Wir lagen Seite an Seite und starrten zur Decke hinauf.
»Vor Jahren«, sagte Telima, »als ich noch viel jünger war, da habe ich viel von Tarl aus Bristol singen hören.«
»In den Sümpfen?« fragte ich.
»Ja. Manchmal verirrt sich ein Sänger bis zu den Renceinseln. Aber in Port Kar, im Hause meines Herrn, wurde ebenfalls von Tarl aus Bristol gesungen.«
Telima hatte mir nie von ihrer Sklavenzeit in Port Kar erzählt. Ich wußte, daß sie ihren Herrn gehaßt hatte und daß ihr die Flucht gelungen war. Und ich spürte, daß diese Zeit tiefe Wunden in ihr hinterlassen hatte. In den Sümpfen hatte ich leider etwas von ihrem Haß und ihrer Frustration zu spüren bekommen. Die Wunden waren tief gewesen, so tief, daß sie sich auf grausame Weise hatte rächen wollen, damit ihr eigenes Leiden erträglicher wurde. Telima war eine seltsame Frau. Ich fragte mich erneut, wie sie zu dem goldenen Armreif gekommen war. Und ich erinnerte mich, daß sie ja die Schrift auf ihrem Sklavenkragen hatte lesen können, obwohl sie aus den Sümpfen kam.
Aber ich erwähnte diese Dinge nicht, denn der Ton ihrer Stimme war nun träumerisch, ihre Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit.
»Als ich noch jung war, auf den Renceinseln«, sagte sie, »und später, als Sklavin – da lag ich oft nachts wach und dachte an die Lieder und an die Helden.«
Ich berührte ihre Hand.
»Und manchmal dachte ich auch an Tarl aus Bristol.«
Ich schwieg.
»Glaubst du, daß es einen solchen Mann gibt?«
»Nein.«
»Könnte jemand wie er nicht existieren?« fragte sie. Sie hatte sich auf den Bauch gerollt und sah mich an. Ich blieb auf dem Rücken liegen und starrte an die Decke.
»In Liedern«, sagte ich. »So einen Mann mag es in Liedern geben.«
Sie lachte. »Gibt es denn keine wirklichen Helden?«
»Nein, Helden gibt es nicht – nur Menschen.«
Sie schwieg.
»Menschen«, sagte ich, »sind schwach. Sie können grausam sein. Sie sind egoistisch und gierig, eitel und engstirnig. Sie können sich bösartig verhalten, und in ihnen ist viel Häßliches und Verachtenswertes.« Ich sah sie an. »Alle Menschen sind zu korrumpieren. Es gibt keine Helden, keine Tarls aus Bristol.«
Sie lächelte. »Es gibt nur Gold und Macht«, sagte sie.
»Und die Körper der Frauen«, sagte ich.
»Und die Lieder.«
»Ja, auch Lieder.«
Sie legte den Kopf an meine Schulter.
In der Ferne erklang eine große Signalglocke. Obwohl es noch früh war, wurde es unruhig im Haus. Irgendwo brüllten Männer. Ihre Rufe hallten durch die Korridore. Ich richtete mich auf und zog eine Robe an. Schritte hasteten durch den Gang, kamen näher.
»Schwert«, sagte ich zu Telima.
Sie sprang auf, ergriff meine Klinge, die an der Wand lag.
Ich legte hastig den Gurt um. Die Schritte waren nun ganz nahe. Im nächsten Augenblick dröhnte eine Faust gegen die Tür.
»Kapitän!« rief jemand.
Es war Thurnock.
»Tritt ein!« sagte ich.
Thurnock eilte in den Raum. Er trug eine Fackel in der Hand, und seine Augen waren unnatürlich geweitet. »Patrouillenschiffe sind zurückgekehrt!« rief er. »Die vereinten Flotten von Cos und Tyros sind nur noch Stunden entfernt!«
»Macht meine Schiffe zum Auslaufen fertig!« sagte ich.
»Dazu ist keine Zeit mehr!« sagte er. »Und die Kapitäne ergreifen die Flucht. Wer kann, verläßt die Stadt!«
Ich starrte ihn an.
