13. KAPITEL


Es war das größte Heerlager, das sie jemals gesehen hatte, und hätte man ihr in diesem Augenblick erzählt, es sei das größte, das es jemals gegeben hatte, sie hätte sogar das geglaubt. Selbst jetzt, in der hereinbrechenden, kurzen Dämmerung des Orients, wirkte es gewaltig. In den wenigen Augenblicken, in denen Tag und Nacht miteinander rangen und die Schatten so schnell länger zu werden schienen, dass selbst ein galoppierendes Pferd Mühe haben musste, ihnen zu folgen, erschien es Robin beinahe noch beeindruckender als vor einer Stunde, als der gewaltige Tross hier an den Ufern des Litani Halt gemacht und die Männer damit begonnen hatten, das Lager aufzuschlagen; ein Lager, das das letzte vor der bevorstehenden Schlacht und für nur zu viele von ihnen wohl das letzte überhaupt werden würde. Die bunten Zelte der Ritter, in denen Kerzen oder Öllampen brannten, leuchteten in der blasser werdenden Dämmerung wie riesige, farbenfrohe Laternen.

Robin wusste nicht, wie viele Männer aus Safet aufgebrochen waren und wie viele sich unterwegs noch zu ihnen gesellt hatten. Es mussten Tausende sein, aber diese Zahl war im Laufe des Tages bedeutungslos geworden. Zum allerersten Mal befand sich Robin inmitten eines wirklichen Heeres, nicht eines kleinen Trüppchens, das sich nur mit diesem Wort schmückte. Während sie mit Dariusz und seinen Männern nach Osten gezogen war, hatte sie geglaubt, Teil einer gewaltigen Armee zu sein, doch schon der erste Blick, den sie am Morgen in die Ebene hinabgeworfen hatte, als sie neben Horace aus dem Tor der Templerburg geritten war, hatte sie eines Besseren belehrt. Die Zahl der Reiter und Fußtruppen, die in gewaltigen, unordentlich wirkenden Blöcken am Fuße des Festungsberges Aufstellung genommen hatten und auf die Templer, die Ritter des Lazarusordens und vor allem den König warteten, sprengte ihr Vorstellungsvermögen. Es blieb sich gleich, ob sie Hunderte, Tausende oder noch mehr zählten - es waren unendlich viele.

Und es waren mehr geworden, je weiter sie sich nach Osten bewegten. Jetzt, am frühen Abend, hatten sich die Truppen mit dem Heer König Balduins vereinigt und Lager hier am Ufer dieses schmalen, schlammigen Flusses aufgeschlagen, und obwohl sie seit mehr als einer Stunde beschäftigt waren, war ein Ende immer noch nicht abzusehen, wuchs das Heerlager noch immer in alle Richtungen und breitete sich entlang des Flussufers aus wie ein riesiger, bunter Flickenteppich, in dem sich zahllose Glühwürmchen verfangen hatten.

Robin streifte seit nahezu einer Stunde ziellos durch das Lager, zerrissen von den unterschiedlichsten Fantasievorstellungen und Gefühlen. Das in Latein verfasste Geschmiere auf dem Stoffstreifen, das sie in ihrer Kammer in Safet vorgefunden hatte, rumorte in ihr wie ein Stück nicht mehr ganz frischen Fleisches, das einem auch nach einem Tag noch sauer aufstoßen kann. Doch sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach: Sie kam nicht im Geringsten darauf, wer es verfasst haben könnte. Bruder Horace und Bruder Abbé fielen ihr als Verdächtige genauso ein wie Rother; aber vielleicht war es auch irgendein anderer Templer gewesen, der sich von ihr herausgefordert fühlte oder einen Grund hatte, ihr eine gut gemeinte Warnung zukommen zu lassen. In jedem Fall gedachte sie nicht daran, ihr nachzugeben. Ganz im Gegenteil, sie hatte ihren Trotz geweckt.

Und das war beileibe noch nicht alles, was ihre Gefühle in Wallung brachte. Auch wenn sie bislang nirgends eine Spur von Salim und den Assassinen hatte ausmachen können, war sie sicher, dass er schon ungeduldig auf sie warten würde. Ihr Herzschlag, der sich bei dem Gedanken an ihn spürbar beschleunigte, verriet, wie sehr sie sich nach Salims Umarmungen und seinen leidenschaftlichen Küssen sehnte. Doch das musste warten, sie konnte und wollte die Templer nicht vor der Schlacht verlassen; vielleicht weniger, weil sie sich auf eine morbide Art ihnen noch immer zugehörig fühlte, sondern vielmehr, weil es ihr - besonders jetzt - wie die feige Flucht vor dem anstehenden Waffengang vorgekommen wäre.

Das alles trug nicht gerade zur Verbesserung ihrer Stimmung bei. Sie war müde wie ganz gewiss jeder einzelne Mann hier, denn der Tag war lang und grausam heiß gewesen, und Balduin und seine Ritter hatten dem Heer nur eine einzige, viel zu kurze Rast gegönnt, aber sie spürte zugleich auch, dass sie jetzt noch keine Ruhe finden würde. In ihrer zerrissenen Stimmung konnte sie trotz ihrer Müdigkeit und Erschöpfung auch nicht im Entferntesten an Schlaf denken, und sie musste nur einen einzigen Blick in die Runde werfen, um zu begreifen, dass es den meisten anderen hier wohl ebenso erging; wenn auch mit Sicherheit sonst niemand die Sehnsucht nach seinem Liebsten verzehrte.

Ansonsten war hier alles so vollkommen anders, als sie es sich vorgestellt hätte. Sie hatte geglaubt, dass die Stimmung in einem Heerlager, noch dazu am Vorabend einer großen Schlacht, deren Ausgang nicht annähernd so gewiss war, wie Odo und Ridefort am vergangenen Tag behauptet hatten, niedergeschlagen, gedrückt und vielleicht sogar ängstlich wäre, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Sah sie einmal von dem kleinen Geviert ab, in dessen unsichtbaren Grenzen die Templer ihre Zelte aufgeschlagen hatten, so wurde fast überall gelacht und fröhlich geschwätzt. Aus manchen Zelten drang Musik, an mehr als einem Lagerfeuer wurden Schläuche herumgereicht, in denen sich vermutlich kein Wasser befand, es roch nach gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot, und hier und da sah sie auch einen Weiberrock in einem Zelt verschwinden oder auch die Hand eines Ritters ganz unverblümt sich unter einen solchen schieben.

Sie hörte das heisere Kreischen von Wetzsteinen, die über Klingen gezogen wurden, das Scheppern von Metall, wo ein Schild ausgebeult oder ein zerschlagener Helm gerichtet wurde, das Peitschen von Bogensehnen, die ein letztes Mal prüfend gespannt und losgelassen wurden, das erleichterte Schnauben von Pferden, die nach einem langen ermüdenden Tag endlich vom Gewicht ihres Sattelzeugs und der Schabracken befreit waren. Musik drang in schrillen, misstönenden Fetzen an ihr Ohr, und einmal blieb sie eine Weile stehen und beobachtete einen Knappen, der ein schäbiges kleines Fass scheinbar ziellos mit dem Fuße hin und her rollte. Erst nach einer geraumen Weile wurde ihr klar, dass sich darin feiner Sand und das Kettenhemd eines Ritters befanden, das auf diese Weise effektiv vom letzten Stäubchen Flugrost gereinigt wurde. Auch das gehörte zu den viel zu vielen Dingen, die Bruder Abbé und die anderen ihr beigebracht und die sie wieder vergessen hatte.

