7

Eine Schale voller Zuckerwatte.

Nachdem ich den Paß nun hinter mir hatte, betrachtete ich das vor mir liegende Tal. Wenigstens nahm ich an, daß es sich um ein Tal handelte. Unter der dichten Wolken-Nebel-Decke war nichts auszumachen.

Am Himmel färbte sich einer der roten Streifen gelb, ein anderer grün. Dies munterte mich etwas auf, da sich der Himmel irgendwie ähnlich benommen hatte, als ich zum erstenmal den Rand aller Dinge aufsuchte, den Abgrund vor den Burgen des Chaos.

Ich schulterte mein Bündel und wanderte den Pfad hinab. Der Wind nahm allmählich ab. Vage hörte ich das Donnern des Unwetters, vor dem ich auf der Flucht war. Ich fragte mich, wohin Brand verschwunden war. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihn so schnell nicht wiedersehen würde.

Auf halbem Weg, in der Gegend, da der Nebel mich einzuhüllen begann, entdeckte ich einen alten Baum und schnitt mir einen Wanderstab ab. Als der Baum mein Messer spürte, schien er aufzuschreien.

»Verdammt!« tönte eine Art Stimme aus seinem Innern.

»Du bist intelligent?« fragte ich. »Tut mir leid . . .«

»Ich habe lange gebraucht, um den Ast wachsen zu lassen. Vermutlich willst du ihn jetzt verbrennen?«

»Nein«, gab ich zurück. »Ich brauchte einen Spazierstock. Ich habe eine lange Wanderung vor mir.«

»Durch dieses Tal?«

»Genau.«

»Komm näher, damit ich dich besser spüren kann. Irgend etwas an dir scheint zu glühen.«

Ich trat einen Schritt vor.

»Oberon!« rief der Baum. »Ich kenne dein Juwel.«

»Nicht Oberon«, erwiderte ich. »Ich bin sein Sohn. Allerdings bin ich in seinem Auftrag unterwegs.«

»Dann nimm meinen Ast und meinen Segen noch dazu. Ich habe deinem Vater an manchem seltsamen Tag Schutz geboten. Er hat mich gepflanzt, weißt du.«

»Wirklich? Einen Baum pflanzen – das ist eines der wenigen Dinge, die ich Vater niemals habe tun sehen.«

»Ich bin kein normaler Baum. Er pflanzte mich hier ein als Zeichen für die Grenze.«

»Welche Grenze?«

»Ich bin das Ende des Chaos und der Ordnung – je nachdem, von welcher Seite man mich sieht. Ich kennzeichne eine Trennung. Hinter mir gelten andere Regeln.«

»Welche Regeln?«

»Wer vermag das zu sagen. Ich jedenfalls nicht. Ich bin nur ein wachsender Turm intelligenten Holzes. Mein Stock mag dir jedoch Trost spenden. Eingepflanzt vermag er in seltsamen Gegenden Wurzeln zu schlagen. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon? Nimm ihn jedenfalls mit, Sohn Oberons, an jenen Ort, zu dem du unterwegs bist. Ich spüre ein Unwetter nahen. Leb wohl!«

»Leb wohl«, sagte ich. »Und danke.«

Ich machte kehrt und folgte dem Weg in den dichter werdenden Nebel hinab. Allmählich ließ der rosa Schimmer nach. Ich schüttelte beim Gedanken an den Baum den Kopf, doch schon auf den nächsten paar hundert Metern wurde der Weg so uneben, daß mir der Stock gute Dienste leistete.

Dann klarte es etwas auf. Felsen, ein stiller See, etliche traurige kleine Bäume, mit Moosstreifen bekränzt, ein Fäulnisgeruch . . . ich eilte vorbei. Von einem der Bäume aus beobachtete mich ein dunkelgefiederter Vogel.

Während ich ihn noch anblickte, stieg das Tier auf und flatterte gemächlich auf mich zu. Da die jüngsten Ereignisse mich etwas vogelscheu gemacht hatten, duckte ich mich, als das Tier meinen Kopf umkreiste. Schließlich landete es aber vor mir auf dem Weg, legte den Kopf auf die Seite und betrachtete mich mit dem linken Auge.

»Ja«, verkündete der Vogel. »Du bist es.«

»Wer?« fragte ich.

