12. KAPITEL


Sie erwachte schweißgebadet, mit einem üblen Geschmack im Mund und so heftig klopfendem Herzen, dass es ihr fast den Atem nahm. Ihr war entsetzlich übel, und in ihrem Schoß wühlte ein dumpfer Schmerz, der ihr fremd war und sie vielleicht gerade deshalb erschreckte. Ein schriller, rhythmisch an- und abschwellender Ton marterte ihr Ohr, und als sie die Augen zu öffnen versuchte, gelang es ihr im ersten Moment nicht. Ihre Lider waren verklebt, und es tat ihr regelrecht weh, sie zu heben. Natürlich tat sie es trotzdem.

Der Schmerz war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte; eigentlich war das Gefühl allenfalls unangenehm, aber dafür stach das Licht der einzelnen Kerze, die in ihrem Gemach brannte, wie mit dünnen rot glühenden Nadeln in ihre Augen. Robin stemmte sich unsicher auf die Ellbogen hoch, unterdrückte mit einiger Mühe ein Gähnen - was einigermaßen absurd war, denn sie war völlig allein in der schäbigen Kammer, die Horace ihr zugewiesen hatte - und blinzelte verschlafen in die Runde. Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Die Kammer, deren Wände aus unverputztem braunem Sandstein bestanden, bot gerade Platz für die schmale, mit einem viel zu dünnen Strohsack gepolsterte Bettstatt und einen dreibeinigen Schemel, auf dem die mittlerweile fast heruntergebrannte Kerze stand. Die Flamme bewegte sich unruhig in der Zugluft, die durch das schmale Fenster hereinpfiff, und nicht zum ersten Mal wurde sich Robin schmerzhaft der Tatsache bewusst, wie bitterkalt die Nächte in diesem tagsüber von der Sonne verbrannten Land werden konnten.

Während sie sich schlaftrunken aufsetzte und fröstelnd den Mantel enger um die Schultern zog, folgte ihr Blick dem Spiel von Licht und Schatten, die lautlos über die Wände tanzten. Für einen Moment schienen sie sich zu nervösen Szenen zu gruppieren; winzige Schattenkrieger, die einander hetzten und umschlichen, lautlose Heere, die behäbig zur Schlacht aufmarschierten und wieder verschwanden, Jäger und Beute, die in rasendem Wechsel die Plätze tauschten, und dann, für einen Moment, glaubte sie ein Gesicht in den Schatten zu erkennen.

Aber es war nur Einbildung. Salim war nicht hier.

Das Schrillen in ihren Ohren hielt an. Robins Benommenheit war mittlerweile weit genug verflogen, dass sie das Geräusch erkannte: Es war die Glocke, die zum Matutin rief, dem mitternächtlichen Gebet, und sie hatte sie nicht nur aus tiefstem Schlaf gerissen, sondern auch aus den Klauen eines ebenso wirren wie beklemmenden Albtraumes befreit. Robin erinnerte sich nicht genau, was sie geträumt hatte, aber es war schlimm gewesen. Nicht einmal mehr im Schlaf schien sie Frieden zu finden.

Das Schrillen der Glocke schien nun ungeduldiger zu klingen. Robin schüttelte den Rest ihrer Benommenheit ab, schwang die Beine aus dem Bett und biss mit einem scharfen Laut die Zähne zusammen, als ihre nackten Fußsohlen den eiskalten Boden berührten. Sie sollte sich besser beeilen. Odo würde es ganz gewiss nicht positiv vermerken, wenn sie zu spät zum Matutin - oder gar überhaupt nicht! - kam, und was Gerhard von Ridefort anging ... Nein, Robin zog es vor, lieber nicht darüber nachzudenken, in welchem Maße sie sich den Groll des Ordensmarschalls zugezogen haben mochte. Horace jedenfalls hatte mehr als besorgt ausgesehen, als er sie nach dem Essen hier herunterbegleitet hatte. Robin hatte eine entsprechende Frage gestellt, doch der Komtur hatte sie so derb angefahren, dass sie es nicht gewagt hatte, ihre Frage zu wiederholen.

Rasch schlüpfte sie in ihre Stiefel, wobei sie sich vielleicht zu schnell oder auch zu weit vorbeugte, denn ihr wurde prompt wieder übel, sodass sie weitere, kostbare Augenblicke damit verlor, reglos und mit zusammengebissenen Zähnen dazusitzen und darauf zu warten, dass ihr Magen seine Versuche einstellte, ihre Kehle heraufzukriechen. Robin vertrieb sich die Zeit damit, lautlos auf die Unzulänglichkeit ihres eigenen Körpers zu fluchen, der sie in letzter Zeit immer schmählicher im Stich ließ. Sie verfluchte sich selbst dafür, auf Salim gehört und nicht mehr mit ihren Waffen geübt zu haben. Die zwei Jahre, die sie mit kaum etwas anderem verbracht hatte, als eine Frau zu sein, rächten sich nun bitter. Sie war verweichlicht, und ihr Körper präsentierte ihr unerbittlich die Rechnung für all die Monate, die sie in Überfluss und Bequemlichkeit verbracht hatte.