Robin fragte sich mit einem ihr selbst nicht ganz verständlichen Gefühl von Trauer, wie viele es noch sein mochten. Nachdem sie Salims Frau geworden war, hatte sie geglaubt, sich von ihrem alten Leben, das doch im Grunde aus nicht sehr viel mehr als einer Aneinanderreihung von Entbehrungen, Erniedrigungen, Schmerzen, Demütigungen und Lügen bestanden hatte, ohne allzu große Wehmut oder gar Trauer verabschieden zu können, und die Monate, die sie auf Masyaf verbracht hatte, schienen ihr Recht zu geben. Nur sehr selten hatte sie an diese Zeit zurückgedacht, und noch sehr viel seltener hatte sie dabei das Gefühl gehabt, tatsächlich etwas verloren zu haben, irgendetwas oder irgendjemandem nachtrauen zu müssen. Vielleicht Bruder Abbé, der ihr nicht nur das Leben gerettet hatte, sondern - mit Ausnahme ihrer Mutter - vielleicht bis dahin der einzige Mensch gewesen war, der es ganz selbstlos wirklich gut mit ihr gemeint hatte, der ihr einfach geholfen hatte, ohne etwas zu verlangen. Nun aber begann sie sich zu fragen, ob sie sich nicht vielleicht die ganze Zeit über etwas vorgemacht hatte. All das hier war noch immer ein Teil ihres Lebens, und vielleicht ein größerer, als sie sich selbst hatte eingestehen wollen.

Vielleicht hätte sie noch länger dagestanden und dem Jungen zugesehen, der mit missmutigem Gesicht sein Fass über den sandigen Boden trat und immer öfter ärgerliche Blicke in ihre Richtung warf, hätte sie nicht plötzlich wieder das Gefühl gehabt, angestarrt zu werden. Hier in diesem Lager war das eigentlich nichts Außergewöhnliches. Obwohl das Heer Tausende und Abertausende zählte, stellte der weiße Mantel eines Tempelritters doch noch immer etwas ganz Besonderes dar, das ganz natürlich neugierige Blicke auf sich zog, zumal wenn er von einem Ritter getragen wurde, der kaum dem Knabenalter entwachsen zu sein schien. Dieses Gefühl aber war anders. Unangenehm.

Robin drehte sich um und stellte ohne Überraschung zweierlei fest: Sie hatte sich nicht getäuscht, und es war kein Fremder, der sie beobachtete.

»Du musst nicht dort drüben im Schatten stehen und mich anstarren, Rother«, sagte sie kopfschüttelnd. »Komm ruhig her zu mir. Vielleicht entgeht dir sonst am Ende noch ein verräterisches Wimpernzucken oder ein sündiger Blick, von dem du Dariusz berichten kannst.«

Einen Moment lang geschah nichts. Der junge Tempelritter blieb einfach weiter reglos im Schatten eines großen, nur nachlässig aufgebauten Zeltes stehen, das ein wenig windschief wirkte, und obwohl Robin in dem rasch nachlassenden Licht sein Gesicht nicht erkennen konnte, kam er ihr in diesem Moment vor wie ein Kind, das sich bei einer Missetat ertappt fühlte und einfach die Augen schloss und hoffte, nicht gesehen zu werden, solange es die anderen nicht bemerkten. Der Gedanke erschien ihr absurd, zauberte aber schon im nächsten Moment ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen, als ihr klar wurde, dass sie sich an eine Begebenheit aus ihrer eigenen Jugend erinnerte. Sie selbst war es gewesen, die im Spiel das Gemüsebeet einer Nachbarin zertrampelt und ganz genau so reagiert hatte.

Rother gab sein albernes Verhalten schließlich auf und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Sein Blick streifte den Knappen mit dem Fass, und er schürzte kurz und fast verächtlich die Lippen. Ganz offensichtlich hielt er nicht viel von solcherlei kleinen Tricks, so nützlich sie auch sein mochten. Wahrscheinlich, dachte Robin, teilte er Dariusz’ Meinung, dass ein Ritter, der diese Bezeichnung wirklich verdiente, es gar nicht erst so weit kommen lassen würde, dass seine Rüstung Rost ansetzte.

»Warum bist du nicht in deinem Zelt?«, fragte er.

»Weil es mir niemand befohlen hat«, antwortete Robin spöttisch. Rother sah sie leicht verwirrt an, und Robin rang sich zu einem entschuldigenden Lächeln durch und fügte mit einer entsprechenden Geste und veränderter, versöhnlicher Stimme hinzu: »Du hast völlig Recht, Rother. Ich sollte die Zeit nutzen und schlafen. Aber ich finde keine Ruhe.«

Rothers Blick wurde für einen Moment abschätzend. Wahrscheinlich, dachte Robin, fragte er sich, ob diese freundlichen Worte nur der Vorbereitung einer neuen, gezielten Attacke dienten, und wahrscheinlich hatte sie genau das verdient. Obwohl es ihr schwer fiel, sprang sie innerlich über ihren Schatten und fuhr fort: »Gehen wir ein Stück gemeinsam? Nicht, dass ich mich am Ende verirre und du mich abermals suchen musst.«

Auch diese Worte konnte er sehr wohl falsch verstehen, das war ihr klar.

Er hob jedoch nur die Schultern und deutete aus der gleichen Bewegung ein Nicken an. Vielleicht war er es einfach müde, mit ihr zu streiten. »Dann gehen wir ein Stück«, sagte er in einem Ton, als wäre es sein Vorschlag gewesen. Ohne Robins Antwort abzuwarten, ging er an ihr vorbei und ein paar Schritte weit so schnell voraus, dass sie beinahe rennen musste, um ihn wieder einzuholen. Als sie zu ihm aufgeschlossen hatte, ging er wieder langsamer und sah fast ein bisschen verlegen aus.

»Morgen ist der Tag, auf den wir schon so lange warten«, sagte Rother, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.

Robin sah ihn fragend an.

»Ich habe vorhin ein Gespräch zwischen Odo und Gerhard von Ridefort mit anhören können«, erklärte Rother. »Die Späher sind zurück. Wir werden spätestens morgen Abend auf Faruks Heer treffen. Vielleicht schon eher.«

In seiner Stimme schwang ein vollkommen unangemessener Unterton von Begeisterung mit, fand Robin. »Du klingst, als ob du dich darauf freust.«

»Du nicht?« Rother klang ehrlich verwundert.

Robin überlegte sich ihre Antwort sehr genau. »Morgen werden viele gute Männer sterben.«

»Wenn es Gottes Wille ist.« Rother schien sogar selbst zu merken, wie sich seine Worte anhören mussten, denn er rettete sich in ein verlegenes Schulterzucken und senkte den Blick, während er mit langsamen Schritten neben ihr herging. »Ja, du hast Recht. Viele gute Männer werden morgen sterben. Vielleicht auch ich.« Er warf ihr einen fast scheuen Seitenblick zu. »Vielleicht auch du.«

»Vielleicht«, sagte Robin einsilbig.

»Hast du Angst?«, fragte Rother.

»Zu sterben?« Robin dachte einen Moment lang ernsthaft über diese Frage nach und nickte schließlich. »Ja. Du nicht?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Rother. Er schürzte fast trotzig die Lippen. »Ja, du hast Recht. Es werden eine Menge guter Männer sterben. Zu viele. Aber sie werden nicht umsonst sterben. Wenn die Sonne das nächste Mal aufgeht, gehört das Heilige Land endgültig uns.«

»Wie meinst du das?«

»Wir werden die Schlacht gewinnen«, sagte Rother überzeugt.

»Saladin hätte seine Armee niemals teilen dürfen. Selbst seinem ganzen Heer wären wir überlegen - seine halbierte Armee ist kein Gegner für uns!«

»Bruder Horace schien mir da anderer Meinung zu sein«, sagte Robin.