»Der Mann, den ich begleiten werde. Du hast doch nichts dagegen, daß ein Vogel des bösen Omens dir folgt, oder, Corwin?«

Ich lachte. »Im ersten Augenblick will mir nicht einfallen, wie ich dich daran hindern sollte. Wie kommt es, daß du meinen Namen kennst?«

»Ich habe seit dem Anbeginn der Zeit auf dich gewartet, Corwin.«

»Das muß aber recht langweilig gewesen sein.«

»So langweilig ist das nicht gewesen. Zeit ist das, was man daraus macht.«

Ich setzte meinen Marsch fort. Ich ging an dem Vogel vorbei und blieb nicht wieder stehen. Sekunden später zuckte er an mir vorüber und landete rechts von mir auf einem Felsen.

»Ich heiße Hugi«, sagte er. »Wie ich sehe, trägst du ein Stück des alten Ygg bei dir.«

»Des alten Ygg?«

»Der eingebildete alte Baum, der da am Eingang zu diesem Ort steht und es nicht zuläßt, daß man sich auf seinen Ästen ausruht. Bestimmt hat er ordentlich geschrien, als du das Ding da abgeschlagen hast.« Der Vogel lachte schrill.

»Er hat sich sehr zurückgehalten.«

»Und ob! Aber schließlich blieb ihm nicht viel übrig, nachdem es bereits geschehen war. Wirst schon nichts davon haben.«

»Das Ding ist mir sehr nützlich«, widersprach ich und schwang den Stock in seine Richtung.

Flatternd wich er zurück. »He! Das war nicht komisch!«

Ich lachte. »Ich dachte aber, es wäre komisch.«

Ich ging an ihm vorbei.

Endlos führte der Weg durch eine Sumpfzone. Gelegentliche Windstöße ließen den Nebel aufreißen und zeigten mir den weiteren Weg. Von Zeit zu Zeit glaubte ich Musikfetzen zu hören – ich wußte nicht, aus welcher Richtung –, eine langsame und irgendwie feierliche Melodie, die von Instrumenten mit Stahlsaiten gespielt wurde.

Plötzlich wurde ich von links angerufen: »Fremder! Bleib stehen und sieh mich an!«

Irritiert kam ich der Aufforderung nach. In dem verdammten Nebel sah ich aber kaum die Hand vor Augen.

»Hallo!« rief ich. »Wo bist du?«

In diesem Augenblick öffneten sich die Nebelbänke einen Augenblick lang, und ich erblickte einen riesigen Kopf, dessen Augen in gleicher Höhe waren wie die meinen. Sie schienen zu einem Riesenkörper zu gehören, der bis zu den Schultern im Morast versunken war. Der Kopf war kahl, die Haut hell wie Milch und von felsiger Struktur. Im Kontrast dazu wirkten die Augen vermutlich dunkler, als sie es wirklich waren.

»Jetzt sehe ich dich«, sagte ich. »Du scheinst in der Klemme zu stecken. Bekommst du die Arme frei?«

»Wenn ich mir große Mühe gebe.«

»Ich will mich mal umsehen, ob ich etwas finde, an dem du dich festhalten kannst. Dort, das müßte eigentlich gehen.«

»Nein. Nicht nötig.«

»Möchtest du denn nicht raus? Ich dachte, du hättest deswegen gerufen.«

»O nein. Ich wollte nur, daß du mich ansiehst.«

Ich trat näher und starrte das Wesen durch den dichter werdenden Nebel an.

»Na schön«, sagte ich dann. »Ich habe dich angesehen.«

»Spürst du meine Qual?«

»Nicht sonderlich, wenn du dir nicht selbst helfen willst oder die Hilfe anderer ablehnst.«

»Was würde es mir nützen, wenn ich mich befreite?«

»Das ist deine Frage. Beantworte sie selbst.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Warte! Wohin reist du?«

»In den Süden. Ich soll dort in einem Moralstück auftreten.«

In diesem Augenblick flog Hugi aus dem Nebel herbei und landete auf dem großen Kopf. Er pickte daran und lachte.

»Verschwende deine Zeit nicht, Corwin. Hier ist weniger, als uns das Auge vorgaukelt«, sagte er.

Die riesigen Lippen formten meinen Namen. »Ist er es wirklich?«

»Er ist es, sei beruhigt«, erwiderte Hugi.

