12

Ich verfolgte die Szene. Auf den Hängen ringsum war Stille eingekehrt. Die Truppen waren erstarrt und beobachteten die Prozession. Sogar die Gefangenen aus den Burgen des Chaos, in Ketten gelegt, wandten die Köpfe in diese Richtung.

Im Gefolge der bleichen Trompeter ritt eine Horde Soldaten auf weißen Pferden. Sie trugen Banner, von denen ich einige nicht erkannte, und folgten einem Menschwesen, das die Einhorn-Standarte Ambers hochhielt. Dieser Gruppe folgten weitere Musiker, von denen einige auf Instrumenten spielten, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte.

Hinter den Musikern marschierten gehörnte Wesen von Menschengestalt in leichter Rüstung, viele lange Kolonnen, und jeder zwanzigste trug eine riesige Fackel in der Hand, die hoch über die Köpfe aufragte. Ein dumpfes Grollen schlug uns an die Ohren – langsam, rhythmisch, eine Unterlegung der Fanfarenstöße und der anderen Musik –, und ich erkannte, daß die Fußsoldaten sangen. Endlos marschierte die Truppe aus dem Regenvorhang auf uns zu, der schwarzen Straße folgend, und obwohl viel Zeit zu vergehen schien, rührte sich keiner von uns oder sagte ein Wort. Die Gestalten kamen an uns vorbei, mit den Fackeln und den Bannern und der Musik und ihrem Gesang, und die ersten erreichten schließlich den Rand des Abgrunds und betraten die beinahe unsichtbare Verlängerung jenes düsteren Weges, und ihre Fackeln flackerten vor der Dunkelheit und erleuchteten ihnen den Weg. Trotz der Entfernung wurde die Musik lauter, denn immer neue Stimmen fielen in den düsteren Chor ein, immer neue Kolonnen von Marschierenden ließen den blitzenden Sturmvorhang hinter sich. Von Zeit zu Zeit grollte ein Donnern auf, das den Gesang aber nicht zu übertönen vermochte, ebensowenig brachte es der Wind fertig, auch nur eine der Fackeln zu löschen, die in meinem Blickfeld loderten. Die Bewegung hatte etwas Hypnotisches. Es war beinahe, als beobachtete ich diese Prozession schon seit unzähligen Tagen, vielleicht Jahren und hörte die Melodie, die ich nun wiedererkannte.

Plötzlich segelte ein Drache aus der Front des Unwetters, gefolgt von einem zweiten und dritten. Grün und golden und schwarz wie altes Eisen waren diese Geschöpfe, die sich im Wind tummelten, die Köpfe drehten und Wimpel aus Feuer hinter sich herzogen. Hinter ihnen zuckten Blitze. Die Drachen boten ein prächtiges, ehrfurchterregendes Bild. Unter ihnen tauchte eine kleine Herde weißer Rinder auf, die Köpfe hin und her werfend und schnaubend. Reiter bewegten sich dahinter und ließen lange schwarze Peitschen knallen.

Es folgte eine Prozession wahrhaft monströser Soldaten aus einem Schattenreich, mit dem Amber zuweilen Handel treibt – massig, schuppig und mit Krallen bewehrt. Diese Geschöpfe spielten Instrumente wie Dudelsäcke, deren perlende Töne vibrierend und pathetisch klangen.

Und weiter ging der Marsch: neue Fackelträger und Soldaten erschienen mit ihren Wappen und Wimpeln – aus Schattenreichen fern und nah. Wir sahen sie vorbeimarschieren und den Windungen der Straße in den fernen Himmel folgen, wie ein Wanderzug von Glühwürmchen, ihr Ziel war die schwarze Zitadelle, die man auch die Burg des Chaos nennt.

Es schien kein Ende zu nehmen: Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Seltsamerweise rückte das Unwetter in dieser Zeit nicht weiter vor. Ich drohte mein Gefühl für meine Identität zu verlieren, so sehr bannte mich die Prozession. Hier spielte sich ein Ereignis ab, das niemals zu wiederholen war. Prächtige Flugechsen schossen über den Kolonnen hin und her und noch höher schwebten dunkle Umrisse.

Es kamen gespenstische Trommler, Wesen aus reinem Licht, und ein Schwarm schwebender Maschinen. Ich sah schwarzgekleidete Reiter auf einer Vielzahl verschiedener Ungeheuer. Einen Augenblick lang schien sich am Himmel ein riesiger Drache abzuzeichnen wie eine Feuerwerksfigur. Und die Geräusche – Hufschlag und Schritte, Gesang und Trommelrassel, Paukendröhnen und Trompetenschall – dies alles steigerte sich zu einer gewaltigen Woge, die über uns hinschwappte. Und immer weiter und weiter und über die Brücke der Dunkelheit wand sich die Prozession, deren Lichter den mächtigen Abgrund nun ein gutes Stück überspannten.