Endlich hörte ihr Magen auf zu revoltieren, sodass sie aufstehen und ihre Kammer verlassen konnte. Das Läuten der Glocke brach ab, als sie die schwere Holztür hinter sich schloss, aber Robin wandte sich trotzdem hastig um und lief so schnell den nur von wenigen, heftig rußenden Fackeln erhellten Gang hinab, wie sie gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen. Gottlob hatte sie sich den Weg zum Hof hinab gründlich eingeprägt, sodass sie nicht Gefahr lief, sich in den labyrinthischen Gängen und Tunnelgewölben der Festung zu verlaufen.

Dennoch war sie die Letzte, die - gerade noch mit dem allerletzten Schlag der Glocke - in die kleine Kapelle trat. Sämtliche Templer waren hier versammelt - Odo, Horace und Ridefort standen ganz vorne in der rechten der beiden sich an den Längsseiten der Kapelle gegenüberstehenden Bankreihen -, und Robin fuhr leicht erschrocken zusammen, als sie sah, dass sie als Einzige barhäuptig eingetreten war. Hastig schloss sie die Tür hinter sich, schlug in der gleichen Bewegung die Kapuze ihres Mantels hoch und kniete in der letzten Bankreihe nieder; gerade noch im letzten Moment, bevor die Messe begann.

Robin hatte Mühe, dem Zeremoniell zu folgen. Ihre Lippen bewegten sich, ohne die lateinischen Worte des Gebetes wirklich zu formen, und es wurde noch schlimmer, als die Ritter im Wechselspiel der beiden Seiten zu singen begannen. Plötzlich war sie sehr dankbar für die weit nach vorne gezogene Kapuze ihres Mantels, die ihr Gesicht fast vollkommen verbarg, sodass ihr kleiner Betrug wenigstens nicht auf den ersten Blick auffiel. Sie hatte so vieles vergessen und so vieles erst gar nicht gewusst. Während ihrer Zeit in der Komturei in Friesland hatte Abbé sie so manches gelehrt, ihr aber vor allem beigebracht, möglichst glaubwürdig den Anschein zu erwecken, sich in den komplizierten Riten und Zeremoniellen des Templerordens auszukennen. Niemals hatte sie vorgehabt, tatsächlich bei den Templern zu leben, und schon gar nicht hier, im innersten Zirkel der Macht. Sie fragte sich, wie lange diese Maskerade wohl noch gut gehen würde, bevor sie einen entscheidenden Fehler machte und ihr ganzes Lügengebäude zusammenbrach.

Ein dünner, aber rot glühender Schmerz bohrte sich erbarmungslos in ihren Leib, und Robin krümmte sich und konnte gerade noch einen Schmerzenslaut unterdrücken. Der Moment ging so schnell vorüber, wie er gekommen war, aber vielleicht trotzdem nicht schnell genug, denn der Ritter neben ihr unterbrach für einen Augenblick sein gemurmeltes Gebet und sah sie ebenso aufmerksam wie alarmiert an. Er sagte nichts, doch sein Blick wurde so durchdringend, dass Robin schon wieder beinahe in Panik zu geraten drohte. Ihr war klar, dass man auf der Burg ohnehin über sie redete; Schweigegelübde hin oder her. Und auch das war etwas, was sie dank der unbarmherzigen Knute, unter der Dariusz seine Männer hielt, beinahe vergessen hatte:

Gerade weil das Leben der Tempelritter so hart und entbehrungsreich war, achteten die Männer aufeinander. Das Mitleid eines ihrer Ordensbrüder zu erregen konnte sie sich ebenso wenig leisten wie sein Misstrauen. Auch wenn sich die Krieger Gottes Askese, Entbehrung und Härte sich selbst gegenüber in großen Lettern auf die Fahnen geschrieben hatten, so gab es auch Ärzte unter ihnen, und so wenig, wie sie sich eine schwere Verletzung erlauben konnte, konnte sie es sich leisten, etwa in den Verdacht zu geraten, krank zu sein. Solange sie Wappenrock und Rüstung der Tempelritter trug, mochte sie als Mann unter Männern durchgehen, aber ein Arzt würde sie auf den ersten Blick enttarnen.

Im Grunde lief es immer wieder auf dasselbe hinaus, dachte sie niedergeschlagen. Sie hätte niemals herkommen sollen. Aber da das nun einmal geschehen war, durfte sie keine Stunde länger auf Safet verbringen, als unbedingt nötig war.

Robin verfluchte sich selbst in Gedanken dafür, heute Morgen auf ihren Verstand und nicht auf die Stimme ihres Herzens gehört zu haben, als sie vor der Entscheidung stand, den Assassinen zu folgen oder Rothers Leben zu retten. Vielleicht hätten die Männer ihn gar nicht getötet. Vielleicht - nein, sicher! - hätte ein einziges Wort von ihr genügt, und sie hätten ihn verschont, und hätte sie auch nur einen einzigen Moment nachgedacht, statt einem ebenso sentimentalen wie schädlichen Gefühl nachzugeben, so könnte sie jetzt schon wieder bei Salim sein, in seinen Armen liegen und die kostbarsten Speisen und das Gefühl des edelsten Stoffes auf der Haut genießen, statt mit schmerzenden Knien auf hartem Steinboden zu hocken, zu frieren und dem Knurren ihres Magens zu lauschen, dem die Mahlzeit vom Mittag längst nicht gereicht hatte, ihn alle überstandenen Entbehrungen der letzten Tage vergessen zu lassen.