»Hör zu, Corwin!« sagte der eingesunkene Riese. »Du willst versuchen, das Chaos aufzuhalten, nicht wahr?«

»Ja.«

»Laß es sein. Es lohnt sich nicht. Ich möchte, daß alles zu Ende geht. Ich wünsche mir eine Befreiung aus diesem Zustand.«

»Ich habe dir bereits angeboten, dir herauszuhelfen. Du hast abgelehnt.«

»Um die Art Befreiung geht es mir nicht. Ich ersehne das absolute Ende.«

»Das ist kein Problem«, gab ich zurück. »Tauch den Kopf unter und atme tief ein.«

»Ich wünsche mir nicht meinen persönlichen Tod, sondern das Ende des ganzen törichten Spiels.«

»Es gibt sicher noch andere Leute auf der Welt, die in dieser Sache lieber selbst entscheiden möchten.«

»Für sie soll es auch vorbei sein. Es wird die Zeit kommen, da sie in meiner Lage sind und so fühlen wie ich.«

»Dann haben sie dieselbe Möglichkeit. Guten Tag.«

Ich machte kehrt und ging weiter.

»Du auch!« rief er mir nach.

Nach einiger Zeit holte Hugi mich ein und setzte sich auf das Ende meines Wanderstabes.

»Ganz angenehm, auf Yggs Ast zu sitzen, wo er jetzt nicht mehr – hedal«

Hugi sprang in die Luft und beschrieb einen Kreis.

»Hat mir den Fuß verbrannt! Wie war ihm das nur möglich?« rief er.

Ich lachte. »Keine Ahnung.«

Er flatterte noch ein wenig und näherte sich dann meiner rechten Schulter.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich mich dort ausruhe?«

»Nur zu.«

»Vielen Dank.« Er machte es sich gemütlich. »Der große Kopf ist in Wahrheit ein geistiger Problemfall.«

Ich zuckte die Achseln, und er breitete die Flügel aus, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

»Er versucht etwas zu greifen«, fuhr er fort, »geht dabei aber falsch vor. Er macht nämlich für seine eigenen Schwächen die Welt verantwortlich.«

»Stimmt nicht. Er wollte nicht einmal zugreifen, um aus dem Morast herauszukommen«, widersprach ich.

»Ich meinte das eher philosophisch.«

»Ach, die Art Morast. Das ist schade.«

»Das ganze Problem liegt im Ich, im Ego und seiner Verwicklung mit der Welt einerseits und dem Absoluten andererseits.«

»Ach, wirklich?«

»Ja. Weißt du, wir schlüpfen aus und treiben an der Oberfläche der Ereignisse dahin. Manchmal haben wir das Gefühl, die Dinge tatsächlich zu beeinflussen, und das spornt zum Streben an. Das aber ist ein großer Fehler, weil es Sehnsüchte weckt und ein falsches Ego erstehen läßt, während man sich damit begnügen sollte, einfach nur zu existieren. Darauf bauen sich weitere Wunschvorstellungen und neues Streben auf, und schon sitzt man in der Falle.«

»Im Morast?«

»Gewissermaßen. Man muß den Blick nur fest auf das Absolute richten und es lernen, die Halluzinationen, die Illusionen und das falsche Gefühl der Identität zu ignorieren, die einen als falsche Insel der Bewußtheit von allem anderen trennen.«

»Ich hatte auch einmal eine falsche Identität. Sie half mir sehr dabei, zu dem Absoluten zu werden, das ich heute bin – ich.«

»Nein, das ist ebenfalls falsch.«

»Dann wird mir das Ich, das vielleicht morgen besteht, dafür dankbar sein, so wie ich dem anderen Ich dankbar bin.«

»Du begreifst nicht, was ich sagen will. Jenes Du wird ebenfalls eine Täuschung sein.«

»Warum?«

»Weil es ebenfalls motiviert sein wird von jenen Sehnsüchten und Bestrebungen, die dich dem Absoluten entrücken.«

»Was ist denn daran falsch?«

»Du bleibst allein in einer Welt der Fremden, in der Welt der Phänomene.«

»Es gefällt mir aber allein. Ich bin mit mir ganz zufrieden. Auch mir gefallen Phänomene.«

