Ich schnellte sofort aus der Hütte – die instinktive Reaktion eines Kriegers. Das Mädchen folgte mir auf dem Fuße.
Am Ufer der Insel sah ich Fackeln leuchten. Ein Kind lief an mir vorbei. Der Tanzkreis war leer; nackt ragte der Pfahl in die Höhe. Eine Frau schrie. Befehle erschallten, Waffen klirrten. Ein Rencebauer taumelte auf uns zu, einen Armbrustpfeil in der Brust. Irgendwo weinte ein Säugling.
Im Licht der Handfackeln sah ich die hohen gebogenen Bugspriete schmaler Sumpfbarken aufragen, die von Sklaven gerudert werden.
Telima hob die Hände an die Wangen und sah sich mit aufgerissenen Augen um. Sie schrie. Ich packte sie am rechten Handgelenk und ließ sie nicht wieder los, zerrte sie auf das entgegengesetzte Ende der Insel zu, wo Dunkelheit herrschte. Aber auch von dort kamen uns Rencebauern entgegen, Männer, Frauen und Kinder, stolpernd, fliehend. Wir hörten die Rufe ihrer Verfolger, sahen Speerspitzen im ungewissen Licht aufblitzen.
Wir schlossen uns ihnen an und flohen in die andere Richtung, doch in der Dunkelheit vor uns klang eine Trompete auf. Verwirrt hielten wir inne. Ein Hagel Armbrustpfeile deckte uns ein. Menschen schrien. Ein Mann neben uns sank zu Boden.
Wieder machten wir kehrt und stolperten über die verwobene Rencematte, die die Oberfläche der Insel bildete.
Hinter uns gellten Trompeten und das Geräusch von Speeren, die gegen Schilde geschlagen wurden. Dann schrie vor uns eine Frau auf. »Sie haben Netze!« rief sie.
Wir wurden in die Netze getrieben.
»Halt!« rief ich und riß Telima zurück. Doch die meisten, die mit uns flohen, rannten in panischem Entsetzen weiter, rasten blind auf die Netze zu, die vor ihnen aufgespannt waren, von Sklaven gehalten. Es handelte sich nicht um kleine Fangnetze, sondern um riesige große Netzwände, die jeden Widerstand sinnlos machten.
Nun hörte ich auch von der anderen Seite der Insel den entsetzten Schrei: »Netze, Netze!«
Als wir unentschlossen hin und her rannten, erschienen plötzlich Krieger aus Port Kar zwischen uns, mit Helmen und Schilden, mit Schwertern und Speeren bewaffnet, andere mit Knüppeln und Messern, wieder andere mit Peitschen, Schlingen oder Netzen. Sie waren in Begleitung von Sklaven, die Fackeln in die Höhe hielten, damit sie sich orientieren konnten.
Ich erblickte den Rencebauern, der das Stirnband aus Perlen getragen hatte. Er hatte nun das weiße Seidentuch über die Schulter ausgebreitet und bis zum Gürtel herabgezogen. Neben ihm stand ein großer behelmter Krieger aus Port Kar, den Goldstreifen eines Offiziers am Helm. Der Rencebauer zeigte hierhin und dorthin und gab den Männern aus Port Kar Befehle.
»Henrak!« rief Telima. »Das ist doch Henrak!«
So hörte ich zum erstenmal den Namen des Mannes mit dem Stirnband.
In Henraks Hand baumelte ein Beutel, der Gold enthalten mochte.
Dicht neben uns stürzte ein Mann zu Boden; aus seinem Hals ragte eine Speerspitze. Ich legte den Arm um Telimas Schulter und führte sie weg.
Telima rannte weinend neben mir. Ich sah die Netze von den beiden Inselufern her vorrücken. Die Soldaten trieben mit Speeren erschreckte Rencebauern auf die Mitte zu.
Auf allen Seiten brüllende Männer, kreischende Frauen, weinende Kinder, überall Männer aus Port Kar und ihre Sklaven, die Fackeln und Netze hielten. Ein Junge rannte vorbei. Es war der Junge, der mir Rencekuchen gegeben hatte und deshalb von seiner Mutter gescholten worden war.