»Flieh, mein Kapitän! Flieh!«
»Du kannst gehen, Thurnock«, sagte ich.
Er starrte mich verwirrt an, machte kehrt und stolperte in den Korridor hinaus. In der Ferne erklang der Angstschrei eines Mädchens.
Ich kleidete mich an und hängte mir das Schwert über die linke Schulter.
»Nimm deine Schiffe und deine restlichen Männer«, sagte Telima. »Füll die Laderäume mit Schätzen und flieh, mein Ubar!«
Ich betrachtete sie. Wie schön sie war!
»Port Kar soll sterben!« rief sie.
Ich ergriff das breite rote Band mit dem Medaillon, nahm es ab und steckte es in den Beutel an meinem Gürtel.
»Port Kar soll brennen!« sagte Telima.
»Du bist sehr schön, mein Schatz«, sagte ich. »Aber Port Kar ist meine Stadt – ich muß sie verteidigen.«
Ich hörte sie weinen, als ich mein Quartier verließ.
Seltsamerweise erfüllte mich keine Unruhe, als ich in den großen Saal zurückkehrte, in dem das Siegesfest stattgefunden hatte. Ich schritt durch den Gang, als wäre ich nicht ich. Ich wußte, was ich tun würde, und doch wußte ich es nicht.
Zu meiner Überraschung fand ich in der großen Halle die Offiziere meiner Männer versammelt – ich glaube, es fehlte keiner.
Ich ließ meinen Blick von Gesicht zu Gesicht wandern – von Thurnock zu Clitus, zum Rudermeister, zu den anderen. Viele Männer waren Halsabschneider, Mörder, Piraten. Ich fragte mich, warum sie jetzt hier waren.
Eine Seitentür wurde aufgestoßen, und Tab eilte herein, das Schwert über der linken Schulter. »Tut mir leid, Kapitän«, sagte er, »ich war gerade auf meinem Schiff beschäftigt.«
Wir starrten uns einen Augenblick lang an. Dann lächelte ich. »Ich kann mich glücklich schätzen«, sagte ich, »einen so eifrigen Mann in meinen Diensten zu haben.«
»Kapitän«, sagte er.
»Thurnock«, sagte ich, »ich habe doch Befehl gegeben, nicht wahr, daß meine Schiffe zum Auslaufen fertigzumachen sind.«
Thurnock grinste. »Schon eingeleitet.«
»Was sollen wir tun?« fragte einer meiner Kapitäne.
Was sollte ich darauf antworten? Wenn die vereinten Flotten von Cos und Tyros schon fast vor unserer Hafeneinfahrt standen, blieb uns kaum eine andere Möglichkeit als die Flucht – oder der Kampf. Eigentlich waren wir zu keinem bereit. Auch wenn wir die erbeuteten Schätze sofort nach meiner Rückkehr eingesetzt hätten, wäre es nicht möglich gewesen, eine Flotte auszurüsten, die einem solchen Gegner gewachsen war.
»Wie groß schätzt du die Flotte von Cos und Tyros?« fragte ich Tab.
Er zögerte nicht. »Viertausend Schiffe«, sagte er.
»Tarnschiffe?«
»Ausnahmslos.«
Seine Vermutung entsprach den Berichten meiner Spione. Nach meinen Informationen würde die Flotte aus viertausendzweihundert Einheiten bestehen, zweitausendfünfhundert von Cos und siebzehnhundert aus Tyros. Die Gesamtflotte würde fünfzehnhundert Galeeren schwerer Klasse, zweitausend Schiffe mittlerer Klasse und siebenhundert kleine Galeeren enthalten. Ein Netz, hundert Pasang breit, zog sich um Port Kar zusammen.