»Und doch wird das Absolute immer gegenwärtig sein, dich anlocken und Unruhe säen.«

»Gut, dann habe ich ja keine Eile. Aber ja, ich verstehe, was du meinst. Es nimmt die Gestalt von Idealen an. Von denen hat ja jeder ein paar. Wenn du mich auffordern willst, ihnen nachzustreben, so bin ich deiner Meinung.«

»Nein, sie sind nur Verzerrungen des Absoluten, während du nur wieder das übliche Streben meinst.«

»Genau.«

»Ich sehe, daß du noch viel lernen mußt.«

»Wenn du damit meinen vulgären Überlebensinstinkt meinst, vergiß die Sache.«

Der Weg hatte in die Höhe geführt. Wir erreichten eine glatte, ebene Stelle, die dünn mit Sand bestreut war. Die Musik war lauter geworden und nahm auch noch an Lautstärke zu, je weiter ich vorankam. Im Nebel erkannte ich schließlich verschwommene Gestalten, die sich langsam und rhythmisch bewegten. Es dauerte einige Sekunden, bis ich erkannte, daß sie zur Musik tanzten.

Ich schritt weiter, bis ich die Gestalten genauer betrachten konnte – menschlich von Gestalt, hübsch anzuschauen, in höfische Gewänder gehüllt. Sie bewegten sich zu den langsamen Takten unsichtbarer Musiker. Es war ein komplizierter, hübscher Tanz, und ich blieb stehen, um ihn mir ein Weilchen anzusehen.

»Aus welchem Anlaß«, wandte ich mich an Hugi, »wird hier im weiten Nichts ein Fest gefeiert?«

»Man tanzt«, antwortete er, »um dein Vorbeikommen zu feiern. Es handelt sich nicht um sterbliche Wesen, sondern um die Geister der Zeit. Diese törichte Schau begann, als du das Tal betratest.«

»Geister?«

»Ja. Paß auf!«

Der Vogel verließ meine Schulter und flog durch mehrere Tanzende hindurch, als handele es sich um Hologramme, ohne eine der lächelnden Gestalten aus dem Takt zu bringen. Hugi krächzte mehrmals und kehrte zu mir zurück.

»Die Schau gefällt mir«, sagte ich.

»Dekadent«, meinte er. »Du solltest so etwas nicht gerade für ein Kompliment halten, denn man rechnet damit, daß du es nicht schaffst. Sie suchten nur einen Vorwand für eine letzte Feier, ehe der Vorhang endgültig fällt.«

Trotzdem schaute ich ein Weilchen zu, wobei ich mich auf meinen Stab lehnte. Die Formationen der Tänzer bewegten sich langsam im Kreis, bis eine der Frauen – eine kastanienbraune Schönheit – in meiner Nähe war. Die Blicke der Tänzer waren zu keiner Zeit auf mich gerichtet; es war, als wäre ich nicht anwesend. Diese Frau jedoch warf mir mit einer genau berechneten Geste der rechten Hand einen kleinen Gegenstand vor die Füße.

Ich bückte mich und stellte fest, daß ich das Ding greifen konnte. Es war eine silberne Rose – mein Emblem. Ich richtete mich auf und machte sie an meinem Mantelkragen fest. Hugi blickte in die andere Richtung und sagte nichts. Ich hatte keinen Hut, den ich ziehen konnte, dafür verbeugte ich mich vor der Dame. Ich konnte mich irren, doch ihr linker Augenwinkel schien gezuckt zu haben. Ich wandte mich zum Gehen.

Der Boden verlor bald wieder seine Glätte, und schließlich verhallte die Musik. Der Pfad wurde unebener, und wo immer der Nebel aufklarte, sah ich nur Gestein oder öde Ebenen. Ich kräftigte mich mit Hilfe des Juwels, wenn ich nicht mehr weiterkonnte, und stellte dabei fest, daß die hinzugewonnenen Energien in immer kürzer werdenden Abständen aufgefrischt werden mußten.

Nach einer Weile bekam ich Hunger und rastete, um meine verbleibenden Rationen aufzuessen.

Hugi hockte in der Nähe auf dem Boden und sah mir zu.