Unter dem weit nach vorne gezogenen Rand ihrer Kapuze hervor suchte sie nach Rother, der sich irgendwo hier in der Kirche befinden musste. Sie sah ihn nicht, doch plötzlich blieb ihr Blick an einer knienden Gestalt in einer der vorderen Bankreihen auf der anderen Seite hängen. Für einen winzigen Moment hatte der Ritter den Kopf gehoben, um das Kreuzzeichen zu schlagen und den Blick dem einfachen Altar an der Stirnseite der Kirche zuzuwenden, und Robins Atem stockte, als sie sein Gesicht im Profil sah. Der Augenblick ging zu schnell vorüber, um mehr als einen flüchtigen Eindruck zu gewinnen, und doch: Sie war beinahe sicher, unter dem kaum noch vorhandenen Haar das rundliche Gesicht Bruder Abbés erkannt zu haben.

Konnte es sein?, dachte sie aufgeregt. Sicher, Bruder Horace hatte gesagt, Abbé befinde sich auf einer Mission außerhalb der Burg, aber er hatte nicht gesagt, wann mit seiner Rückkehr zu rechnen wäre. Und seither waren Stunden vergangen.

Robins Herz begann aufgeregt zu klopfen, und sie faltete die Hände fester, damit der Mann neben ihr, der sie noch immer insgeheim aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sie sehr wohl merkte, das Zittern ihrer Finger nicht sah. Die Kapelle war nur schlecht beleuchtet. Es brannten nur einige wenige Kerzen, die deutlich mehr Schatten als Licht in den Raum brachten, und der Ritter hatte das Haupt nun wieder gesenkt, sodass sie nur noch seine Kapuze sah. Trotzdem ... er war nicht sehr groß. Unter dem schmutzigen Stoff seines Mantels spannten sich breite, fleischige Schultern, und selbst im Knien war ihm seine Leibesfülle durchaus anzusehen. Aber wenn es Abbé war - warum war er dann nicht schon längst zu ihr gekommen?

Die Messe schien kein Ende zu nehmen. Nie waren ihr die Lieder so lang, die Gebete so endlos und die Predigt, die Odo selbst hielt, so ermüdend und unendlich vorgekommen. Als der Großmeister schließlich ein letztes Gebet sprach und sie mit seinem Segen entließ, hatte sie das Gefühl, stundenlang auf dem harten Steinboden gekniet und auf das Ende des Gottesdienstes gewartet zu haben.

Während die Ritter einer nach dem anderen und in Anbetracht ihrer großen Zahl erstaunlich lautlos aufstanden, um die Kapelle zu verlassen, versuchte sie einen unauffälligen Blick unter die Kapuze des Mannes zu erhaschen, in dem sie Bruder Abbé erkannt zu haben glaubte, doch es gelang ihr nicht. Wie fast alle anderen ging er mit gebeugten Schultern und demütig gesenktem Haupt, die Hände auch jetzt noch im Gebet vor der Brust gefaltet, und da sich die Ritter schnell und sehr diszipliniert bewegten, wagte es Robin nicht, einfach stehen zu bleiben und zu warten, bis er näher heran war. Doch allein die Art, wie sich der Mann bewegte, machte ihren Verdacht beinahe zur Gewissheit. Es war Bruder Abbé. Aber er musste doch wissen, dass sie hier war! Er musste doch mit Horace gesprochen haben!

Auch draußen auf dem Hof wurde es nicht besser. Die Ritter stellten sich in zwei präzise ausgerichteten Reihen vor der kleinen Kapelle auf und marschierten dann schweigend über den verlassenen Hof. Es war ihr vollkommen unmöglich, sich ihrem alten Lehrmeister zu nähern, ohne die Ordnung zu stören und damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Erst als sie den Palas erreicht hatten und die Ritter in verschiedenen Richtungen davongingen, um zu ihren Schlafquartieren zu eilen, löste sich die allgemeine Ordnung auf. Noch immer sprach niemand, doch die Männer hatten es nun sehr eilig. In wenigen Stunden schon würde die Glocke wieder zum Morgengebet rufen, und die viel zu wenigen Augenblicke Schlaf, die ihnen bis dahin vergönnt waren, waren zu kostbar, um sie mit etwas so Banalem wie Reden zu vergeuden; selbst wenn es ihnen gestattet gewesen wäre.

Auch Robin schlug den Weg zu ihrem Quartier ein, ging aber ein wenig langsamer als die anderen und blieb nach wenigen Schritten stehen, um so zu tun, als müsse sie etwas an ihrem Stiefel richten. Was die anderen Ritter anging, so schien ihre Einschätzung richtig gewesen zu sein: Niemand nahm Notiz von ihr. Die Männer strebten rasch an ihr vorüber, um dem einzigen Feind zu entgehen, der vielleicht noch schlimmer und auf jeden Fall hartnäckiger als die allgegenwärtige Hitze war: der Müdigkeit. Unter dem Rand ihrer Kapuze hervor beobachtete sie, wie der vermeintliche Abbé durch eine Tür am anderen Ende des Ganges verschwand. Langsamer, als nötig gewesen wäre, aber nicht so langsam, dass es auffiel, richtete sie sich wieder auf, setzte ihren Weg fort und machte kehrt, als sie endlich allein war.