Rother machte ein abfälliges Geräusch. »Bruder Horace ist ein alter Mann. Vielleicht einer unserer besten, aber dennoch ein alter Mann, dem es an Zuversicht und Gottvertrauen mangelt.«

Robin schluckte die Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. Vielleicht hatte Rother ja sogar Recht. »Immerhin sind uns selbst Faruks Truppen zahlenmäßig überlegen«, gab sie zu bedenken.

»Saladins Neffe!« Rother spie das Wort aus wie eine Obszönität. »Ein Kuhhirte! Seine Heldentaten bestehen aus Überfällen auf wehrlose Frauen und Kinder und alte Männer. Selbst die Plünderer, auf die wir vor zwei Tagen gestoßen sind, lachen über ihn.«

»Du meinst die Männer, die uns alle beinahe getötet hätten?«, fragte sie sanft.

Rother wurde wütend. Er blieb mit einer abrupten Bewegung stehen, ergriff sie grob an der Schulter und machte mit der anderen Hand eine ausholende, fast wütend-deutende Geste in die Runde. »Sieh dich doch um! Sieh dir diese Männer an! Glaubst du wirklich, Saladins Schafhirten und Kameltreiber wären diesem Heer gewachsen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem heftigen Kopfschütteln. »Das hier ist die Faust Gottes, Bruder Robin! Sie wird die Heiden zerschmettern!«

Und das glaubst du wirklich?, dachte Robin traurig. Sie warf nur einen einzigen Blick in Rothers Augen und beantwortete ihre eigene Frage selbst, ja. Er glaubte es.

Ihre zweifelnden Blicke blieben Rother nicht verborgen. Mit einer fast wütenden Bewegung ergriff er sie abermals am Arm, zerrte sie grob herum und deutete heftig gestikulierend mit der freien Hand auf einen Hügel nur ein Dutzend Schritte entfernt am Rande des Lagers. Bevor das Heer gekommen war, hatte es dort Gras und einiges kärgliche Buschwerk gegeben; jetzt war es zertrampelt, und der Wind trug die dünne Krume in Form von wehenden graubraunen Staubwolken davon. Der Anblick stimmte Robin traurig. In diesem sonderbaren, verbrannten Land war jedes Stück fruchtbarer Boden kostbar, jede Pflanze, die sie zu Hause achtlos zertreten hätte, ein unersetzlicher Schatz. Unzählige Jahre musste die Natur gebraucht haben, der Wüste dieses kleine Stück Grün abzutrotzen, und sie hatten nur wenige Augenblicke benötigt, das Werk von Jahrhunderten zu zerstören. Und es war nicht nur dieser Hügel. Das Heer hatte eine breite Spur der Verwüstung durch das Land gezogen, die seinen Weg vielleicht noch eine Generation später markieren würde. Obwohl es eigentlich gar nicht ihre Art war, solcherlei Gedanken zu denken, machten sie Robin traurig und wütend zugleich.

Es war jedoch nicht dieser Anblick gedankenloser Zerstörung, den Rother ihr hatte zeigen wollen. Robin glaubte nicht, dass er jemals auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte. Seine ausgestreckte Hand deutete auf einen in eine schlichte, in der Dämmerung schwarz erscheinende Kutte gekleideten Geistlichen, der hoch aufgerichtet auf dem höchsten Punkt des flachen Hügels stand und eine flammende Predigt hielt. Sie waren zu weit entfernt und der Lärm des Lagers ringsum zu laut, als dass Robin die Worte hätte verstehen können, aber das musste sie auch nicht. Der Ausdruck heiligen Zorns auf dem Gesicht des Predigers und seine ausgreifenden, fordernden Gesten verrieten ihr auch so, welcher Art die Predigt war, die er einem guten Dutzend prachtvoll gekleideter Ritter hielt, die im Halbkreis am Fuße des Hügels knieten und ihm mit verzückten Gesichtern lauschten. »Siehst du diese Männer?«, fragte Rother. Auch er schrie fast.

Robin nickte.

»Es sind die edelsten der Edlen«, fuhr Rother erregt fort. »Aber siehst du auch ihre Füße? Weißt du, warum sie die Stiefel ausgezogen haben und barfuss beten?«

Robin sah genauer hin. Rother hatte Recht - die Männer hatten ihr Schuhwerk ausgezogen und knieten barfuss im warmen Sand. Sie nickte und schüttelte praktisch in der gleichen Bewegung den Kopf.

»Weil Gottesfurcht und das Vertrauen in seine Führung die schärfste Waffe im Kampf gegen die Heiden sind!«, antwortete Rother. »Du kennst die Geschichte vom Kampf der barfüßigen Ritter um Jerusalem!«

Robin schüttelte abermals den Kopf, was Rother zu einem neuerlichen, ebenso überraschten wie fast verärgerten Stirnrunzeln veranlasste. Offensichtlich hatte er vorausgesetzt, dass sie wusste, wovon er sprach. »Es ist fast hundert Jahre her«, sagte er.

»Gottes Krieger hatten Jerusalem schon lange und vergebens belagert. Am Abend vor dem letzten Sturm befahl ihr Heerführer ihnen, barfuss und mit unbedeckten Häuptern betend um die Stadtmauern zu ziehen, während sie von ihren Feinden auf den Wällen verspottet und mit Unrat und Abfällen beworfen wurden. Doch am Tag darauf ist mit Gottes Hilfe und gegen jede vernünftige Chance der Sturmangriff auf Jerusalem geglückt, und die Heiden wurden aus der Stadt des Herrn verjagt!«

»Aha.« Robin machte sich mit sanfter Gewalt aus Rothers Griff los und sah ihn fragend an. »Und? Willst du mir damit sagen, dass wir Faruks Truppen morgen barfüßig gegenübertreten sollen?«

Sie bedauerte die Worte augenblicklich, aber das war etwas, woran sie sich in Rothers Gegenwart allmählich zu gewöhnen begann. Anscheinend war es ihr Schicksal, dem jungen Tempelritter gegenüber mit untrüglicher Sicherheit immer den falschen Ton anzuschlagen.

Fast zu ihrem Erstaunen blieb Rother jedoch ruhig. »Nein«, sagte er. »Ich will damit sagen, dass es nicht die Anzahl der Krieger ist, die über den Ausgang einer Schlacht entscheidet. Es ist allein Gottes Wille. Wenn ihm unser Tun gefällig ist, dann wird er uns den Sieg schenken.«

»Und wenn nicht?«, fragte Robin.

»Dann haben wir es wohl nicht anders verdient«, antwortete Rother ernst. Dann lächelte er. »Aber wir werden siegen. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird, aber der Sieg ist uns gewiss. Gott will es.«

Das Schlimme war, dachte Robin traurig, dass er das wirklich glaubte. Es hätte so vieles gegeben, was sie darauf hätte erwidern können, aber sie sprach nichts von alledem aus. Es wäre sinnlos gewesen. Rother konnte sie nicht verstehen, und sie wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als sie es ohnehin schon getan hatte.

Sie wurde einfach nicht schlau aus diesem jungen Ritter. Von allen Männern in Dariusz’ Begleitung war er der einzige, zu dem sie so etwas wie Zutrauen gefasst hatte, und sie spürte auch, dass es Rother umgekehrt ganz genau so erging, und dennoch gelang es ihr nicht, wirklich zu ihm durchzudringen. Hinter seinem freundlichen Lächeln und seinem scheinbar so zugänglichen Wesen verbarg sich etwas, von dem sie nicht wusste, ob es Angst oder vielleicht etwas ganz anderes war.

