzt aus. Ich habe diesen Unsinn lange genug geduldet, doch jetzt ist es genug.«

»Unsinn?«, fragte Robin. »Was genau meinst du mit Unsinn?«

»Deine Ritterspielchen«, erwiderte Salim. Seine Stimme wurde keinen Deut lauter, aber merklich schärfer. Von einem Atemzug auf den anderen war aus dem berauschenden Moment ihres Wiedersehens etwas geworden, das Robin fast Angst machte. Es schien dunkler im Zelt zu werden. Und kälter.

»Spielchen«, wiederholte sie. »War es das, was ich die ganze Zeit für dich war? Ein Spielzeug?«

Blanke Wut blitzte in seinen Augen auf, aber er beherrschte sich. Nicht einmal seine Stimme wurde lauter. »Nein«, behauptete er, obwohl Robin in seinen Augen las, wie nahe sie der Wahrheit - zumindest in einem gewissen Sinne - damit gekommen war. Ein bitterer Geschmack war mit einem Mal in ihrem Mund.

»Nicht du. Aber das, was du tust. Ich habe dich bisher gewähren lassen, weil ich weiß, wie viel dir dieser alberne Wappenrock und ein Schwert bedeuten. Und ich weiß, wie gut du mit einer Waffe umzugehen verstehst. Besser als so mancher Mann, den ich kenne. Die Hälfte meiner Assassinen wäre dir nicht gewachsen. Aber in dieser irrsinnigen Schlacht, in die euer König euch heute führt, zählen ein Kettenhemd und ein gutes Schwert nicht viel. Viele Männer werden heute sterben, Männer, die stärker sind als du, tapferer und ebenso geübt mit ihren Waffen. Es ist eine Sache, deine Klinge in einen freundschaftlichen Kampf mit mir zu kreuzen oder auch einem einzelnen Mann in einem fairen Duell gegenüberzutreten, aber eine ganz andere, sich zehntausender Lanzenreiter gegenüberzusehen oder einem Hagel von Pfeilen. Selbst ich wäre ganz und gar nicht sicher, die Schlacht zu überleben oder auch nur ohne schwere Verwundungen davonzukommen. Ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben wegen eines albernen Schwurs riskierst.«

Er schüttelte noch einmal und noch heftiger den Kopf. Seine Stimme wurde eine Spur lauter. »Ich bin hergekommen, um dich zu holen, und ganz genau das werde ich jetzt tun. Wir werden dieses Lager und diesen Landstrich verlassen und nach Masyaf zurückkehren, und es wird keinen Bruder Robin mehr geben.«

Es fiel Robin immer schwerer, sich zu beherrschen. Natürlich hatte er Recht, mit jedem Wort, das er gesagt hatte. Und dennoch erfüllte sie der bloße Gedanke, einfach davonzulaufen, mit einem Gefühl von Scham, das fast körperlich wehtat. Hatten sie die Jahre, die sie mit Bruder Abbé verbracht hatte, so verändert? Obwohl sie das Leben bei den Templern - zumindest bis zu ihrer Ankunft in diesem Land - geliebt hatte und obwohl sie frühzeitig hatte lernen müssen, sich ihrer Haut zu wehren und ihr Leben auch mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, blieb sie doch eine Frau, die das Töten hasste und Gewalt und Kampf aus tiefstem Herzen verabscheute; gerade weil sie so oft erlebt hatte, welch unendliches Leid und wie viele bittere Tränen und tiefen Schmerz ein beiläufig erteilter Befehl, eine unbedachte Bewegung oder eine bloße taktische Entscheidung verursachen konnten. Vielleicht, dachte sie, hatte Salim ja gerade eine Wahrheit ausgesprochen, vor der sie bisher stets die Augen verschlossen hatte. Vielleicht war alles, was bisher geschehen war, für sie im Grunde nichts weiter als ein Spiel gewesen. Ein Spiel mit dem Feuer, das mehr als einmal lebensgefährlich geworden war, aber trotzdem nicht mehr als ein Spiel.