Mit wenigen, weit ausgreifenden Schritten erreichte sie die Tür, durch die Abbé verschwunden war, zögerte noch einen allerletzten Moment und zuckte dann in Gedanken resignierend mit den Schultern. Wenn sie irgendeiner der anderen Templer beobachtete oder ansprach, dann war sie verloren, aber dieses Risiko würde sie einfach eingehen müssen. Wenn es sich bei dem Mann tatsächlich um Abbé handelte (und sie war sich dessen mittlerweile sicher), dann musste sie mit ihm reden. Falls irgendetwas Unvorhergesehenes geschah, konnte sie immer noch versuchen, aus Safet zu fliehen und sich zu Salim durchzuschlagen. Robin hatte die Hoffnung, die sie insgeheim gehegt hatte, nämlich, dass sich auch hier in der Templerburg Männer Salims oder seines Vaters aufhielten, mittlerweile aufgegeben, doch sie war zugleich auch sicher, dass die Burg aufmerksam von seinen Assassinen beobachtet wurde.

Hinter der Tür begann eine schmale, in engen Windungen in die Tiefe führende Treppe, deren ausgetretene Stufen so schmal waren, dass Robin sich mit den flachen Händen rechts und links an den Wänden abstützte, um auf dem spiegelglatten Stein nicht den Halt zu verlieren. Es war nahezu vollkommen dunkel. Nur aus der Tiefe drang ein schwacher, rötlicher Lichtschein zu ihr herauf, der ihr zumindest die Richtung wies. Sie versuchte die Stufen zu zählen, kam aber schon nach einem knappen Dutzend durcheinander und gab es auf. In ihrem Kopf begann eine leise, aber penetrante Stimme zu flüstern, die ihr zu erklären versuchte, was für ein Wahnsinn dieses Unternehmen sei. Sie hatte Mühe gehabt, den Weg aus ihrer Kammer heraus zum Hof zu finden, obwohl sie ihn sich vorher extra eingeprägt hatte, und sie lief mehr als nur Gefahr, sich zu verlaufen. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte nur noch, als sie endlich am Fuß der Treppe angelangt war, wo sie sich in einem niedrigen, von einer heftig rußenden Fackel erhellten Gewölbe wiederfand.

Es gab nur eine einzige Tür, die noch dazu halb offen stand, sodass ihr die Wahl nicht schwer fiel, dahinter schlossen sich eine Art Vorratsraum und eine weitere Treppe an, die in ebenso engen und Schwindel erregenden Windungen wieder nach oben führte wie die, die sie gerade erst herabgestiegen war. Nach einem oder zwei Dutzend Stufen passierte sie ein schmales Fenster, durch das eisiger Wind hereinpfiff, und warf einen flüchtigen Blick hindurch. Die Nacht war so vollkommen schwarz, als hätte der Himmel den Mond und einen Großteil der Sterne verschluckt, aber sie erkannte dennoch, dass sie sich in einem der Türme der Burg befinden musste. Sie zögerte einen kurzen Moment weiterzugehen. Wenn Abbé die Treppe ganz hinaufgegangen war, dann war ihre Verfolgung hiermit zu Ende. Dort oben gab es Wachen, an denen sie sich ganz bestimmt nicht unbemerkt vorbeischleichen konnte.

Aber sie hatte keine Wahl. Ohne auf die immer lauter werdende Stimme ihrer Vernunft zu hören (hätte sie das jemals getan, dann wäre sie jetzt nicht hier, sondern tausend Meilen entfernt in einem kleinen Fischerdorf an der friesischen Küste), setzte sie ihren Weg fort und erreichte nach einer Weile einen Treppenabsatz, von dem aus eine Tür tiefer ins Innere des Turms führte. Sie stand offen. Blassroter Lichtschein fiel auf die Treppe heraus, und Robin glaubte Geräusche zu hören. Stimmen?

Lauschend legte sie das Ohr an den Türspalt. Die Stimmen wurden lauter, leider aber nicht deutlicher. Sie konnte hören, dass es zwei Männer waren, die miteinander redeten - vielleicht stritten -, und ihr Herz schlug noch einmal schneller, als sie nun ganz eindeutig die Stimme Bruder Abbés identifizierte. Ganz egal, wie groß das Risiko auch sein mochte - sie musste einfach weitergehen.

So leise, wie es überhaupt nur möglich war, öffnete sie die Tür gerade weit genug, schlüpfte durch den entstandenen Spalt und sah sich rasch nach rechts und links um. Sie befand sich in einem niedrigen, fensterlosen Gang. Das düsterrote Licht, das sie gesehen hatte, aber auch die Stimmen kamen von links. Zu sehen war niemand. Lautlos näherte sie sich der Abzweigung, blieb einen halben Schritt davor stehen und lauschte mit angehaltenem Atem, während sie sich unendlich behutsam weiter nach vorne schob in dem Versuch, um die Ecke zu spähen.