Als mein Blick wieder einmal an diesen Linien entlang zum Ausgangspunkt wanderte, erschien ein neuer Umriß aus dem schimmernden Vorhang. Es war ein ganz in Schwarz gehüllter Karren, gezogen von einem Gespann schwarzer Pferde. An den vier Ecken ragten Stäbe auf, die in blauem Feuer erstrahlten, und dazwischen ruhte ein Gebilde, bei dem es sich nur um einen Sarg handeln konnte, bedeckt von unserer Einhorn-Flagge. Der Fahrer war ein buckliger Mann in orangefarbener und purpurner Kleidung, und trotz der Entfernung wußte ich sofort, daß Dworkin das Gespann führte.

So ist es also, dachte ich. Ich kenne den Grund nicht, aber irgendwie erscheint es mir passend, daß du jetzt in das Alte Land reist. Es gibt vieles, das ich dir hätte sagen können, während du noch am Leben warst. Einiges habe ich gesagt, doch von den richtigen Worten sind nur wenige ausgesprochen worden. Jetzt ist es vorbei, denn du bist tot. So tot wie all jene, die vor dir zu jenem Ort eingegangen sind, an den wir übrigen dir vielleicht bald folgen. Es tut mir leid. Erst nach so vielen Jahren, als du ein anderes Gesicht und eine andere Gestalt zeigtest, lernte ich dich wirklich kennen und respektieren und konnte dich sogar gernhaben – obwohl du auch in jener Person ein störrischer alter Kerl gewesen bist. War das Ganelon-Ich vielleicht von vornherein das echte Du, oder nur eine der vielen Gestalten, die du aus Bequemlichkeit angenommen hast, du alter Gestaltveränderer? Ich werde es nie erfahren, doch möchte ich mir gern einbilden, dich schließlich so gesehen zu haben, wie du wirklich warst, einem Menschen begegnet zu sein, der mir gefiel, jemandem, dem ich vertrauen konnte, und daß dieser Jemand du warst. Ich wünschte, ich hätte dich sogar noch besser kennenlernen können, bin aber dankbar für das wenige . . .

»Vater . . .?« fragte Julian leise.

»Wenn es mit ihm zu Ende ging, wollte er über die Burgen des Chaos hinaus in die letzte Dunkelheit überführt werden«, sagte Bleys. »Das hat mir Dworkin einmal erzählt. Über das Chaos und Amber hinaus, an einen Ort, wo niemand herrscht.«

»Und so geschieht es«, sagte Fiona. »Doch befindet sich Ordnung irgendwo hinter jener Mauer, durch die sie kommen? Oder erstreckt sich das Unwetter ins Unendliche? Wenn er Erfolg gehabt hat, kann diese Erscheinung nur vorübergehend sein und bringt uns keine Gefahr. Aber wenn nicht . . .«

»Es kommt nicht mehr darauf an«, warf ich ein, »ob er Erfolg gehabt hat oder nicht, denn ich habe es geschafft.«

»Was meinst du damit?«

»Ich glaube, er hat sein Ziel nicht erreicht«, sagte ich. »Er wurde vernichtet, ehe er das alte Muster reparieren konnte. Als ich den Sturm kommen sah, ging mir auf, daß ich nicht mehr rechtzeitig mit dem Juwel hier eintreffen konnte, das er mir nach seinem Versuch hatte schicken lassen. Brand hatte mir den Stein unterwegs abnehmen wollen – um ein neues Muster zu schaffen, wie er sagte. Später brachte mich das auf den Gedanken. Als ich erkannte, daß nichts anderes mehr helfen konnte, gebrauchte ich das Juwel, um ein neues Muster zu schaffen. Es war die schwierigste Aufgabe, die ich je übernommen habe, doch es gelang mir. Wenn diese Woge vorbei ist, müßte die Welt eigentlich zusammenhalten, ob wir diesen Ansturm nun überleben oder nicht. Brand stahl mir das Juwel in dem Augenblick, als ich das Muster beendet hatte. Als ich mich von seinem Angriff erholt hatte, konnte ich mich mit Hilfe des neuen Musters hierher projizieren. Es gibt also nach wie vor ein Muster, egal, was passiert.«

»Aber was ist, wenn Vater doch erfolgreich gewesen ist?« fragte sie.

»Keine Ahnung.«

»So wie ich die Dinge nach Äußerungen Dworkins verstehe«, sagte Bleys, »kann es im gleichen Universum nicht zwei verschiedene Muster geben. Dabei zählen die Phänomene in Rebma und Tir-na Nog´th nicht mit, da sie nur Spiegelungen unseres Ur-Musters waren . . .«

»Was würde geschehen?« fragte ich.