»Ich habe draußen einen Beutel mit Kleidern versteckt«, fuhr Salim fort, nachdem er eine Weile vergebens darauf gewartet hatte, eine Antwort von ihr zu bekommen. »Du wirst dich umziehen.«

Robin blickte an sich herab. Sie trug nichts außer der zerschlissenen dünnen Decke. Die scherzhafte Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, schluckte sie jedoch vorsichtshalber herunter, als sie Salims Blick begegnete.

»Deine Rüstung und dein Schwert nehmen wir mit«, fuhr Salim fort, »damit dein Verschwinden nicht sofort auffällt. Später können wir sie irgendwo vergraben. Meinetwegen kannst du sie auch behalten und dir als Andenken an die Wand deines Zimmers hängen, aber du wirst diese Kleider nie wieder tragen.«

Robin wagte nicht, zu widersprechen. Salim war nicht wirklich lauter geworden, auch nicht wirklich schärfer, doch in seiner Stimme war mit einem Male etwas, das jeden Gedanken an Widerspruch von vornherein ausschloss. Und er hatte ja Recht, dachte sie traurig. Sie hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, und eigentlich grenzte es jetzt schon fast an ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte.

Salim nickte noch einmal, um seine Worte zu bekräftigen, dann setzte er dazu an, sein Hemd überzustreifen, und genau in dem Moment, in dem er die Arme über den Kopf hob, wurde die Zeltplane vor dem Eingang zurückgeschlagen, und Rother kam herein.

Für einen Moment war es Robin, als wäre die Zeit stehen geblieben. Der junge Ritter machte einen einzelnen, gebückten Schritt in das Zelt, hob dann den Kopf und erstarrte mitten in der Bewegung. Trotz des nur blassen Lichtes konnte Robin sehen, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich und seine Augen groß wurden. »Also doch ...«, flüsterte er.

Salim fuhr so heftig zusammen, dass das Hemd seinen Fingern entglitt und zu Boden fiel. Seine Hand zuckte zur Hüfte, wo er normalerweise sein Schwert trug, und er sprang in der gleichen Bewegung auf die Füße. Rother keuchte, prallte zurück und war dann ebenso schnell wieder aus dem Zelt verschwunden, wie er aufgetaucht war, und Salim setzte mit einem wütenden Knurren dazu an, ihm hinterherzustürmen.

»Salim! Nicht!«, keuchte Robin.

Salim machte einen weiteren Schritt und war schon fast aus dem Zelt heraus, prallte aber dann zurück und sah einen Moment lang so wütend aus, wie sie ihn noch nie zuvor erblickt hatte; aber auch unendlich verwirrt und hilflos.

»Was?« Seine Stimme war schrill. »Ich muss ihn aufhalten!«

»So?« Robin machte eine sprechende Kopfbewegung, und der Ausdruck von Hilflosigkeit auf Salims Gesicht nahm noch zu, als sein Blick ihrer Geste folgte und er an sich herabsah. Er war vollkommen nackt.

»Aber er hat uns gesehen!«, murmelte er. »Wenn er Alarm schlägt ...!«

Robin setzte sich mit einem Ruck auf. Die Decke glitt an ihr herab, aber sie zog sie mit einer instinktiven Bewegung wieder hoch; nur, um sie im nächsten Moment erneut fallen zu lassen. Rasch erhob sie sich von ihrer Lagerstatt und bückte sich nach ihrem Kleid.

»Verschwinde von hier«, sagte sie. »Schnell, bevor er tatsächlich Alarm schlägt und die anderen hier sind!«

Salim rührte sich nicht. Er sah sie nur fast erschrocken an.

»Bist du verrückt?«, murmelte er. »Wir müssen weg. Sofort!«

Robin schlüpfte mit einer raschen Bewegung in das grobe, baumwollene Unterkleid, das ihr gerade bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, beugte sich hastig vor und strampelte ihre Beine in die knielangen Leinenhosen und verknotete den einfachen, weißen Strick, der als Gürtel diente. »Verdammt!«, keuchte sie.