»Vielleicht ... hast du Recht«, sagte sie ausweichend. »Es ist spät. Wir sollten schlafen. Morgen wird ein sehr anstrengender Tag.«

»Ein sehr wichtiger Tag«, verbesserte sie Rother. Wollte er ihr ein Gespräch aufzwingen?

»Ja, das sicher auch«, antwortete sie mit einem Achselzucken. Sie hatte nicht einmal die Unwahrheit gesagt - sie war müde. Auf jeden Fall zu müde, um sich mit Rother auf ein theologisches Streitgespräch einzulassen. Und schon gar nicht durfte sie sich dazu verführen lassen, ihm mit einem unbedachten Wort zu verstehen zu geben, dass sie beinahe mehr an Salim als an die morgige Schlacht dachte.

»Dann begleite ich dich zu deinem Zelt«, sagte er. »Bevor du dich am Ende tatsächlich noch verläufst.«

Robin seufzte resignierend. »Ich kann dich ja wahrscheinlich sowieso nicht davon abhalten.«

»Das Lager ist groß«, sagte Rother anstelle einer direkten Antwort.

»Und Bruder Dariusz’ Arm reicht weit«, fügte Robin hinzu.

»Was hat er dir angedroht, für den Fall, dass du mich nicht jede Minute des Tages im Auge behältst?«

»Bruder Dariusz hat nichts damit zu tun«, antwortete Rother ernst. Robin hatte damit gerechnet, dass er wütend werden oder auch wieder verletzt reagieren würde, aber er blieb ganz ruhig.

»Ich bin kein Spion wie deine Freunde, die Assassinen.«

Robin beschloss, den letzten Teil seiner Antwort zu ignorieren.

»Den Eindruck hatte ich gestern nicht.«

»Bruder Dariusz hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du sicher in Safet ankommst. Seine anderen Anweisungen habe ich wohl nicht ganz richtig verstanden«, antwortete Rother.

Robin spürte, dass er es ehrlich mit ihr meinte. »Warum läufst du mir dann ständig nach?«, fragte sie dennoch.

»Das tue ich nicht«, behauptete Rother, nur, um praktisch im gleichen Atemzug hinzuzufügen: »Ich mache mir Sorgen um dich, Bruder Robin. Etwas stimmt nicht mit dir. Du verbirgst ein Geheimnis.«

Sah man es ihr so deutlich an?, fragte sich Robin erschrocken, nur um sich ihre eigene Frage gleich selbst zu beantworten. Selbstverständlich sah man es ihr an. Im Grunde war es schon fast ein Wunder, dass es nicht auch alle anderen längst gemerkt hatten.

Aber vielleicht hatten sie es ja, und Rother war nur der Einzige, der ehrlich - oder dumm - genug war, sie ganz offen darauf anzusprechen.

»Das Wesen eines Geheimnisses ist es, Rother«, sagte sie, »dass es nur so lange eines bleibt, wie man nicht darüber spricht.«

»Und das Wesen unserer Gemeinschaft ist es«, antwortete Rother, »dass wir keine Geheimnisse voreinander haben.«

»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich ein Geheimnis hätte«, sagte Robin. »Wenn ich mich richtig erinnere, hast du das gesagt.«

Rothers Miene verfinsterte sich. »Du hast eine flinke Zunge, Bruder Robin. Aber das ändert nichts daran, dass du etwas vor uns verbirgst.«

»Dann nehme ich an, dass du mich doch nicht zu meinem Zelt zurückbegleiten willst«, vermutete Robin kühl. Rother starrte sie noch einen Herzschlag lang beinahe wütend an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte mit wehendem Mantel davon. Robin sah ihm kopfschüttelnd nach - und mit einem heftigen Gefühl von schlechtem Gewissen. Auch wenn Rother sie mit jedem Moment mehr verwirrte, so spürte sie doch zugleich auch, dass er es gut mit ihr meinte. Aber vielleicht war gerade das das Problem. Bruder Abbé hatte vor langer Zeit einmal zu ihr gesagt, dass es kaum etwas Schlimmeres gäbe als Menschen, die es gut mit einem meinen, aber sie begann erst jetzt allmählich zu begreifen, was er wirklich damit hatte ausdrücken wollen.

Sie schüttelte den Gedanken ab und sah sich rasch und fast verstohlen nach beiden Seiten um. Ihr kleiner Disput mit Rother war nicht unbemerkt geblieben. Hier und da war ein Gespräch unterbrochen worden, ein Gesicht in ihre Richtung gedreht oder eine Stirn gerunzelt worden, und sie bemerkte sehr wohl die schadenfrohen Blicke, auch wenn die meisten Männer rasch die Köpfe senkten, sobald sie in ihre Richtung sah. So viel zu ihrem Vorsatz, nicht aufzufallen. Sie war sicher, dass Horace auch von diesem Zwischenfall Kenntnis erlangen würde.

Mit einem resignierenden Seufzer schob sie auch diesen Gedanken von sich und setzte ihren Weg fort. Ziellos wanderte sie weiter durch das Lager. Sie hatte ihr Zelt nicht nur verlassen, um sich umzusehen oder sich lediglich die Zeit zu vertreiben. Genau genommen hielt sie nach Bruder Abbé Ausschau. Den ganzen Tag über hatte sie insgeheim unter den Tempelrittern nach ihm gesucht, ohne ihn allerdings zu entdecken, und mehr als einmal waren ihr Zweifel gekommen, ob sie ihn am vergangenen Abend wirklich gesehen hatte oder vielleicht nur einer Täuschung aufgesessen war, die ihren Ursprung einfach in dem Wunsch gehabt hatte, ihn zu treffen.

Zugleich war sie sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Sie hatte das Gesicht unter der Kapuze nur für den Bruchteil eines Atemzuges aufblitzen sehen, und nicht einmal deutlich, aber wer Bruder Abbé einmal zu Gesicht bekommen hatte, der vergaß ihn nicht. Und diese sonderbare Nachricht ... sie kannte diese Handschrift, auch wenn ihr ihre Bedeutung noch immer nicht gänzlich klar war. Eine freundliche Warnung von Abbé oder Horace? Eine Drohung von Feinden innerhalb des Templerordens? Auch das war möglich, aber wenn - von wem?

Sie dachte an die merkwürdigen Anspielungen des Großmeisters, dass sie auf Masyaf, der Festung des Alten vom Berge, Ehrengast bei einer Hochzeit gewesen war, was stimmte. Und sie konnte nur hoffen, dass Odo nicht wusste, dass es sich dabei um ihre eigene Hochzeit gehandelt hatte ...

Und sie dachte erneut an Salim, und dieser Gedanke wurde von einem dünnen, tief gehenden Schmerz begleitet, der sich wie ein glühender Dolch in ihr Herz bohrte. Wie sehr sie ihn vermisste!