»Ich gebe zu, daß ich deine Beharrlichkeit in gewisser Weise bewundere«, sagte er, »und auch deine Einstellung, die du mit deinen Worten über die Ideale angedeutet hast. Aber das ist auch schon alles. Wir haben uns vorhin über die Sinnlosigkeit von Sehnsüchten und Streberei unterhalten . . .«

»Du hast davon gesprochen. Für mich ist das nicht die Hauptsorge im Leben.«

»Das sollte sie aber sein.«

»Ich habe schon ein langes Leben hinter mir, Hugi, und du kränkst mich, wenn du unterstellst, ich hätte mich noch nie mit diesen Fußnoten zur Schulphilosophie befaßt. Der Umstand, daß du die nach allgemeiner Übereinstimmung vorhandene Realität unfruchtbar findest, verrät mir mehr über dich als über diese Zustandsform. Und mehr noch, wenn du wirklich glaubst, was du da vorhin gesagt hast, tust du mir leid, weil du aus einem unerklärlichen Grund hier sein mußt, in dem Bestreben, mein falsches Ego zu beeinflussen, anstatt solchen Unsinns ledig auf dem Weg zu deinem Absoluten zu sein. Wenn du nicht daran glaubst, verrät mir das, daß man dich geschickt hat, um mich zu behindern und zu entmutigen, in welchem Falle du deine Zeit verschwendest.«

Hugi stieß eine Art Gurgeln aus. Dann fragte er: »Du bist nicht so blind, daß du das Absolute leugnest, den Anfang und das Ende von allem?«

»Bei einer liberalen Bildung kommt man auch ohne aus.«

»Du gibst die Möglichkeit aber zu?«

»Vielleicht kenne ich das Absolute besser als du, Vogel. Das Ego, so wie ich es sehe, existiert in einem Zwischenstadium zwischen Rationalität und instinktiver Existenz. Es auszulöschen wäre allerdings ein Zurückweichen. Wenn du von jenem Absoluten kommst – einem sich selbst auflösenden Ganzen –, warum möchtest du dann nach Hause zurückkehren? Verachtest du dich selbst so sehr, daß du Spiegel fürchtest? Warum soll die Reise sich nicht wirklich lohnen? Entwickle dich! Lerne! Lebe! Wenn man dich auf eine Reise geschickt hat, warum möchtest du ausbrechen und an den Ausgangspunkt zurückkehren? Oder hat dein Absolutes einen Fehler gemacht, indem es ein Wesen deines Kalibers schickte? Wenn du diese Möglichkeit einräumst, ist unser Gespräch zu Ende.«

Hugi starrte mich an, dann sprang er in die Luft und flog davon. Vermutlich mußte er in seinem Handbuch nachsehen . . .

Als ich aufstand, hörte ich einen Donnerschlag. Ich marschierte weiter. Ich mußte meinen Vorsprung halten.

Der Pfad verbreiterte und verengte sich mehrmals, ehe er auf einer kiesbedeckten Ebene völlig verschwand. Je weiter ich wanderte, desto deprimierter wurde ich in dem Bemühen, meinen geistigen Kompaß in der richtigen Einstellung zu halten. Jetzt waren mir die Geräusche des Unwetters beinahe willkommen, gaben sie mir doch einen ungefähren Anhalt dafür, wo Norden lag. Natürlich waren die Dinge im Nebel ohnehin verwirrend, so daß ich mir meiner Sache nicht absolut sicher sein konnte. Außerdem wurde das Donnergrollen lauter . . . Verdammt!

. . . Und ich hatte Star nachgetrauert und mich über Hugis Äußerungen aufgeregt. Heute war kein guter Tag. Ich begann zu zweifeln, ob ich meine Reise überhaupt beenden konnte. Wenn ich nicht von irgendeinem namenlosen Bewohner dieser dunklen Welt überfallen wurde, bestand die Möglichkeit, daß ich durch das Nichts marschieren würde, bis die Kräfte mich verließen oder das Unwetter mich einholte. Ich wußte nicht, ob ich es noch einmal schaffen würde, den alles auslöschenden Sturm zurückzuschlagen. Ich begann daran zu zweifeln.

Ich versuchte den Nebel mit Hilfe des Juwels auseinanderzutreiben, aber es wirkte seltsam abgestumpft. Vielleicht war ich zu erschöpft. Ich vermochte eine kleine Zone freizuräumen, die ich schnell durchquert hatte.