»Zieh dich endlich an und verschwinde von hier! Wenn er mit Verstärkung zurückkommt, haben wir sowieso keine Chance zu entkommen. Das ganze Lager wird uns suchen. Du kannst dich vielleicht in einen Schatten verwandeln, aber kannst du dich auch unsichtbar machen?«

Salim sah sie einfach nur weiter fassungslos an. Sie hatte ihn noch nie so hilflos und zornig zugleich wie jetzt erlebt. Auch Robin war der Panik nahe, schlüpfte aber dennoch mit einer sehr schnellen Bewegung in die beiden eng anliegenden Beinlinge, die sie über die Waden bis zum Oberschenkel hochzog. Um ihr Leibchen mit dem Gürtel der Hose zu verknoten, musste sie noch einmal ihr Hemd anheben. »Salim!«, sagte sie beschwörend.

»Du kannst nicht hier bleiben«, murmelte Salim. »Er hat uns gesehen.«

Er hatte weit mehr als das, dachte Robin betrübt. Er hatte Salim gesehen, einen Mann, den er zwar nicht von Angesicht kannte, aber da er nackt und breitbeinig auf ihrer Lagerstatt gesessen hatte, ganz eindeutig ein Mann, und er hatte auch sie eindeutig mit nichts als einer dünnen Decke bekleidet hinter ihm liegen gesehen. Vielleicht war es ja zu dunkel für seine Augen gewesen, um zu erkennen, was sie wirklich war, doch Robin hätte in diesem Moment nicht sagen können, welcher der beiden Eindrücke, die Rother gewonnen haben musste, in seinen Augen der schlimmere war. Vermutlich spielte es auch keine Rolle.

Sie angelte nach ihrem Kettenhemd, hielt aber dann mitten in der Bewegung inne und warf Salim einen weiteren, flehenden Blick zu, und endlich erwachte er aus seiner Erstarrung. Rasch bückte er sich nach seinem Hemd, streifte es über und wollte gerade nach seinem Mantel greifen, als von draußen schnelle, schwere Schritte näher kamen. Salim sah erschrocken zum Eingang hin - und war dann einfach verschwunden.

Obwohl Robin schon mehr als einmal erlebt hatte, wie schnell und lautlos er sich bewegen konnte, war sie für die Dauer eines Atemzuges so überrascht, dass sie einfach erstarrt dasaß und die Stelle anblickte, wo er gerade noch gewesen war. Etwas raschelte ganz leise, als Salim durch den Schnitt in der Rückwand des Zeltes verschwand, durch den ihr der unbekannte Attentäter in der Nacht den Skorpion hereingeschoben hatte. Sie hörte das Geräusch von reißendem Stoff, dann war er endgültig verschwunden, zusammen mit seinem Mantel, seinem Schwert und den Sandalen. Robins Herz machte einen erschrockenen Sprung in ihrer Brust, als sie sah, dass er seinen Turban zurückgelassen hatte. Hastig wollte sie sich danach bücken, doch es war zu spät. Die Plane vor dem Eingang wurde mit einem Ruck zurückgeschlagen, und zwei Gestalten betraten das Zelt. Bei einem der Männer handelte es sich um Rother, und Robin hätte um ein Haar laut aufgestöhnt, als sie den anderen erkannte.

»Ihr werdet zu spät zum Morgengebet kommen, Bruder Robin«, sagte Dariusz. »Habt Ihr den Weckruf nicht gehört?«

Robin spürte, wie sie zur Antwort den Kopf schüttelte, doch die Bewegung erfolgte nahezu ohne ihr Zutun. Dariusz! Wieso war er hier? Was wollte er? Sie hatte keinen Weckruf gehört, und es hatte auch keinen gegeben, und selbst wenn - ein Mann wie Dariusz würde ganz gewiss nicht durch die Zelte gehen und jeden einzelnen Ritter wecken, damit er das Gebet nicht versäumte. Ihr Herz begann zu hämmern. Plötzlich zitterten ihre Hände so heftig, dass das Kettenhemd in ihren Fingern leise klirrte, und sie hatte Mühe, sein Gewicht überhaupt noch zu halten.