Ihr Atem stockte endgültig, als sie die beiden Männer sah, die nur wenige Schritte entfernt dastanden. Beide hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Einer der Männer wandte ihr den Rücken zu, sodass sie nur seinen dunklen Haarschopf sehen konnte, doch dafür erkannte sie das Gesicht des anderen umso deutlicher.

Es war Bruder Abbé.

Er war älter geworden. Ganz wie auch bei Horace schienen die Jahre, die seit ihrem letzten Treffen vergangen waren, ein Mehrfaches ihrer Last auf seinen Schultern abgeladen zu haben. Sein Gesicht war noch immer rundlich und wollte nicht so recht zu einem Mann passen, der ein Leben in Enthaltsamkeit und Demut zu führen gelobt hatte, aber es wirkte auf eine schwer zu beschreibende Weise zugleich auch ausgezehrt und verhärmt. Die unerschütterliche Fröhlichkeit, die Robin stets in seinen Augen gelesen hatte, war einer neuen Bitterkeit gewichen, die ihr einen kalten Schauer den Rücken hinabrieseln ließ. Darüber hinaus flammten seine Augen im Moment vor Wut. Robin konnte immer noch nicht verstehen, was Abbé und der andere Ritter miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, die Robin zwar kannte - des Französischen -, deren sie aber nicht mächtig war. Allerdings begriff sie auch so, dass sie Zeuge eines heftigen Streits wurde, und als sie den Namen Rainald de Châtillion herauszuhören glaubte, zuckte sie unwillkürlich zusammen.

Abbé machte eine zornige Handbewegung und drehte sich gleichzeitig halb herum, und Robin prallte hastig zurück, um nicht gesehen zu werden. Abbé war einer der wenigen Menschen auf der Welt, denen sie vorbehaltlos vertraute, und dennoch spürte sie, dass es im Moment gefährlich für sie wäre, von ihm hier entdeckt zu werden. Sie war nicht sicher, ob er tatsächlich noch derselbe Mann war, den sie das letzte Mal auf dem Deck der sinkenden Sankt Christophorus gesehen hatte. Bei diesem Gedanken überkam sie eine Mischung aus Bitterkeit und Zorn, der keinem speziellen Ziel galt, sondern einem Schicksal, das ihr nun offensichtlich auch noch das Letzte nahm, was ihr geblieben war.

Die Stimmen auf der anderen Seite des Ganges brachen plötzlich ab, und dann war das Geräusch hastiger Schritte zu hören, die sich schnell entfernten. Eine Tür schlug. Robin war für einen Moment vollkommen verwirrt - hatte sie ein Geräusch gemacht und sich damit verraten?

Abermals hörte sie das Geräusch von Schritten; aber diesmal war es hinter ihr! Erschrocken fuhr sie herum, und ihr Herz begann schon wieder wie wild zu klopfen, als sie die hoch gewachsene, in ein schmuckloses, knöchellanges Kettenhemd gehüllte Gestalt sah, die aus der Dunkelheit des Ganges hinter ihr aufgetaucht war. Der Mann schien im allerersten Moment mindestens genauso verblüfft zu sein, sie zu sehen, wie sie umgekehrt ihn, doch er fand seine Fassung weitaus schneller wieder als sie. Mit einem herausfordernden Schritt trat er auf sie zu und blieb gerade dicht genug vor ihr stehen, dass es ihr unangenehm war. »Halt!«, sagte er mit fordernder, scharfer Stimme. »Wer seid Ihr?«

Robin starrte den Mann einen halben Atemzug lang einfach nur verstört an. Ihre Gedanken überschlugen sich, schienen sich zugleich aber auch so träge zu bewegen, als wäre ihr Kopf mit halb geschmolzenem Pech gefüllt. Der Mann - zweifellos ein Wachtposten auf seiner Runde - war einen guten Kopf größer als sie und mindestens dreimal so alt. Sein stoppelbärtiges Gesicht war von den endlosen Jahren verbrannt, die er es in die unbarmherzige Sonne des Orients gehalten hatte, und allein der Klang seiner Stimme machte Robin klar, wie wenig er sich von ihrem weißen Templergewand beeindrucken ließ. Er trug nur das knöchellange Kettenhemd und nicht einmal Schuhe, hatte aber einen Schild am linken Arm befestigt, einen Speer in der rechten Hand und ein wuchtiges Schwert in einer ledernen Scheide am Gürtel, dessen deutliche Abnutzungsspuren am Griff verrieten, dass er die Waffe nicht nur zur Zierde mit sich führte. Sein mehr als schulterlanges, grau gewordenes Haar lugte in Strähnen unter einem verbeulten Helm hervor, der ihm nicht nur um mindestens eine Nummer zu groß war, sondern auch nicht so recht zum Rest seiner Ausrüstung passen wollte. Vermutlich ein Beutestück, das seinem früheren Besitzer wenig Glück gebracht hatte.

»Was Ihr hier sucht, habe ich gefragt«, wiederholte er scharf, als Robin nicht sofort antwortete, sondern ihn nur weiter verwirrt ansah.

Sie sagte auch jetzt noch nichts, sondern zog sich rasch einen halben Schritt von dem Mann zurück. Er hatte die Distanz, in der sie die Nähe irgendeines anderen Menschen - mit Ausnahme Salims vielleicht - ertrug, eindeutig unterschritten, und er stank nach Knoblauch, Schweiß und anderen, schlimmeren Dingen.