Anscheinend war meinen Spionen das Auslaufen der Flotteneinheiten entgangen. Ich konnte ihnen jedoch keine Schuld geben. Schiffe lassen sich schnell aus dem Hafen bringen und kampfbereit machen, wenn Material und Mannschaften zur Hand sind. Der Rat und ich hatten offenbar den Schaden zu hoch angesetzt, den die Eroberung der Schatzflotte den Kriegsplänen Cos’ und Tyros’ zugefügt hatte. Wir hatten mit dem Vorrücken der Flotte erst im Frühling gerechnet. Wir schrieben den Monat Se’Kara, das Ende der guten Jahreszeit für die Tarnschiffe. Unabhängig von den Rundschiffen sind Rammschiffe meistens nur im Frühling und Sommer unterwegs. Im Monat Se’Kara, besonders gegen Ende, ist das Thassa stürmisch. Wir waren völlig unvorbereitet. Es war die beste Gelegenheit, uns anzugreifen. Hinter diesem kühnen Schachzug sah ich nicht die Hand von Lurius, des Ubar von Cos, sondern die Schlauheit Chenbars aus Kasra, des Ubar von Tyros.
Ich bewunderte ihn. Er war ein guter Kapitän.
»Was sollen wir tun, Kapitän?« fragte der Offizier noch einmal.
»Was schlägst du vor?« fragte ich lächelnd.
Er starrte mich verblüfft an. »Es gibt doch nur eine Möglichkeit – die Schiffe fertig machen zum Auslaufen, Sklaven und Schätze an Bord nehmen und fliehen. Wir sind stark und können vielleicht eine Insel erobern – eine der nördlichen Inseln. Dort kannst du Ubar sein und wir deine Männer.«
»Viele Kapitäne lichten bereits Anker, um in den Norden zu segeln«, sagte ein anderer Offizier.
»Und andere wollen in den Süden«, bemerkte eine Stimme.
»Das Thassa ist groß. Es gibt viele Inseln, viele Häfen.«
»Und was ist mit Port Kar?« fragte ich.
»Es hat keinen Heimstein«, sagte einer der Männer.
Ich lächelte. Das stimmte. Von allen Städten Gors war Port Kar die einzige, die keinen Heimstein besaß. Ich wußte nicht, ob die Männer sie nicht mochten, weil sie keinen Heimstein besaß, oder ob sie keinen Heimstein hatte, weil die Bürger Port Kar nicht liebten.
Der Offizier hatte gefordert, daß die Stadt den Flammen und den plündernden Seeleuten aus Cos und Tyros überlassen werden sollte.
Port Kar hatte keinen Heimstein.
»Wie viele von euch glauben, daß Port Kar keinen Heimstein hat?« fragte ich.
Die Männer sahen sich verwirrt an. Alle wußten natürlich, daß die Stadt keinen Heimstein besaß.
Stille trat ein.
Nach einiger Zeit sagte Tab: »Ich glaube, sie hat einen!«
»Aber«, sagte ich, »noch hat sie keinen.«
»Nein«, sagte Tab.
Einer der Männer sagte: »Ich frage mich, wie es wäre, in einer Stadt mit einem Heimstein zu leben.«
»Wie erwirbt eine Stadt einen solchen Stein?« fragte ich.
»Die Menschen entscheiden, daß sie einen bekommt«, meinte Tab.
»Ja«, sagte ich, und die Männer sahen sich zweifelnd an.
»Holt den Sklaven Fisch!« rief ich.
Die Kapitäne begriffen nicht, was ich wollte, doch einer ging, um den Jungen zu holen.
Ich wußte, daß von den Sklaven keiner geflohen war – dazu hatten sie auch kaum Gelegenheit. Der Alarm war in der Nacht gekommen, und zu dieser Zeit ist es in einem goreanischen Haushalt üblich, daß die Sklaven eingesperrt oder angekettet sind. Auch ich sorgte dafür, daß ich hier keine unangenehme Überraschung erlebte.
Fisch, bleich, nervös, wurde in den Saal gebracht.
»Geh nach draußen«, sagte ich, »suche einen Stein und bringe ihn herein.«
Er starrte mich an.
»Beeil dich!« drängte ich.
Er machte kehrt und hastete hinaus.
Wir warteten schweigend, bis er wieder kam. In der Hand hielt er einen ziemlich großen Stein, etwas größer als meine Faust. Es war ein ganz gewöhnlicher Felsbrocken, grau und schwer und ziemlich körnig.
Ich nahm den Stein zur Hand.