Dariusz’ Blick glitt misstrauisch durch das Zelt, dann über ihr Gesicht und - für Robins Geschmack eindeutig zu lange und zu aufmerksam - über ihren Körper. Blieb er einen Herzschlag lang auf ihren Brüsten hängen? Sie trug nur das dünne Leinenkleid, unter dem sich ihr Körper viel zu deutlich abzeichnete, und mit einem Male fiel ihr siedend heiß ein, dass sich Salim in den letzten Wochen mehr als einmal lobend darüber geäußert hatte, wie voll und weiblich ihre Brüste geworden waren.

»Worauf wartet Ihr?«, fragte Dariusz grob. »So langsam, wie Ihr Euch ankleidet, Bruder, könnte man glauben, uns bliebe noch alle Zeit der Welt. Der Großmeister selbst wird heute Morgen die Prima leiten. Ihr wisst, wie streng die Strafen sind, wenn man zu spät erscheint? Schert Euch das gar nicht?«

Wieder tastete sein Blick aufmerksam über ihre Gestalt, und diesmal war Robin sicher, dass er länger als notwendig an ihrer Brust hängen blieb. Er musste es einfach sehen. Es war dunkel im Zelt, aber längst nicht dunkel genug.

Endlich löste sie sich aus ihrer Erstarrung und drehte sich möglichst unauffällig ein Stück zur Seite, damit sie die Bewegung nicht endgültig verriet, mit der sie die Arme hob und in das schwere Kettenhemd schlüpfte. Als ihr Blick wieder in Dariusz’ Gesicht fiel, war sie sicher, es in seinen Augen spöttisch aufblitzen zu sehen. Er sagte nichts, aber Robins Verdacht, dass er es wusste, begann sich zur Gewissheit zu verdichten.

Und Rother? Während sie aufstand und sich hastig nach dem Gambeson bückte, versuchte sie unauffällig, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Es gelang ihr nicht wirklich. Er stand halb hinter Dariusz und wich ihrem Blick aus, aber sie glaubte zu erkennen, dass er noch immer sehr bleich war.

Dann tat er etwas Sonderbares. Möglichst unauffällig schob er sich hinter Dariusz entlang, blieb wie durch Zufall dicht neben ihm stehen, und Robins Herz machte schon wieder einen erschrockenen Schlag und schien zu einem harten Kloß in ihrer Kehle zu erstarren, als sie das schwarze Tuch sah, das unmittelbar neben Rothers Fuß lag. Salims Turban! Vielleicht hatte Rother bisher geschwiegen, weil er nicht sicher war, wem Dariusz glauben würde, wenn sie einfach abstritt, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun aber lag der Beweis direkt vor ihm.

Doch statt sich danach zu bücken und ihr Schicksal damit endgültig zu besiegeln, stieß Rother das Tuch mit einer raschen und doch unauffälligen Bewegung seines linken Fußes zwischen ihre Lagerstatt und die Zeltwand. Robin war so überrascht, dass sie sich nur noch mit Mühe beherrschen konnte und nicht einmal ganz sicher war, dass es ihr wirklich gelang.

»Soll Bruder Rother Euch beim Ankleiden helfen?«, fragte Dariusz spöttisch.

Robin verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort und beeilte sich, auch noch den Rest ihrer Kleidung anzulegen. Nachdem Dariusz ihren entsprechenden, fragenden Blick mit einem angedeuteten Kopfschütteln beantwortet hatte, verzichtete sie darauf, auch Schild, Helm und Schwertgurt mitzunehmen, und so vergingen nur mehr wenige Augenblicke, bis sie hinter ihm und Rother aus dem Zelt trat. Rings um sie herum flackerten offene Feuer und Fackeln, und sie sah, dass die meisten ihrer Brüder tatsächlich schon wach und angekleidet waren und sich einige von ihnen bereits, wenn auch ohne Hast, in Richtung des kleinen Platzes in der Mitte des Lagers bewegten, auf dem die Morgenmesse stattfinden sollte.