In den letzten Tagen war es ihr immer wieder gelungen, ihn für eine kurze Zeit aus ihren Gedanken zu verbannen. Oh, sie hatte an ihn gedacht - immer wieder hatte es seit jenem schicksalhaften Moment in dem kleinen Dorf am Ufer des Mittelmeeres Momente gegeben, in denen sie an ihn gedacht, sein Gesicht vor sich gesehen oder sich nach dem sanften Klang seiner Stimme zurückgesehnt hatte. Dennoch war es ihr gelungen, es bei einer bloßen Erinnerung zu belassen; Bilder und Geräusche, voller Schmerz und Wehmut, aber dennoch bloße Erinnerungen. Sie hatte den Schmerz und das Gefühl, etwas unbeschreiblich Wertvolles verloren zu haben, bis zu diesem Abend nicht wirklich an ihr Herz herangelassen. Nun aber wurde ihr klar, dass diese vermeintliche Härte sich selbst gegenüber nichts anderes als ein Schutz gewesen war. Und dass diese letzte Mauer, die sie um ihr Herz errichtet hatte, zunehmend zu bröckeln begann. Die Männer, auf die Rother und sie in der Wüste getroffen waren, als sie sich auf dem Ritt nach Safet befanden, hatten gesagt, Salim erwartete sie in seinem Zelt ganz in der Nähe der Kreuzfahrerburg. Doch sie hatte nirgends ein Assassinenzelt entdecken können, und sie hatte es nicht gewagt, danach zu fragen. Morgen, dachte sie matt. Spätestens morgen, wenn sich die unterschiedlichen Heere trafen und miteinander vereinigten, würde sie Salim wiedersehen. Und dann ...

Nein. Robin gestattete sich nicht, diesen Gedanken weiterzudenken. Sie wusste einfach nicht, was geschehen würde. Sie wusste, was sie tun wollte, aber sie war ganz und gar nicht sicher, was sie wirklich tun würde.

Ohne dass sie es selbst gemerkt hätte, hatten sie ihre Schritte immer weiter ins Zentrum des Heerlagers geführt. Die Nacht war längst hereingebrochen, doch es brannten so viele Lagerfeuer, Kochstellen und Fackeln, dass es fast ebenso hell wie am Tage war. Die Luft war erfüllt vom beißenden Rauch des brennenden Holzes, dem Geruch nach gebratenem Fleisch und Fisch, dem Schweiß von Mensch und Tier, einem ganzen Chor der unterschiedlichsten Geräusche und Laute und dem roten Licht der Feuer. Nachdem die Sonne untergegangen war, hätte es deutlich kälter werden müssen, doch Robin hatte ganz im Gegenteil das Gefühl, dass die Hitze noch zugenommen hatte. Zusammen mit dem flackernden roten Feuerschein, dem Lärm, dem Lachen und Rufen aus unzähligen, rauen Kehlen, dem Wiehern der Pferde und dem Klirren von Metall und Fetzen misstönender Musik, die manchmal an ihr Ohr drangen, hatte die Szene für sie plötzlich etwas infernalisches.

Wenn man bedachte, was diesen Männern am nächsten Tag bevorstand, dann waren diese Augenblicke vielleicht die letzten Momente des Friedens, die viele von ihnen erleben mochten, doch die allgemeine Stimmung schien Robin nun auch jeden Rest von Ängstlichkeit und stiller Andacht verloren zu haben. Sie wirkte ganz im Gegenteil beinahe schon aufgekratzt; und dennoch hatte sie plötzlich das unheimliche Gefühl, durch den Vorhof der Hölle zu schreiten. Und zumindest einen Moment lang kam es ihr tatsächlich so vor, als wäre diese Vision weit mehr als ein Trugbild, mit dem sie ihre eigenen Nerven narrten. Direkt vor ihr, vielleicht noch ein Dutzend Schritte oder weniger entfernt, erhob sich ein gewaltiges, rundes Zelt von blutroter Farbe. Ein gutes Dutzend vermummter, schwarz gekleideter Gestalten, die so reglos wie lebensgroße unheimliche Statuen dastanden, umgab dieses Zelt und schien allein durch seine Anwesenheit dafür zu sorgen, dass es niemand wagte, sich ihm weiter als bis auf ein Dutzend Schritte zu nähern, und selbst das allgemeine Lachen und Musizieren und Lärmen schien in der unmittelbaren Umgebung leiser zu klingen.

Auch Robin stockte ganz instinktiv im Schritt. Doch fast im selben Moment wurde ihr klar, dass an diesem Zelt rein gar nichts Mystisches oder gar Teuflisches war, ebenso wenig wie an dem Dutzend Ritter, die es bewachten. Sie hätte das Wappen über dem Eingang nicht einmal mehr sehen müssen, um zu wissen, dass es das Zelt König Balduins war, dessen rote Farbe nur von den zahllosen flackernden Feuern ringsum zu vermeintlichem Leben erweckt wurde, und die scheinbaren Dämonen, die es bewachten, niemand anderes als die Ritter des geheimnis-umwitterten Lazarusordens - obwohl sie sich bei ihnen ganz und gar nicht sicher war, ob es sich tatsächlich noch um Menschen handelte. Jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem sie das Wort bisher benutzt hatte.

Robin näherte sich mit klopfendem Herzen dem Zelt und blieb dann endgültig stehen. Es war nicht ausdrücklich verboten, dem König nahe zu kommen, aber sie wusste natürlich, dass niemand es wagte, sich ihm ohne seine ausgesprochene Einladung oder Erlaubnis zu nähern oder ihn gar anzusprechen. Es hätte auch keinen Grund für sie gegeben, so etwas zu tun; ganz im Gegenteil - schon am vergangenen Morgen hatte sie der Anblick des kränklichen, geschlagenen Königs erschreckt, und obwohl sie sein Gesicht noch nie gesehen hatte, jagte ihr schon der bloße Gedanke, einen Blick hinter seinen Schleier zu werfen, einen eisigen Schauer über den Rücken.

Sie wollte sich gerade umdrehen und möglichst unauffällig wieder davongehen, als der undeutliche Klang erhobener Stimmen aus dem Zelt zu ihr herausdrang. Sie konnte weder hören, was gesprochen wurde, noch erkannte sie eine dieser Stimmen, aber ihr Tonfall war scharf, zum Teil regelrecht wütend, sodass sich Robin in ihrem Entschluss nur bestärkt sah, möglichst ebenso schnell wieder von hier zu verschwinden, wie sie gekommen war. Vermutlich waren etliche der Lazarusritter ohnehin schon auf sie aufmerksam geworden, und sie konnte nur hoffen, dass die Männer ihr Gesicht in dem unsicheren Licht nicht zu deutlich erkannten oder sich vielleicht auch gar nicht die Mühe machten, es sich zu merken. Nach dem gestrigen Tag hatte sie wahrlich keine Lust, nach den Fragen des Großmeisters auch noch die des Königs beantworten zu müssen.

Gerade als sie sich umdrehte, wurde die Plane vor dem Eingang zum Zelt zurückgeschlagen, und Robin erschrak nun wirklich, als sie niemand anderen als Odo von Saint-Amand und den Ordensmarschall Gerhard von Ridefort herauskommen sah. Odos Gesicht war wie eine zu Stein erstarrte Maske des Zorns, und Ridefort gestikulierte aufgeregt mit beiden Händen, wobei er ununterbrochen weiter auf den Großmeister einredete. Es war nicht zu übersehen, dass beide außer sich vor Wut waren.

Aber sie kamen aus dem Zelt des Königs!, dachte Robin verwirrt. Was sollte es dort drinnen zu besprechen geben, das diese beiden Männer so in Wut versetzte? Sie waren Verbündete!

Obwohl der Marschall und Odo nicht so aussahen, als ob sie in ihrem Zorn noch von irgendetwas anderem rings um sich herum Notiz nehmen konnten, wich Robin vorsichtshalber einige weitere Schritte zurück und in den Schatten eines der größeren Zelte, die die unsichtbare Linie rings um das Zelt des Königs markierten, die keiner der gemeinen Soldaten und Ritter zu überschreiten wagte. Ohne dass es ihr selbst bewusst gewesen wäre, bewegte sie sich dabei ebenso rasch wie lautlos und auf eine Art, die sie, hätte sie sich selbst beobachten können, auf schon fast erschreckende Weise an die Art der Assassinen erinnert hätte: Auf eine schwer in Worte zu fassende Weise und trotz ihrer auffälligen, weißen Kleidung schien sie für einen Moment selbst zum Schatten zu werden, den man sah und trotzdem nicht bemerkte und an den sich schon einen Lidschlag später niemand mehr wirklich erinnern würde.