»Ein Messer«, sagte ich.
Man reichte mir eine Klinge.
In den Stein schnitt ich mit der Messerspitze die Initialen Port Kars.
Dann hielt ich den Stein in die Höhe, so daß die Männer ihn sehen konnten.
»Was habe ich hier?« fragte ich.
Tab sagte leise: »Den Heimstein Port Kars.«
»Und jetzt«, sagte ich und wandte mich an den Mann, der sich für die Flucht ausgesprochen hatte, »wollen wir jetzt noch fliehen?«
Er starrte verwundert auf den einfachen Stein. »Ich habe noch nie einen Heimstein gehabt«, sagte er.
»Wollen wir fliehen?«
»Nicht, wenn wir einen Heimstein haben.«
Ich hielt den Stein in die Höhe. »Haben wir einen Heimstein?« fragte ich die Männer.
»Ich akzeptiere den Stein als meinen Heimstein«, sagte der Sklavenjunge Fisch. Keiner der Männer lachte. Der erste, der den Heimstein anerkannte, war nur ein Junge, ein Sklave. Aber er hatte wie ein Ubar gesprochen.
»Und ich auch!« rief Thurnock.
»Und ich!« fiel Clitus ein.
»Und ich!« brüllte Tab.
»Und ich!« riefen die Männer durcheinander. Und plötzlich war der Saal von Jubelgeschrei erfüllt, und über hundert Waffen fuhren aus den Scheiden und grüßten den Heimstein von Port Kar. Freude herrschte in diesem Augenblick, wie ich sie echter und reiner in Port Kar nie zuvor erlebt hatte. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Vertrauen in den Sieg, eine neue Bedeutung für das Leben – Rufe, Waffengeklirr, Tränen.
Ich wandte mich an Thurnock. »Laß die Sklaven frei. Schicke sie durch die Stadt, zum Hafen, in die Tavernen, zum Arsenal, auf die Plätze und Märkte, überallhin. Sie sollen die Neuigkeit verkünden! Sie sollen allen mitteilen, daß Port Kar einen Heimstein hat!«
Männer hasteten aus dem Saal, um meine Befehle auszuführen.
»Offiziere!« rief ich. »Auf eure Schiffe. Bildet eure Linien vier Pasang westlich des Kais des Sevarius! Thurnock und Clitus bleiben hier.«
»Nein!« riefen die beiden und sahen mich niedergeschlagen an.
Ich brachte es nicht fertig, sie in den Tod zu schicken. Ich hatte keine Hoffnung, daß Port Kar genügend Schiffe zusammenbrachte, um die vereinte Flotte von Cos und Tyros abzuwehren. Ich kehrte ihnen den Rücken und verließ mit dem Stein den Saal.
Draußen an meinem Hafenbecken ließ ich ein schnelles Boot kommen. Ich hörte überall die Rufe, daß es einen Heimstein in Port Kar gebe, und sah Fackeln auf den schmalen Steigen, die fast überall die Kanäle begleiten.
»Zum Rat der Kapitäne!« rief ich den Ruderern zu und sprang ins Boot. Als ich mich setzte, bemerkte ich, daß Fisch auf einer der Ruderbänke saß.
»Dies ist Arbeit für Männer, Junge«, sagte ich.
Er zog das Ruder durch. »Ich bin ein Mann, Kapitän«, erwiderte er.
Hinter uns standen Telima und Vina auf dem Kai, doch Fisch blickte nicht zurück. Das Schiff glitt durch die Kanäle Port Kars auf den Ratsbau der Kapitäne zu. Überall flackerten Lichter in den Fenstern.
Der Ruf pflanzte sich durch die Stadt fort, die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, rief überall Aufregung und lebhafte Diskussionen hervor.
Ein Mann stand auf einem schmalen Steg, ein Bündel auf dem Rücken, das er über seinen Speer geworfen hatte. »Ist es wahr, Admiral?« rief er. »Ist es wahr?«
»Wenn du es wahr machst«, sagte ich, »ist es wahr!«
Er starrte mich seltsam an, und als ich mich umsah, hatte er sein Bündel abgeworfen und folgte uns zu Fuß. »Port Kar hat einen Heimstein!« rief er.