Im Licht der Sumpffackeln sah ich Ho-Hak mit dem Mut der Verzweiflung kämpfen. Mehrere Krieger lagen vor ihm am Boden. Wild schwang er einen Ruderstamm im Kreise, von etwa fünfzehn Kriegern umgeben. Die Fackeln glitzerten auf ihren Schwertern.
Ho-Hak bot einen furchteinflößenden Anblick, schwitzend, schweratmend, die Ohren flach anliegend. Das Ende seiner verrosteten Sklavenkette wirbelte herum.
»Tharlarion!« brüllte er die Männer aus Port Kar an, die jedoch nur lachten.
Schließlich senkten sich zwei Fangnetze über ihn. Die Krieger stürzten vor und schlugen ihn mit Schwertgriffen und Lanzenschäften bewußtlos.
Telima schrie auf, und ich zerrte sie fort.
Wieder rannten wir durch das Chaos, das auf der Insel herrschte. Am Ufer brannten Renceboote im Wasser. Hier gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr. Ein Rencebauer schrie im Wasser, von den Kiefern eines Sumpftharlarion gepackt.
»Da sind zwei!« rief jemand.
Wir fuhren herum und sahen vier Krieger auf uns zukommen. Wir machten kehrt und näherten uns wieder dem Licht, den Fackeln in der Inselmitte, den kreischenden Frauen und Männern.
Nahe dem Pfahl, an den man mich gebunden hatte, lagen einige Rencebauern, Männer und Frauen, gefesselt am Boden. Zwei Wächter wachten über die Beute, die später auf die Barken gebracht werden sollte. Ein Schriftgelehrter machte die Runde und notierte die Zahl der Gefangenen, die ständig wuchs.
»Da!« brüllte plötzlich Henrak, der Mann mit dem weißen Tuch über der Schulter. Er zeigte auf uns. »Holt das Mädchen! Ich will sie haben!«
Telima starrte ihn entsetzt an und begann den Kopf zu schütteln.
Ein Krieger sprang auf uns zu.
In diesem Augenblick eilte eine Gruppe von fünf oder sechs fliehenden Rencebauern vorüber und trennte uns. Telima machte kehrt und verschwand in der Dunkelheit. Ich ging zu Boden, rappelte mich hastig wieder auf. Im nächsten Augenblick traf mich ein Knüppel. Ich schüttelte den Kopf. Blut rann mir übers Gesicht. In meiner Nähe fesselte ein Krieger eine Sklavin. Es war nicht Telima. Ich rannte in die Richtung, die das Mädchen eingeschlagen hatte.
Plötzlich baute sich ein Mann vor mir auf. Hätte er geahnt, daß ich ein Krieger war, wäre er wahrscheinlich vorsichtiger mit seinem Schwert umgegangen. Ich umfaßte sein Handgelenk und kugelte mit einem Ruck den Arm aus. Er schrie auf, dann war die Klinge in meiner Hand. Ein zweiter Mann stürzte mit einem Speer auf mich zu. Ich ergriff den Lanzenschaft mit der Linken, zerrte ihn heran und stieß gleichzeitig mit dem Schwert zu, das tief in seinen Hals drang.
Der Sklave, der seine Fackel trug, starrte mich an und wich zurück.
Plötzlich spürte ich ein Netz über mir. Ich duckte mich und vollführte zugleich mit dem Schwert eine kreisende Bewegung über dem Kopf, erwischte das Netz, ehe es mich umschließen konnte. In der Dunkelheit fluchte ein Mann. Im nächsten Augenblick stürzte er mit erhobenem Messer auf mich zu. Meine Klinge hatte das Netz halb durchschnitten, war aber darin gefangen. Ich umfaßte mit der Linken sein Handgelenk und führte mit dem rechten Arm mein Schwert samt Netz zum tödlichen Hieb. Ein Speer zuckte auf mich zu, verfing sich jedoch ebenfalls in dem Netz, das um mein Schwert gewickelt war. Ehe der Werfer seine eigene Klinge gezogen hatte, sprang ich ihn an und brach ihm das Genick.