Robin geriet endgültig in Panik. Alles, was sie gelernt hatte, schien vergessen, alles, was Bruder Abbé, Salim und seine Assassinen ihr beigebracht hatten, zählte nicht mehr. Ohne dass es einen wirklichen Grund dafür gegeben hätte, spürte sie nichts anderes als nackte Angst vor diesem Mann. Und es wurde schlimmer. Ihre Reaktion war so falsch, wie sie nur sein konnte, und aus dem Misstrauen in seinem Blick wurde etwas anderes, weit Gefährlicheres.

»Bruder Robin! Da bist du ja! Endlich!«

Robin fuhr abermals und vielleicht noch erschrockener zusammen, und auch der Wachtposten runzelte überrascht die Stirn und drehte sich dann mit einer schnellen Bewegung herum, als die Stimme hinter ihm erklang. Eine weitere Gestalt trat aus den nachtschwarzen Schatten heraus, die den Gang erfüllten, und Robin riss erstaunt die Augen auf, als die Gestalt mit einer beidhändigen raschen Bewegung die Kapuze zurückschlug und Rothers Gesicht darunter zum Vorschein kam.

»Und ich dachte schon, ich würde dich gar nicht mehr finden«, fuhr Rother mit einem leisen Lachen fort. Sein Blick streifte betont beiläufig das Gesicht des Wächters, bevor er kopfschüttelnd und in gutmütig-spöttischem Ton fortfuhr: »Ich glaube, du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der es auch noch fertig bringt, sich in seinem eigenen Quartier zu verlaufen. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst immer dicht hinter mir bleiben?«

Robin schwieg. Sie war immer noch völlig verstört, und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der Blick des Wachtpostens irrte misstrauisch zwischen ihrem Gesicht und dem Rothers hin und her, und er wirkte nicht unbedingt überzeugt von dem, was er gehört hatte. »Wer ...?«

»Ihr müsst Bruder Robin sein Verhalten nachsehen«, sagte Rother, nunmehr direkt an den Posten gewandt. »Es ist nicht das erste Mal, dass er sich verläuft.« Er seufzte. »Bruder Horace wird dich fünfhundert Ave Maria aufsagen lassen, wenn er davon hört, Robin. Warum bist du nicht einfach bei mir geblieben, wie ich es dir gesagt habe?«

»Ich wollte nur ...«, begann Robin, wurde aber sofort wieder von Rother unterbrochen, »... wieder einmal falsch abbiegen, ich weiß«, sagte er kopfschüttelnd. »Irgendwann einmal wirst du den Unterschied zwischen rechts und links noch begreifen, hoffe ich.«

Endlich verstand Robin. Sie warf Rother einen raschen, dankbaren Blick zu, der dem Wachtposten gottlob entging, denn er hatte sich nun vollends zu dem jungen Tempelritter umgewandt und musterte ihn um keinen Deut weniger misstrauisch als sie zuvor. »Und wer seid Ihr?«, fragte er. »Ihr habt in diesem Teil der Burg ...«

»... nichts zu suchen, ich weiß«, unterbrach ihn Rother, zwar mit ganz leicht erhobener Stimme, aber auch einem offenen, um Verzeihung bittenden Lächeln. »Ich werde Bruder Horace Meldung machen, wie aufmerksam du auf deinem Posten bist.« Er wandte sich direkt an Robin. »Komm jetzt. Oder möchtest du, dass aus den fünfhundert Ave Maria tausend werden?«

Rasch und mit gesenktem Blick trat Robin an dem Wachtposten vorbei, und auch Rother drehte sich um und machte einen einzelnen Schritt, blieb dann aber noch einmal stehen und sah über die Schulter zurück. »Ich weiß, dass es mir nicht zusteht«, begann er, »aber darf ich dich trotzdem um etwas bitten?«

Der Posten starrte ihn mit steinernem Gesicht an. Erst nach etlichen Augenblicken nickte er.

»Würdest du davon absehen, Bruder Horace Meldung von diesem Zwischenfall zu machen?«, fuhr Rother fort. »Ich weiß, dass es eigentlich deine Pflicht ist, aber du würdest Bruder Robin eine Menge Ärger ersparen. Er ist ein tapferer Ritter und einer der gottesfürchtigsten unter uns, aber mit seiner Orientierung steht es leider nicht zum Besten.«

Wieder ließ der Mann deutlich mehr Zeit verstreichen, als Robin lieb war, doch schließlich rang er sich zu einem abermaligen, abgehackten Nicken durch. »Gut«, sagte er. »Aber gib acht, dass er nicht in die falsche Richtung läuft, wenn Ihr gegen die Muselmanen zieht.«

Wahrscheinlich waren diese Worte nur scherzhaft gemeint, doch Rothers Blick verdüsterte sich schlagartig weiter, und auch seine Stimme klang hörbar kühler, als er mit unbewegtem Gesicht antwortete: »Das werde ich. Und habt Dank.«

Sie setzten ihren Weg fort. Rother ging an der Tür vorbei, durch die Robin hereingekommen war, eilte trotz der mittlerweile vollkommenen Finsternis mit traumwandlerischer Sicherheit voraus und machte sich dann lautstark an einem hölzernen Riegel zu schaffen, der nach einem Augenblick scharrend zurückglitt. Eisige Nachtluft und blasses Sternenlicht schlugen ihnen entgegen, als er eine Tür öffnete und mit einer einladenden Geste beiseite trat, um Robin vorbeizulassen. Sie gehorchte und fand sich unversehens auf einem schmalen hölzernen Absatz außerhalb des Turms wieder, von dem aus etwas in die Tiefe führte, wovon sie nicht ganz sicher war, ob es eine besonders steile Treppe oder vielleicht doch nur eine mit einem Geländer versehene Leiter war. Rother zog die Tür hinter sich wieder ins Schloss, und sie stieg rasch nach unten, ohne auf eine weitere Aufforderung zu warten.