Nachdem Dariusz gerade so sehr zur Eile gedrängt hatte, wurden nun auch seine Schritte langsamer, kaum dass sie das Zelt verlassen hatten. Nach ein paar Schritten schlenderte er geradezu dahin, und Robin hatte das Gefühl, sie müssten nur noch eine Winzigkeit langsamer gehen, um vollends stehen zu bleiben. Sie wagte es nicht, eine entsprechende Bemerkung zu machen oder gar eine Frage zu stellen, aber sie versuchte, Rother einen fragenden Blick zuzuwerfen. Der junge Ritter antwortete mit einem nur mit den Augen angedeuteten Kopfschütteln, das Robin aber eher verwirrte, als ihr irgendwie weiterzuhelfen. Sie verstand einfach nicht, warum er Dariusz bisher so ganz offensichtlich noch nicht Bericht erstattet hatte; und sie verstand noch sehr viel weniger, warum er das verräterische Tuch weggestoßen hatte. Damit hatte er ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern sich auch selbst in höchste Gefahr gebracht. Robin zweifelte nicht daran, dass sie sich noch vor Beginn der Schlacht nebeneinander auf demselben Scheiterhaufen wiedergefunden hätten, hätte Bruder Dariusz es gesehen und das Tuch gefunden und die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Ob Rother auch nur ahnte, welches Risiko er eingegangen war?

»Du wirst dich sicher fragen, warum ich dich angetrieben habe, wo wir doch so sichtlich viel Zeit bis zur Prima haben«, sagte Dariusz plötzlich und von einem Moment auf den anderen zum vertraulichen Du wechselnd.

Robin schwieg. Wenn Dariusz irgendein grausames Spiel mit ihr spielen wollte, so konnte sie ihn nicht daran hindern, aber sie würde gewiss nicht auch noch freiwillig dabei mitmachen.

»Ich will es dir sagen, Bruder Robin«, fuhr Dariusz fort und blieb nun endgültig stehen. »Ich habe es getan, um dir all das hier zu zeigen.«

Robin schwieg beharrlich weiter.

»All diese Männer hier«, fuhr Dariusz mit einer deutenden Geste in die Runde fort. »All unsere Brüder, all die weltlichen Ritter und Gefolgsleute, all die freiwilligen Kämpfer, ob Ritter oder der niedrigste Schildknappe, haben sich in der vergangenen Nacht auf die Schlacht vorbereitet. Viele haben gebetet. Manche haben getrunken, und manche haben gesündigt und sich der fleischlichen Lust hingegeben. Ein jeder auf seine Art. Hast du das ebenfalls getan, Bruder Robin?«

Robin erschrak bis ins Mark. »Was?«, fragte sie mit belegter Stimme. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Wusste Dariusz doch Bescheid und war des grausamen Spiels überdrüssig geworden?

»Dich auf die Schlacht vorbereitet und Gott um Beistand und Schutz gebeten«, antwortete Dariusz.

»Selbstverständlich«, sagte Robin rasch. Dariusz’ Augen wurden schmal, und Robin ließ einen kurzen Moment verstreichen und fügte mit einem leicht verlegenen Lächeln hinzu: »Nun, um ehrlich zu sein: Ich habe gebetet, aber vielleicht nicht so viel, wie ich gesollt hätte. Ich war sehr müde und habe geschlafen, um Kraft für den heutigen Tag zu sammeln.«

»So?«, fragte Dariusz. »So ausgeruht siehst du aber gar nicht aus.«

»Ich habe nicht besonders gut geschlafen«, räumte Robin ein.

»Am Abend vor einer Schlacht ist das nur verständlich«, sagte Dariusz, »Hast du Angst?«

»Nein«, antwortete Robin. In diesem Moment war das nicht einmal gelogen. Sie war einfach nur verwirrt.

»Dann bist du ein Dummkopf«, sagte Dariusz. »Keiner dieser Männer hat in der vergangenen Nacht gut geschlafen, aus Angst vor dem, was heute geschieht. Auch ich habe Angst. Es ist nicht schwer, Mut zu zeigen, wenn man keine Angst kennt.«

Robin sah ihn fragend an, schwieg aber immer noch. Worauf wollte Dariusz hinaus?

»Es wird deine erste große Feldschlacht, habe ich Recht?«, fuhr Dariusz fort.

Robin nickte.

»Was würdest du darum geben, nicht daran teilhaben zu müssen?«, fragte Dariusz.

»Bruder?«, murmelte Robin.