Vermutlich wäre ihre kleine Flucht ohnehin überflüssig gewesen. Ridefort und Odo kamen zwar im Sturmschritt aus dem Zelt heraus, wandten sich aber in die entgegengesetzte Richtung, und es war so, wie Robin vermutet hatte: Sie waren so aufgebracht, dass sie niemanden mehr zu sehen schienen. Um ein Haar wäre Ridefort mit einem der reglos dastehenden Lazarusritter zusammengeprallt, und der Umstand, dass Odo ihn im letzten Moment am Arm ergreifen und zurückreißen musste, weil der Ritter keinerlei Anstalten machte, ihm aus dem Weg zu gehen, schürte seinen Zorn nur noch.

In einigem Abstand und deutlich ruhiger folgte ihnen ein dritter, grauhaariger Tempelritter, den Robin mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge als Bruder Horace erkannte, den Komtur von Safet. Er ging nicht nur allein und deutlich langsamer als die beiden anderen, er wirkte auch sehr viel ruhiger. Beinahe kam es ihr vor, als spiele etwas wie ein Lächeln um seine Lippen, aber die Entfernung war zu groß und das Licht der flackernden Lagerfeuer und Fackeln zu ungewiss, als dass sie wirklich sicher sein konnte.

Vorsichtshalber zog sie sich noch einen weiteren Schritt in den Schatten des Zeltes zurück, doch diesmal kam ihre Bewegung zu spät. Horace war nicht nur deutlich ruhiger als die beiden anderen, sondern auch um einiges aufmerksamer. Nach ein paar Schritten blieb er wieder stehen, legte fragend den Kopf auf die Seite und blickte aus eng zusammengekniffenen Augen direkt in ihre Richtung, sodass sie sich zwar noch für die Dauer eines Herzschlages an die Hoffnung klammern konnte, es könne bloßer Zufall sein, aber selbst wusste, dass das nicht stimmte.

»Bruder Robin?«, fragte er. »Seid Ihr das?«

Für einen noch kürzeren Augenblick spielte Robin ganz ernsthaft mit dem Gedanken, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen. In dem Gewirr aus Zelten, Lagerfeuern und Menschen wäre es ihr vermutlich ein Leichtes gewesen, zu verschwinden, und Horaces Frage machte ihr klar, dass er sie offensichtlich nicht ganz genau erkannt hatte. Doch sie verwarf diesen Gedanken auch ebenso schnell wieder, wie er ihr gekommen war. Mit einem resignierenden, lautlosen Seufzer und möglichst unbewegtem Gesicht trat sie wieder aus dem Schatten des steilwandigen Zeltes heraus und deutete ein Nicken an, während sie sich dem Komtur näherte.

Der Ausdruck, der von Horaces Gesicht Besitz ergriff, als sie näher kam, spiegelte deutlich mehr Verärgerung als Überraschung. »Was tut Ihr hier?«, fragte er.

»Nichts«, behauptete Robin. Sie ging bewusst langsam auf Horace zu, und es kostete sie tatsächlich körperliche Überwindung, dabei zwischen zwei der schwarz gekleideten Lazarusritter hindurchzuschreiten; fast als gäbe es da tatsächlich eine unsichtbare, sehr wohl aber vorhandene Barriere, die das gemeine Volk vom König und seinem engsten Gefolge trennte.

»Nichts?«, wiederholte Horace mit einem fragenden Hochziehen der Augenbrauen. »Das ist vielleicht nicht gerade die Antwort, die ich von einem Ritter Eures Standes erwartet hätte, Robin«, fuhr er fort. »Falls ich Euch tatsächlich darauf aufmerksam machen muss: Tätet Ihr wirklich nichts, wärt Ihr schwerlich hier.«

»Ich war ... unruhig«, sagte Robin mit einem angedeuteten Schulterzucken. »Ich konnte nicht schlafen, also wollte ich mir das Lager ansehen. Und die Männer.«

Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass diese Antwort Horace eher noch mehr verstimmte, aber er sagte nichts dazu, sondern ging weiter und gab ihr mit einer ebenso beiläufigen wie befehlend wirkenden Geste zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte. Erst als sie sich mehr als ein Dutzend Schritte vom Zelt des Königs und aus der Hörweite seiner Wachen entfernt hatten, und ohne sie dabei anzusehen, fragte er: »Hattest du bei diesen Männern eine bestimmte Person im Auge?«

Robin wäre um ein Haar erschrocken zusammengefahren. Horace war von all den Männern, die ihr in den letzten Tagen begegnet waren, der einzige, der wirklich wusste, wer sie war - er konnte doch unmöglich so leichtsinnig sein, dieses Geheimnis um einer ironischen Bemerkung willen aufs Spiel zu setzen!

»Ich verstehe nicht ganz ...«, begann sie.

Horace beschleunigte seine Schritte ein wenig, bis sie ebenso schnell gingen wie Odo und der Marschall, die schon einen gehörigen Vorsprung vor ihnen gewonnen hatten, ohne dabei allerdings wirklich zu ihnen aufzuschließen, bevor er antwortete.

»Man hat mir berichtet, dass du vergangene Nacht in einem Teil der Burg gesehen worden bist, der weit entfernt von deinem Quartier liegt.«

Robin seufzte. »Ich wusste, dass sich Rother nicht an das Schweigegelübde hält. Aber ich wusste nicht, dass er ein Plappermaul ist.«

Täuschte sie sich, oder huschte ein kurzes, aber sehr ehrliches Lächeln über Horaces Gesicht, als er sie flüchtig von der Seite her musterte? Seine Stimme zumindest klang ernst. »Vielleicht solltest du froh sein, dass er nur zu mir gekommen ist. Es gibt einige unter uns, die selbst eine so kleine Verfehlung hart bestrafen würden.«

»Und Ihr gehört nicht dazu?«

»Zumindest nicht an einem Tag wie diesem«, antwortete Horace. »Wir werden morgen jedes bisschen Kraft brauchen, das wir aufbringen können. Eine Stunde auf den Knien und frische Narben auf dem Rücken sind der Kampfkraft eines Ritters nicht unbedingt zuträglich.«

»Wie schade, dass nicht jeder unserer Brüder dieser Meinung ist«, antwortete Robin. »Viele von uns würden sonst morgen wesentlich kraftvoller in die Schlacht reiten können.«

Horace sah sie auf eine sonderbare Weise an, ein wenig irritiert, aber auch nachdenklich. Dabei fragte sich Robin selbst, warum sie das eigentlich gesagt hatte. Sie verstieß damit nicht nur gegen das Schweigegelübde, das - obgleich es hier offensichtlich von kaum jemandem ernst genommen wurde - immer noch galt, sondern erzählte Horace auch wahrlich nichts Neues. Schon während der Überfahrt auf der Sankt Christophorus war sie Zeugin mehr als eines Streites zwischen ihm und Dariusz geworden, bei dem es um ganz genau dieses Thema gegangen war. Sie gestand sich ein, dass sie einfach plapperte, um Horace vielleicht davon abzubringen, eine andere Frage zu stellen, deren Beantwortung ihr sehr viel unangenehmer gewesen wäre.