Sie befanden sich jetzt wieder im Innenhof. Der weite, gepflasterte Platz lag vollkommen leer und dunkel vor ihnen, aber Robin hatte trotzdem das intensive Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht war der Posten ihnen gefolgt, um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich zu ihren Quartieren zurückgingen.

Sie wartete, bis Rother an ihre Seite getreten war, und setzte dazu an, etwas zu sagen, doch er brachte sie mit einer fast erschrockenen Geste und einem eindeutig beschwörenden Blick zum Schweigen, machte eine Kopfbewegung zum Palas und eilte los. Erst als sie den Hof überquert und das wuchtige Hauptgebäude der Burg betreten hatten, blieb er wieder stehen und wandte sich zu ihr um. Der Blick, mit dem er sie bedachte, war alles andere als freundlich. »Ich hoffe, dir ist klar, dass der Mann Meldung machen wird«, sagte er. »Besser, du denkst dir schon einmal eine gute Geschichte aus, wenn Bruder Horace dich fragt, was du in diesem Turm gesucht hast.«

Eigentlich hatte Robin sich bei ihm bedanken wollen. Sie wagte es nicht einmal, sich auszumalen, was geschehen wäre, wäre Rother nicht im letzten Moment aufgetaucht und hätte den Posten einfach überrumpelt. Aber sein tadelnder Ton machte sie zornig. »Vielleicht wird Bruder Horace dich ja fragen, warum du für mich gelogen hast«, sagte sie anstelle der Worte, die sie sich eigentlich zurechtgelegt hatte. »Oder was du dort oben gesucht hast.« Sie legte den Kopf auf die Seite, und ihre Augen wurden schmal. »Spionierst du mir nach?«

Sie bedauerte die Worte, noch bevor sie sie ganz ausgesprochen hatte, denn Rother wurde keineswegs wütend - womit sie gerechnet hätte -, sondern wirkte einen Moment lang vollkommen hilflos, und dann zutiefst verletzt. Im nächsten Moment breitete sich auch schon ein Ausdruck von Trotz auf seinem Gesicht aus.

»Und wenn es so wäre?«, fragte er patzig.

»Dann würde ich mich fragen, warum«, gab Robin zurück. Sie versuchte sich selbst in Gedanken zur Ordnung zu rufen. Ganz egal, warum - Rother hatte sie aus einer zumindest unangenehmen Situation gerettet, und sie dankte es ihm, indem sie ihn attackierte! Was sie tat, war zumindest unfair. Und trotzdem hörte sie sich beinahe zu ihrem eigenen Entsetzen fortfahren: »Bruder Dariusz scheint eine sichere Hand in der Wahl seiner Spione zu haben. Berichte ihm ruhig, was du gesehen hast. Aber vergiss dabei nicht zu erzählen, dass ich dir das Leben gerettet habe.«

Rother blickte sie jetzt nicht mehr mit einem Ausdruck von Verletztheit an. Es war viel schlimmer. Einen kurzen Moment lang sah er entsetzt aus, und für einen noch kürzeren Augenblick hatte Robin das sichere Gefühl, dass er nur noch mit allerletzter Anstrengung die Tränen zurückhielt. Dann verhärteten sich seine Züge. Er ballte die Hände zu Fäusten, fuhr auf dem Absatz herum und stürmte mit wehendem Mantel davon.

Robin blickte ihm hilflos nach. Sie streckte den Arm aus, wie um ihn zurückzuhalten, und alles in ihr schrie danach, ihm zuzurufen, dass sie es nicht so gemeint hatte, dass es ihr Leid täte, aber ihre Kehle war zugleich auch wie zugeschnürt. Vollkommen reglos stand sie da und sah ihm nach, während er durch die Halle lief und schließlich wieder auf dem Hof verschwand, und sie blieb auch dann noch eine geraume Weile in unveränderter Haltung stehen und fragte sich vergebens, warum sie das gesagt hatte. Es war nicht das erste Mal, seit dieser Irrsinn begonnen hatte, dass sie etwas sagte oder auch tat, was sie nicht wollte; als wäre da plötzlich ein Teil in ihr erwacht, der mit aller Macht an ihrer eigenen Zerstörung arbeitete.

Aber vielleicht war auch das nur eine billige Ausrede, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, dass sie sich wie eine hysterische Närrin verhalten hatte.

Niedergeschlagen und den Tränen nahe, wandte sie sich um und kehrte in ihr Quartier zurück. Unterwegs begegnete ihr niemand, auch wenn sie das bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden, nicht für einen Moment abschütteln konnte.