»Die Hälfte der Männer hier hat Gott den Herrn in dieser Nacht insgeheim angefleht, diesen Kelch an ihnen vorübergehen zu lassen«, sagte Dariusz geradeheraus. »Ich vermute, selbst einige unserer eigenen Brüder, und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Angst ist nichts Verwerfliches, Bruder Robin. Gott hat uns die Angst gegeben, um unsere Leben zu beschützen.«

Robins Verwirrung wuchs mit jedem Wort, das sie hörte. War das wirklich derselbe Dariusz, den sie kannte? Nein. Es musste eine Falle sein! Aber sie verstand einfach nicht, worauf er hinauswollte.

Dariusz ging weiter, und Robin folgte ihm. Als Rother sich ihnen anschließen wollte, scheuchte Dariusz ihn mit einer fast unwilligen Geste fort und wartete, bis er außer Hörweite war. Robin fiel allerdings auch auf, dass er ihnen trotzdem folgte, wenn auch nun in größerem Abstand.

»Du hast noch nie zuvor eine wirkliche Schlacht erlebt, nicht wahr?«, fuhr Dariusz fort, aber er erwartete nicht wirklich eine Antwort, denn er redete praktisch sofort weiter. »Den Lärm. Den Gestank nach Blut und Schweiß. Die angreifenden Feinde. Die Schreie und der Anblick der sterbenden Freunde. Die Angst. All das ist grauenhaft, Bruder Robin. Manchmal frage auch ich mich, warum Gott der Herr ein solch gewaltiges Opfer von uns verlangt.«

»Worauf wollt Ihr hinaus, Bruder Dariusz?«, fragte Robin leise. »Warum erzählt Ihr mir das alles?«

Dariusz blieb abermals stehen. »Du bist noch sehr jung, Robin. Ich weiß, wie gut du mit Schwert und Speer umzugehen verstehst und was für ein ausgezeichneter Reiter du bist. Aber dein Leben hat gerade erst begonnen. Es wäre eine Sünde, es wegzuwerfen.«

»Ich verstehe nicht genau, worauf Ihr ...«

»Du musst heute nicht mit uns reiten, Bruder Robin«, sagte Dariusz. »Ich kann dich mit einer dringenden Botschaft zurück nach Safet schicken. Einer Botschaft, die zu wichtig ist, um sie irgendeinem beliebigen Soldaten anzuvertrauen.«

»Dann schickt Rother«, antwortete Robin in schärferem Ton, als sie selbst beabsichtigt hatte. »Er hat sich Eures Vertrauens doch schon in der Vergangenheit als würdig erwiesen, wenn ich mich nicht täusche.«

Sie war zu weit gegangen. In Dariusz’ Augen blitzte es wütend auf, und einen Moment lang war sie vollkommen sicher, dass er sie schlagen würde. Aber dann gewann er seine Fassung zurück und nickte nur.

»Er könnte dich begleiten, wenn du so sehr um sein Wohl besorgt bist«, sagte er gepresst. »Ein Schwert mehr oder weniger wird den Ausgang der Schlacht kaum verändern. Vor allem jetzt nicht«, fügte er finster hinzu, »wo man uns praktisch zu Zuschauern der Schlacht degradiert hat.«

Robins Verwirrung stieg ins Unermessliche. Dariusz hatte ihr gerade mehr oder weniger angeboten, ihr die Flucht zu ermöglichen. Aber warum um alles in der Welt sollte er das tun? Ausgerechnet Dariusz?

»Was soll das?«, fragte sie. »Noch vor einer Woche ...«

»Vor einer Woche«, fiel ihr Dariusz ins Wort, »wusste ich noch nicht, was für mächtige Freunde du hast.«

»Wie?«, machte Robin verständnislos.

»Jemand hält seine schützende Hand über dich«, antwortete Dariusz. »Ich kann dir nicht sagen, wer es ist, doch es gibt jemanden, der nicht will, dass du zu Schaden kommst. Du wirst das Lager gleich nach der Prima verlassen und nach Safet reiten. Ob du Bruder Rother mit dir nimmst oder nicht, ist deine Entscheidung, doch du wirst gehen, noch bevor die Sonne aufgeht. Und nun komm, bevor wir noch tatsächlich zu spät zum Gebet kommen.«

Загрузка...