Vor mir schimmerte eine Fackel. Ich eilte darauf zu. Da sah ich Telima. Ein Mann hatte sie auf den Bauch geworfen und fesselte sie. Ich packte ihn, drehte ihn herum und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Als er sein Schwert zu ziehen versuchte, hob ich ihn hoch und warf ihn ins Wasser, wo bereits mehrere Tharlarion auf der Lauer lagen. Sie hatten reiche Beute in dieser Nacht.
Telima drehte sich auf die Seite und starrte mich an. »Ich möchte nicht Sklavin sein!« schluchzte sie.
Gleich mußten weitere Krieger hier sein.
Ich hob sie hoch.
»Still«, sagte ich und sah mich um. Im Augenblick waren keine Gegner in der Nähe. Zu unserer Linken wurde es hell. Eine der Renceinseln, die mit unserer Insel verbunden war, begann zu brennen.
Hastig blickte ich mich um, suchte verzweifelt nach einem Ausweg.
Auf der einen Seite lag der Sumpf, in dem die Tharlarion lauerten. Überall trieben die lodernden oder rauchenden Reste von Rencebooten auf dem Wasser, die zu Beginn des Überfalls losgebunden und angesteckt worden waren, um eine Flucht der Rencebauern zu verhindern. Auf der anderen Seite das Licht der Fackeln, das Schreien der Menschen – und die Sklavenhändler von Port Kar.
Über eine der Floßbrücken zwischen den Inseln wurden jetzt gefangene Rencebauern auf unsere Insel getrieben.
Die Flöße, die Brücken, dachte ich, die Flöße!
Telima im Arm, lief ich am Ufer der Renceinsel entlang, ohne einem Gegner zu begegnen. Dieses Gebiet war zuvor mit den großen Netzen gesäubert worden, so daß sich hier keine Rencebauern mehr befanden. Allerdings begannen sich nun Fackeln der Stelle zu nähern, wo wir eben noch gewesen waren; kurz darauf teilte sich die Gruppe, und eine Hälfte der Lichter schlug den Weg in unsere Richtung ein.
Irgendwo erschallte Henraks Stimme. »Beschafft mir das Mädchen. Ich muß das Mädchen haben!«
Ich erreichte eine der Floßbrücken, die ich am Vormittag noch mit befestigt hatte. Ich setzte Telima in der Mitte des Floßes ab und begann, die Renceleinen durchzuschneiden.
Am Ufer näherten sich die Fackeln.
Es waren acht Leinen, vier auf jeder Seite. Ich hatte sechs Verbindungen gelöst, als jemand »Halt!« brüllte.
Die Insel auf der anderen Seite der Floßbrücke hatte nun zu brennen begonnen, und gleich mußte diese Stelle taghell erleuchtet sein.
Nur ein Mann hatte gerufen, offenbar ein Wächter, der für diesen Abschnitt zuständig war. Sein Speer landete dicht neben mir, bohrte sich in das Floß. Sein Schwert ziehend, rannte er auf mich zu. Ich hatte die Lanze aus dem Holz gerissen und hielt sie dem Anstürmenden entgegen. Offenbar war er vom Feuer geblendet, denn er sah sie nicht. Sein Körper wurde glatt durchbohrt.
Ich drehte mich hastig um. Offenbar hatte uns sonst niemand gesehen.
Da glitt ich ab, sofort schnappte ein winziger Tharlarion zu, biß mir ein Stück Fleisch aus dem Schenkel, hastig zog ich das Bein wieder aus dem Wasser.
Fackeln kamen näher. Mit fliegenden Fingern riß ich Rence vom Inselufer los, häufte es in der Mitte des Floßes auf, bedeckte Telima damit, dann stieß ich das Floß von der Insel ab und kroch neben das Mädchen unter die Rencebüschel. Sie starrte mich erschreckt an.
Die Fackeln entfernten sich wieder. Unbemerkt trieb das Floß zwischen den Inseln hervor.