Bedauerlich. Es wäre hübsch gewesen, wie in der Oper draufzugehen – in einem großen wagnerianischen Finale unter malerischen Himmelskulissen, im Kampf gegen große Gegner. Dieses sinnlose Herumhasten in einem nebligen Ödland war dagegen lächerlich.

Ich kam an einigen Felsvorsprüngen vorbei, die mir bekannt schienen. Bewegte ich mich etwa im Kreis? Man neigt dazu, sobald man völlig die Orientierung verloren hat. Ich lauschte dem Donnern, um mich wieder zu orientieren. Widersinnigerweise war es still. Ich begab mich zu den Felsen, setzte mich auf den Boden und lehnte den Rücken daran. Es war sinnlos, einfach herumzuwandern. Ich wollte ein Weilchen auf das Signal des Donners warten. Im Sitzen zog ich meine Trümpfe. Vater hatte gesagt, sie würden eine Zeitlang nicht funktionieren, aber ich hatte im Augenblick nichts Besseres zu tun.

Nacheinander ging ich die Karten durch, versuchte die Abgebildeten zu erreichen bis auf Brand und Caine. Nichts. Vater hatte recht gehabt. Den Karten fehlte die vertraute Kälte. Schließlich mischte ich das Spiel durch und legte die Karten im Sand aus. Aber die Deutung über meine Zukunft war unmöglich, also steckte ich alle wieder fort. Ich lehnte mich zurück und wünschte, ich hätte noch etwas Wasser. Länge Zeit horchte ich. Es kamen einige grollende Laute, die mir aber kein Richtungsgefühl gaben. Die Trümpfe ließen mich an meine Familie denken. Meine Angehörigen waren irgendwo vor mir – wo immer das sein mochte – und warteten auf mich. Und auf was? Ich beförderte das Juwel. Mit welchem Ziel? Zuerst hatte ich angenommen, seine Kräfte würden beim entscheidenden Konflikt benötigt. Wenn das der Fall war und wenn ich tatsächlich der einzige war, der sie einsetzen konnte, stand es schlecht um uns. Dann dachte ich an Amber und spürte tiefe Reue und eine Art Angst. Amber durfte niemals ein Ende finden, niemals. Es mußte einen Weg geben, das Chaos zurückzudrängen . . .

Ich warf einen kleinen Stein fort, mit dem ich herumgespielt hatte. Als ich ihn losgelassen hatte, bewegte er sich nur sehr langsam.

Das Juwel. Wieder machte sich sein Verlangsamungseffekt bemerkbar . . .

Ich entzog ihm Energie, und der Stein wirbelte davon. Es wollte mir scheinen, als hätte ich erst vor kurzem neue Kraft aus dem Juwel geschöpft. Diese Behandlung beflügelte zwar meinen Körper, doch mein Geist blieb vernebelt. Ich brauchte Schlaf – und Träume. Dieser Ort mochte mir weitaus weniger ungewöhnlich vorkommen, wenn ich erst ausgeruht war.

Wie weit noch bis zu meinem Ziel? Lag es schon hinter der nächsten Bergkette, oder eine gewaltige Strecke entfernt? Und welche Chance hatte ich, meinen Vorsprung vor dem Unwetter zu halten? Und die anderen? Was war, wenn die große Schlacht bereits geschlagen war und wir verloren hatten? Mich plagten Visionen, daß ich zu spät käme, daß ich nur noch als Totengräber wirken könne . . . Knochen und Nachrufe, Chaos . . .

Und wo war die verdammte schwarze Straße, wo ich sie nun endlich gebrauchen konnte? Wenn ich sie ausfindig machte, konnte ich ihr folgen. Ich hatte das Gefühl, daß sie sich irgendwo links befinden mußte . . .

Wieder schickte ich meine Sinne aus, teilte die Nebelschwaden, ließ sie zurückwallen . . . Nichts . . .

Eine Gestalt? Eine Bewegung?

Es war ein Tier, vielleicht ein großer Hund, der den Versuch machte, in der Deckung des Nebels zu bleiben. Wollte er sich anschleichen?

Das Juwel begann zu pulsieren, als ich den Nebel noch weiter zurückdrängte. Freistehend schien das Tier sich zu schütteln. Dann kam es direkt auf mich zu.

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