Natürlich tat er es doch, und natürlich tat er es auch genau in diesem Moment, fast als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Nun, um bei Eurer wenig ritterlichen Art der Sprache zu bleiben, Bruder Robin - man hat mir tatsächlich zugetragen, dass Ihr neugierig seid und viele Fragen stellt. Und mir selbst ist aufgefallen, wie aufmerksam Ihr die Gesichter unserer Brüder studiert habt.«

Er lächelte. »Ihr habt Euch von der Kolonne entfernt, nicht wahr?«

Robin gab auf. Horace verfügte offensichtlich nicht nur über eine Menge neugieriger Augen und großer Ohren, die ihm alles zutrugen, sondern war darüber hinaus auch selbst ein aufmerksamer Beobachter, dem kaum etwas entging. Schon gar nicht das, was er eigentlich nicht sehen sollte.

»Ihr habt Recht«, gestand sie, wobei sie den zerknirschten Ton in ihrer Stimme nicht einmal zu spielen brauchte. »Ich habe ...«

Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, die plötzlich so trocken und spröde geworden zu sein schienen, dass sie kaum noch weitersprechen konnte, und setzte neu an.

»Gestern Nacht, während des Matutin ... ich dachte, ich hätte Bruder Abbé gesehen.«

»Und Ihr wart auf der Suche nach ihm?«, fragte Horace, ohne dabei auch nur mit einer Silbe auf ihre eigene Frage einzugehen. »Warum seid Ihr nicht einfach zu mir gekommen?«

Robin sah ihn einen Moment lang fast hilflos an und musste sich dann eingestehen, dass sie es nicht wusste. Die Wahrheit war, dass sie gar nicht auf diese Idee gekommen war.

»Abbé ist nicht hier«, fuhr Horace fort. Robin sagte auch dazu nichts. Sie hoffte, dass sie ihre Züge diesmal besser unter Kontrolle hatte als gerade. So unglaublich es ihr selbst erschien - sie spürte, dass Horace log. Außerdem war sie mittlerweile sicher, Abbé gestern Abend erkannt zu haben.

»Und wäre er hier«, fuhr Horace fort, nachdem er etliche Schritte schweigend neben ihr einhergegangen war und vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, »so hätte er Besseres zu tun, als das Wiedersehen mit Euch zu feiern, Bruder Robin.«

Die sonderbare Art, in der er das Wort Bruder betonte, war kein Zufall, das war Robin klar. Er wollte ihr damit etwas ganz Bestimmtes sagen, aber sie wusste nicht, was. Sie reagierte auch darauf nicht, und zu ihrer Erleichterung schien sich Horace damit zufrieden zu geben, denn er verfolgte das Thema nicht weiter. Eine ganze Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, und Robin fiel abermals auf, wie streng Horace darauf zu achten schien, den Abstand von guten dreißig oder vierzig Schritten, die sie zu Odo und Ridefort einhielten, nicht kleiner werden zu lassen. Sie musste an das Streitgespräch in dem Zelt denken, dessen Ohrenzeuge sie geworden war, und an den Ausdruck unverhohlener Wut auf den Gesichtern der beiden hochrangigen Tempelritter, als sie herausgekommen waren. Schließlich hielt sie es nicht mehr länger aus und kleidete ihre Neugier in eine Frage.

Fast zu ihrer Überraschung beantwortete Horace sie. »Unser Großmeister und der Marschall sind verärgert«, räumte er unverblümt ein.

»Aber sie kamen von einer Audienz des Königs«, sagte Robin verwundert. »Ich dachte bisher, unser Orden genießt sein ganz besonderes Vertrauen und sein besonderes Wohlwollen.«

Horace bemühte sich, ein zerknirschtes Gesicht zu machen, aber wieder hatte Robin das sichere Gefühl, die Andeutung eines Lächelns über seine Lippen huschen zu sehen, als er antwortete.

»Ja, das dachten Odo und Marschall Ridefort bis zum heutigen Abend wohl auch.«

»Was ist geschehen?«, fragte Robin.

»Mir scheint, König Balduin wird allmählich erwachsen«, erwiderte Horace. Nicht, dass Robin mit dieser Antwort irgendetwas anfangen konnte.

»Haben wir uns ... durch irgendetwas seinen Unmut zugezogen?«, fragte sie zögernd.

Diesmal war das Lächeln, das Horaces Kopfschütteln begleitete, mehr als nur angedeutet. »Nein. Es ist wohl eher so, dass er nicht mehr auf alles hört, was ihm jemand mit einem beeindruckenden Titel und einer langen Liste vermeintlicher oder auch wirklicher Heldentaten rät. Ich habe Odo gewarnt, aber er hat meine Worte in den Wind geschlagen. Er hält Balduin für krank - er ist es - und schwach - er ist es nicht - und scheint nicht begreifen zu wollen, dass er in wachsendem Maße die Tugenden eines wirklich großen Herrschers entwickelt. Großmut, Klugheit und Willensstärke.«

»Und was bedeutet das?«

»Zum Beispiel, dass König Balduin den Großmeister und den Marschall unseres Ordens brüskiert hat, indem er uns und unsere Brüder morgen nicht im Herzen der Schlacht haben will.«

Nun war Robin ehrlich überrascht. Auch wenn sie noch niemals eine richtige Schlacht erlebt hatte, so wusste sie doch, dass die Templer traditionell die Speerspitze eines Angriffes bildeten, und das nicht nur, weil ihr Glaube es von ihnen verlangte oder sie überheblich genug waren, sich als unbesiegbar zu fühlen. In gewissem Maße waren sie es sogar. Selbst die tapfersten und stärksten muslimischen Reiter konnten dem Anprall einer Hundertschaft schwer gepanzerter Tempelritter auf ihren gewaltigen Schlachtrössern nicht widerstehen.

»Unsere Aufgabe morgen ist es lediglich, die Flanken des Heeres zu sichern«, fuhr Horace fort. »Eine sehr wichtige Aufgabe, wenn du mich fragst. Mehr als eine Schlacht ist schon entschieden worden, weil ein kluger Feldherr dafür gesorgt hat, dass Flanken und Rücken des Heeres gedeckt sind.«

»Aber Odo sieht das anders«, vermutete Robin.

»Ja«, seufzte Horace. »Um es mit deinen Worten auszudrücken: Er und Ridefort schäumen vor Wut. Sie fühlen sich zu reinen Zuschauern degradiert.« Er lachte ganz leise. »Ich fürchte, sie werden in dieser Nacht nicht besonders gut schlafen.«

»Aber Ihr schon«, vermutete Robin. In ihrer Stimme war ein leicht vorwurfsvoller Ton, der sie selbst überraschte und auch erschreckte, denn erst er machte ihr klar, dass ein Teil von ihr den Zorn und die Enttäuschung der beiden Tempelritter nicht nur verstand, sondern auch teilte. Auf eine völlig absurde, widersinnige Art fühlte sie sich um ihre erste große Feldschlacht betrogen - als ob sie jemals vorgehabt hätte, wirklich daran teilzunehmen!

Horace musste auffallen, dass sie nicht unbedingt seiner Meinung war. Er maß sie mit einem eindeutig tadelnden Blick. »Diesmal wird unseren Brüdern, den Johannitern, die Ehre zuteil, als Erste auf die Armeen Saladins zu treffen.«

»Oh«, machte Robin nur. Auch wenn sie den Grund dafür niemals wirklich verstanden hatte, so wusste sie natürlich um die uralte Rivalität zwischen dem Templer- und dem Johanniter-orden. Mit einem Male konnte sie den Zorn des Großmeisters noch besser verstehen. Nicht unmittelbar an der Schlacht teilnehmen zu dürfen, musste ihn verletzt und vielleicht in seiner Ehre gekränkt haben, diesen Platz jedoch an die alten Rivalen des Johanniterordens abtreten zu müssen, musste für ihn wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

»Und was können sie besser, was wir nicht können?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete Horace. Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, seine wahren Gefühle zu verhehlen. Warum auch immer, irgendetwas an der Situation schien ihn über die Maßen zu amüsieren. »Politik, Robin. Es ist nichts als Politik.«

»Politik?«

»Du weißt nicht viel über den König und den Hof in Jerusalem, nicht wahr?«, erkundigte er sich.