Andere blieben stehen und folgten ihm.
In den Kanälen herrschte lebhafter Bootsverkehr – unzählige Tharlarionboote, mit Gütern beladen, die hierhin und dorthin eilten. Offenbar wollten sie alle noch fliehen. Ich hatte gehört, daß Besitzer von größeren Schiffen bereits zu Hunderten in See gestochen waren und daß im Hafen astronomische Summen für eine Passage aus der Stadt gefordert wurden. Heute nacht würde mancher ein Vermögen machen.
»Macht Platz für den Admiral!« rief mein Steuermann. »Macht Platz!«
Wir sahen erschreckte Gesichter in den Fenstern. Männer hasteten auf den schmalen Kanalsteigen entlang.
Die Ruder unseres Boots verhakten sich mit denen eines anderen Fahrzeugs; wir glitten auseinander und setzten unseren Weg fort.
Kinder weinten. Ich hörte eine Frau schreien. Überall sah ich dunkle Gestalten, die ihre Habe in Sicherheit zu bringen versuchten. In vielen Booten, an denen wir vorbeikamen, drängten sich erschreckte Menschen.
»Wohin willst du?« fragte ein Mann, der aus einem Fenster lehnte.
»Ich denke, zum Rat der Kapitäne«, sagte einer der Vorbeieilenden. »Es heißt, wir haben jetzt einen Heimstein in Port Kar.«
Und Männer hinter ihm riefen: »Ja, es gibt einen Heimstein in Port Kar!« Dieser Ruf wurde von Tausenden aufgenommen, und überall hielten Menschen in ihrer Flucht inne, Boote kamen ins Stocken, Menschen stürzten aus den Eingängen ihrer Häuser. Ich sah, wie Waffen gezogen wurden und hinter uns, zu Tausenden jetzt, kamen die Bürger Port Kars, folgten uns zum großen Platz vor dem Ratsgebäude der Kapitäne.
Noch ehe der Mann im Bug meines Boots das Seil ans Ufer geworfen hatte, war ich hinübergesprungen und eilte mit fliegender Robe auf das große Ratsportal zu.
Vier Mitglieder der Ratswache salutierten, indem sie ihre Lanzenschäfte gegen den Boden schlugen.
Ich hastete an ihnen vorbei in den Ratssaal.
Auf mehreren Tischen flackerten Kerzen. Papiere lagen herum. Nur wenige Schreiber oder Pagen waren zu sehen. Von den siebzig oder achtzig Kapitänen, die sonst die Versammlungen besuchten, waren höchstens vierzig anwesend. Als ich eintrat, verließen eben wieder zwei die Halle.
Der Schreiber, der mit ernstem Gesicht hinter dem großen Tisch saß, blickte mich sorgenvoll an. Ich sah mich um.
Die Kapitäne schwiegen. Samos saß auf seinem Platz. Das kurze weiße Haar schimmerte zwischen seinen Fingern hindurch; er hatte den Kopf in die Hände gestützt. Zwei weitere Kapitäne standen auf und verließen die Versammlung.
Einer blieb neben Samos stehen. »Mach deine Schiffe bereit«, drängte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Samos schüttelte den Kopf.
Ich nahm meinen Sitz ein. »Ich bitte ums Wort«, sagte ich zu dem Schriftgelehrten, als handele es sich um eine ganz gewöhnliche Sitzung.
Die Kapitäne blickten auf.
»Sprich«, sagte der Schreiber.
»Wie viele von euch«, wandte ich mich an die Kapitäne, »sind bereit, die Stadt zu verteidigen?«
Bejar, der große langhaarige Kapitän, saß auf seinem Platz. »Spotte nicht, Kapitän«, sagte er aufgebracht. »Die meisten Schiffseigner sind bereits geflohen. Hunderte von kleinen Schiffen, Rundschiffe und Langschiffe, verlassen den Hafen. Das Volk flieht. Panik hat die Stadt gepackt. Wir finden keine Schiffe für den Kampf.«
»Das Volk flieht«, fiel Antisthenes ein. »Es wird nicht kämpfen – wie es von den Bürgern Port Kars auch nicht anders zu erwarten ist.«
»Wer will wissen, wie das Volk von Port Kar wirklich ist?« fragte ich.