Die Tür zu dem winzigen Zimmer, das ihr Horace zugewiesen hatte, stand offen. Seltsam - sie war fast sicher, sie vorhin trotz der Eile, in der sie gewesen war, hinter sich geschlossen zu haben. Aber wahrscheinlich war sie nicht mehr in der Verfassung, ihren eigenen Erinnerungen trauen zu können.

Robin trat gebückt ein. Die Kerze, die auf dem dreibeinigen Schemel neben dem Bett stand, war nahezu heruntergebrannt, und die Flamme flackerte bedrohlich in dem Luftzug, den sie mit ihrer eigenen Bewegung verursachte. Ohne hinzusehen, griff sie nach dem schlichten Holzregal neben der Tür, auf dem Horace ihr eine Anzahl weiterer Kerzen zurückgelassen hatte, entzündete den Docht an der fast heruntergebrannten Flamme und beschützte das noch winzige Flämmchen mit der hohlen Hand, während sie das Ende der frischen Kerze in das geschmolzene Wachs drückte.

Erst als sie sich wieder aufrichtete, sah sie den Stoffstreifen, der auf ihrem Bett lag.

Robin erstarrte mitten in der Bewegung.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand war hier gewesen.

Einen halben Atemzug lang starrte sie das kleine Stück aus harmlosem Leinenstoff vollkommen reglos an, dann prallte sie so abrupt zurück, als hätte sie an seiner Stelle einen Skorpion oder eine giftige Spinne auf ihrem Bett entdeckt, und ihre Hand schloss sich ohne ihr Zutun, ja beinahe ohne dass sie es überhaupt registrierte, um den Schwertgriff an ihrem Gürtel. Sie hatte die Waffe schon zu einem Drittel gezogen, als ihr klar wurde, wie albern sie sich benahm. Trotzdem schob sie das Schwert nicht wieder in seine Scheide zurück, sondern warf einen raschen, nervösen Blick durch die offen stehende Tür auf den Gang hinaus, bevor sie die Waffe gänzlich zog und den Stoffstreifen fast behutsam mit der Spitze des Schwertes berührte.

Nichts geschah.

Robin sagte sich zum zweiten Mal, dass sie sich wie eine komplette Närrin benahm, aber sie trat trotzdem nicht näher an das Bett heran, sondern schob die Schwertklinge nur behutsam unter den Leinenstreifen und hob ihn dann mit einem Ruck an.

Darunter kam nichts Bedrohliches zum Vorschein; weder eine Spinne, noch ein Skorpion oder eine Schlange oder irgendein anderes, giftiges Getier. Aber sie sah, dass auf der Rückseite des kaum handgroßen Stofffetzens etwas geschrieben stand.

Endlich schob Robin das Schwert in die Scheide zurück, ging zur Tür und legte mit einer fast unbewussten Bewegung den Riegel vor, bevor sie sich umdrehte und mit klopfendem Herzen zum zweiten Mal ans Bett herantrat. Ihre Finger zitterten leicht, als sie den Fetzen aufhob und ihn so ins schwache Kerzenlicht hielt, dass sie die Schrift darauf erkennen konnte.

Im allerersten Moment erschienen ihr die zwar in sichtlicher Hast, dennoch kunstvoll hingekritzelten Buchstaben und Worte keinen Sinn zu ergeben. Die Tinte war noch frisch. Als Robin mit dem Daumen darüber rieb, blieb ein schmieriger schwarzer Streifen auf ihrer Haut zurück, und eines der Worte wurde gänzlich unleserlich.

Robin ging neben dem Schemel in die Knie und brachte den Stoff näher an die Kerze heran. Das flackernde Licht schien die Buchstaben zu unheimlichem Leben zu erwecken, als versuchten sie aus dem Stoff herauszuspringen, um ihr ihre Botschaft zu übermitteln. Nachdem sie sie einige Augenblicke lang angestrengt angestarrt hatte, wurde ihr zumindest klar, dass die Worte in lateinischer Schrift geschrieben waren. Vor mehr als zwei Jahren, in einer anderen Welt und einem anderen Leben, hatte Bruder Abbé versucht, ihr zumindest die Grundzüge dieser Sprache beizubringen, und obwohl er es irgendwann aufgegeben und bei einer spöttischen Bemerkung der Art belassen hatte, dass es wohl einfacher sei, einem Ochsen das Tanzen beizubringen als einem Bauerntrampel die Sprache der Gelehrten, hatte Robin doch mehr Worte behalten, als ihr bis zu diesem Moment selbst klar gewesen war. Es war ihr nicht möglich, die Botschaft wortwörtlich und ganz genau zu übersetzen, aber es war ihr auch ebenso unmöglich, sie nicht zu verstehen.

Was dort in einer hastigen, aber trotzdem gestochen scharfen Handschrift stand, die in ihrer energischen Art auf eine fast schon Angst machende Weise als die einer hochgestellten Persönlichkeit erkennbar war, das bedeutete sinngemäß nichts weniger als eine Warnung.

Eine Warnung, dass sie besser daran täte, sich aus der bevorstehenden Schlacht herauszuhalten, wenn sie keine Katastrophe heraufbeschwören wollte.

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