Robin schüttelte den Kopf. Sie war auch nicht sicher, ob sie wirklich viel mehr darüber wissen wollte, als sie in den letzten Stunden und Tagen erfahren hatte.

»Seit Balduin den Thron von Jerusalem bestiegen hatte«, begann Horace, »hat in Wahrheit seine Mutter regiert, Agnes von Courtenay, eine Schlampe, die mit jedem Mann ins Bett hüpft, weshalb sie auch von Balduins Vater Amalrich verstoßen wurde.«

Robin sah ihn leicht verwundert an. Horace war normalerweise kein Mann, der über solcherlei Dinge sprach, schon gar nicht in diesem Ton.

»Unglückseligerweise hat Agnes beste Verbindungen zu den Templern und zu Rainald de Châtillion, dem Grafen von Oultrejourdain, und etlichen anderen wichtigen Adeligen, mit denen sie vermutlich das Lager geteilt hat oder die hoffen, dass sie es tun wird, wenn sie ihr nur lange genug zu Gefallen sind. Sie plädiert für eine radikale Kriegspolitik gegen Saladin, und solange Balduin ihre gehorsame Marionette war und getan hat, was sie von ihm verlangte ...« Er hob mit einem leisen Seufzen die Schultern und fuhr kopfschüttelnd und in verändertem und noch amüsierterem Ton, wie es Robin schien, fort: »Auf der anderen Seite steht Maria Komnena, die Stiefmutter Balduins, eine byzantinische Prinzessin und eine sehr kluge Frau. Zusammen mit den Johannitern und nicht wenigen Fürsten aus der nördlichen Hälfte des Königreiches ist sie für ein friedliches Nebeneinander mit den Heiden, zum Wohle aller.«

Sein Blick streifte flüchtig Robins Gesicht, als wolle er auf diese Weise unhörbar hinzufügen, dass sie selbst, Robin, schließlich der lebende Beweis dafür war, dass diese vermeintliche Häresie sehr wohl funktionieren konnte. »Beide, Mutter und Stiefmutter, wirken ständig auf Balduin ein. Selbst ein gesunder junger Mann könnte dabei in tiefste Verwirrung gestürzt werden.«

»Aber Balduin ist alles andere als gesund«, stellte Robin fest.

Horace nickte bekümmert. »Leider nicht. Gerade jetzt, da er endlich zu einem eigenen Willen findet und sich den Einflüsterungen seiner falschen Berater entzieht und Dinge selbst entscheidet, wird die Krankheit schlimmer.«

»Vielleicht ist es ein Zeichen Gottes«, murmelte Robin.

Horace ignorierte die Bemerkung. »Er tut mir Leid«, sagte er, leise und in einem sehr ehrlich bekümmert klingenden Ton. »Er lädt Sternendeuter und muslimische Wunderärzte an seinen Hof in Jerusalem ein, und er vertraut immer mehr und mehr den Rittern und Priestern des Lazarusordens.«

»Und was hat das damit zu tun, dass er uns nicht in die Schlacht ziehen lässt?«, fragte Robin.

»Balduin stärkt die Flanken, weil er ein kluger Mann ist. Ein weiser Feldherr hält seine stärkste Waffe stets in Reserve. Sollte sich die Schlacht ungünstig entwickeln, können seine besten Ritter das Blatt vielleicht doch noch einmal wenden. Verläuft die Schlacht hingegen günstig, wirft er seine Auserwählten in den Kampf, wenn die Reihen der Gegner zu wanken beginnen, und versetzt ihnen so den Todesstoß. Odo und Gerhard sind zweifelsohne tapfere Ritter, aber in ihrem Ungestüm vergessen sie manchmal Maß und Ziel. Odo versteht einfach nicht, dass unser Orden durch Balduins Entschluss geehrt und nicht etwa zurückgesetzt wurde.«

»Das ist eine Art von Ehre, die ich nicht ganz verstehe«, bekannte Robin.

»Das habe ich auch nicht erwartet«, erwiderte Horace. »Du wirst es verstehen, später. Und vielleicht sorgt das, was der König an diesem Abend entschieden hat, dafür, dass du auch lange genug lebst, um es verstehen zu können.«

Robin wollte abermals widersprechen, doch mittlerweile hatten sie das kleine Zeltlager der Templer inmitten des größeren Lagers fast erreicht, und Horace machte eine knappe Geste.

»Genug«, sagte er. »Es spielt auch keine Rolle, ob du oder ich es verstehen oder irgendjemand hier mit Balduins Befehl einverstanden ist oder nicht. Es ist der Wille des Königs. Auch unser Großmeister und der Marschall werden sich ihm beugen, keine Sorge.« Er wiederholte seine abwehrend-befehlende Geste, obwohl Robin gar nichts gesagt hatte. »Und nun geh in dein Zelt. Wir alle sollten uns frühzeitig zur Ruhe begeben, um morgen bei Kräften zu sein. Für heute wurde uns das Gebet zum Matutin erlassen. Wir werden uns erst zur Prima wieder zum gemeinsamen Gebet versammeln. Ruh dich aus, Robin. Morgen wird ein harter Tag. Auch für dich.«

Gerade die letzte Bemerkung verstand Robin nicht, bekam aber auch keine Gelegenheit mehr, noch eine weitere Frage zu stellen. Horace deutete nur noch einmal knapp auf das etwas kleinere, einzeln stehende Zelt ganz am Rande des Lagers, das er ihr zugewiesen hatte, und wandte sich dann mit einer schon fast brüsken Bewegung um und ging.

Robin blieb völlig verstört zurück. Immer intensiver hatte sie das Gefühl, dass Horace ihr etwas ganz Bestimmtes hatte mitteilen wollen und es im allerletzten Moment doch nicht getan hatte. Aber was?

Obwohl sie spürte, dass sie noch immer viel zu aufgewühlt war, um auch nur an Schlaf zu denken, wandte sie sich gehorsam um und ging zu ihrem Zelt, schon um sich nicht endgültig Horaces Unmut zuzuziehen, wenn ihm zu Ohren kam, dass sie seinen nur als guten Rat getarnten Befehl abermals missachtet hatte. Körperlich müde, innerlich aber zitternd vor Anspannung, ließ sie sich auf die schmale Pritsche sinken, die die gesamte Einrichtung des kleinen Zeltes darstellte. Anders als alle anderen Ritter hier im Lager hatte Robin ein Zelt für sich ganz allein. Sie vermutete, dass Horace ihr dieses Privileg verschafft hatte, was außer ihm allenfalls noch Odo und dem Ordensmarschall zustand, aber sie fragte sich dennoch, wie er diese Sonderbehandlung wohl begründen würde, sollte ihn einer der anderen Ritter danach fragen. Während sie Kettenhemd und Gambeson ablegte, fragte sie sich besorgt, wie lange sie ihr Geheimnis wohl noch wahren konnte, wenn sie so auffällig begünstigt wurde.

Müde und nur noch mit einem dünnen Hemd bekleidet, streckte sie sich auf ihrer Lagerstatt aus und löschte mit den Fingern die Flammen der kleinen Öllampe, die daneben auf dem Boden stand.

Sie schlief ein, noch bevor die Dunkelheit gänzlich über ihr zusammenschlagen konnte.

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