Samos hob den Kopf und sah mich an.
»Hört doch!« rief ich. »Hört das Volk! Es wartet draußen!«
Die Männer des Rats hoben lauschend die Köpfe. Durch die dicken Wände, durch die schmalen Fenster des Ratssaals ertönten laute, fordernde Rufe.
Bejar riß sein Schwert aus der Scheide. »Sie wollen uns töten!« sagte er.
Samos hob die Hand. »Nein«, sagte er, »hört doch!«
»Was schreien sie?« fragte ein Mann.
Ein Page hastete in den Saal. »Das Volk!« rief er. »Es drängt sich auf dem Platz! Fackeln! Tausende!«
»Was rufen sie?« fragte Bejar.
»Sie rufen«, sagte der Junge, »daß es in Port Kar einen Heimstein gibt.«
»Das stimmt nicht«, sagte Antisthenes.
»Doch«, sagte ich.
Die Kapitäne starrten mich verständnislos an.
Samos warf den Kopf in den Nacken und lachte dröhnend, schlug mit den Fäusten auf die Armlehnen seines Ratssessels. Nach und nach fielen die Kapitäne ein.
»Es gibt keinen Heimstein in Port Kar!« lachte Samos atemlos.
»Ich habe ihn gesehen!« sagte da eine Stimme neben mir. Verblüfft drehte ich mich um. Der Sklavenjunge Fisch war mir gefolgt. Sklaven dürfen nicht in die Ratshalle der Kapitäne.
»Fesselt den Sklaven und peitscht ihn aus!« rief der Schreiber.
»Aber ich habe den Heimstein von Port Kar gesehen.«
»Es gibt keinen solchen Stein«, sagte Samos.
Langsam zog ich den Stein aus meiner Robe. Niemand sagte ein Wort. Alle Blicke waren auf mich gerichtet.
»Das ist der Heimstein der Stadt«, sagte Fisch.
Die Männer schwiegen.
»Kapitäne«, sagte ich, »begleitet mich auf die Treppe vor dem Gebäude.«
Als ich den Ratssaal verließ, folgten sie mir, und Sekunden später stand ich oben auf der breiten Marmortreppe, die zum Ratsplatz hinabführt.
»Bosk!« riefen die Leute. »Bosk kommt, unser Admiral!«
Ich schaute über die vieltausendköpfige Menge, über der Hunderte von Fackeln flackerten. Ich sah Kanäle im Hintergrund, die voller Boote waren, gefüllt mit Menschen, die ebenfalls Fackeln hielten, deren Feuer sich an den Wänden und im Wasser spiegelte.
Ich schwieg eine Zeitlang, starrte die Menge an. Dann, abrupt, hob ich beide Arme und hielt den Stein hoch.
»Ich habe ihn gesehen!« rief ein Mann ergriffen. »Ich habe den Heimstein von Port Kar gesehen!«
»Der Heimstein von Port Kar!« riefen Tausende. »Der Stein!«
Jubelgeschrei brandete auf, Schreie, Pfiffe, Waffen und Fackeln wurden geschwenkt. Ich sah Männer und Frauen weinen. Ich sah, wie Väter ihre Söhne auf die Schultern hoben, damit sie den Stein sehen konnten.
»Ich verstehe dich jetzt«, sagte Samos, der neben mir stand und dessen Stimme bei dem Lärm kaum zu hören war. »Es gibt ja wirklich einen Heimstein in Port Kar.«
»Du bist nicht geflohen«, sagte ich, »ebensowenig wie die anderen Kapitäne und diese Menschen.«
Er starrte mich an.
»Ich glaube«, fuhr ich fort, »es hat immer einen Heimstein in Port Kar gegeben. Er ist nur erst heute gefunden worden.«
Samos lächelte. »Ich glaube, du hast recht«, sagte er und blickte über die tobende Menge. »Ich glaube, du hast recht.«