»Ich glaube, es gäbe eine Abspaltung, es würde sich eine neue Existenz bilden – irgendwo.«

»Und was wäre die Auswirkung auf unsere Welt?«

»Entweder eine totale Katastrophe oder keinerlei Folgen«, antwortete Fiona. »Für beide Möglichkeiten könnte ich Argumente vorbringen.«

»Dann sind wir genau dort, wo wir angefangen haben«, bemerkte ich. »Entweder geht unsere Welt in Kürze unter, oder sie bleibt erhalten.«

»So sieht es aus«, sagte Bleys.

»Es kommt sowieso nicht mehr darauf an, wenn wir den kommenden Ansturm nicht überstehen«, sagte ich. »Und der kommt bestimmt.«

Ich wandte mich wieder der Totenprozession zu. Hinter dem Reiter waren weitere Reiterscharen aufgetaucht, gefolgt von marschierenden Trommlern. Dann Flaggen und Fackeln und lange Reihen marschierender Soldaten. Noch immer wehte Gesang herüber, und weit, weit entfernt über dem Abgrund konnte man den Eindruck haben, als habe die Spitze der Prozession endlich die düstere Zitadelle erreicht.

. . . Ich haßte dich so lange, warf dir so viele Dinge vor. Jetzt ist es vorbei, und von diesen Gefühlen ist nichts zurückgeblieben. Statt dessen hast du sogar den Wunsch geäußert, mich zum König zu machen, eine Stellung, für die ich – das erkenne ich jetzt – nicht geeignet bin. Ich sehe ein, daß ich dir letztlich doch etwas bedeutet haben muß. Ich werde den anderen nichts davon sagen. Es genügt, wenn ich es weiß. Aber ich kann dich nie mehr so sehen wie früher. Dein Bild beginnt bereits zu verblassen. Ich sehe Ganelons Gesicht, wo sich eigentlich das deine befinden müßte. Er war mein Weggefährte. Er setzte für mich sein Leben ein. Er war du – aber ein anderes Du – ein Du, das ich vorher nicht gekannt hatte. Wie viele Ehefrauen und Feinde hast du überlebt? Hattest du viele Freunde? Ich glaube nicht. Aber es gab so viele Dinge an dir, von denen wir nichts wußten. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ich dein Hinscheiden erleben würde. Ganelon – Vater – alter Freund und Feind, ich verabschtede mich von dir. Du schließt dich Deirdre an, die ich geliebt habe. Du hast dein Geheimnis bewahrt. Ruhe in Frieden, wenn das deinem Willen entspricht. Ich schenke dir diese verwelkte Rose, die ich durch die Hölle getragen habe, indem ich sie in den Abgrund werfe. Ich überlasse dir die Rose und die verfälschten Farben am Himmel. Du wirst mir fehlen . . .

Endlich endete der lange Zug. Die letzten Marschierer kamen durch den Vorhang und entfernten sich. Die Blitze zuckten noch immer, der Regen strömte herab, und der Donner dröhnte. Trotzdem hatte kein Teilnehmer an der Prozession naß ausgesehen. Ich hatte am Rande des Abgrunds gestanden und das Schauspiel verfolgt. Eine Hand lag auf meinem Arm. Wie lange sie schon dort ruhte, wußte ich nicht. Nachdem der Zug nun zu Ende war, ging mir auf, daß das Unwetter seinen Weg fortsetzte.

Die Rotation des Himmels schien mehr Dunkelheit über uns zu bringen. Links von mir ertönten Stimmen. Es kam mir vor, als sprächen sie schon lange, die Worte hatte ich allerdings nicht verstanden. Ich erkannte, daß ich am ganzen Leib zitterte, daß mir sämtliche Muskeln wehtaten, daß ich kaum noch zu stehen vermochte.

»Komm, leg dich hin«, sagte Fiona. »Die Familie ist für heute genug geschrumpft.«

Ich ließ mich von ihr vom Abgrund fortführen.

»Würde es wirklich noch einen Unterschied machen?« fragte ich. »Wie lange haben wir denn deiner Meinung nach noch?«

»Wir brauchen nicht hierzubleiben und darauf zu warten«, antwortete sie. »Wir werden die dunkle Brücke zu den Burgen des Chaos überqueren. Die Verteidigungslinien unserer Feinde sind bereits durchbrochen. Vielleicht dringt das Unwetter nicht so weit vor. Vielleicht wird es vom großen Abgrund aufgehalten. Es wäre sowieso angemessen, wenn wir Vater auf seinem letzten Weg begleiteten.«

Ich nickte. »Es sieht so aus, als bliebe uns kaum eine andere Wahl, als bis zum Schluß unsere Pflicht zu tun.«

Ich setzte mich vorsichtig und seufzte. Wenn das überhaupt möglich war, fühlte ich mich noch schwächer.

»Deine Stiefel . . .«, sagte sie.

»Ja.«

Sie zog sie mir von den Füßen, die zu schmerzen begonnen hatten.

»Vielen Dank.«

»Ich besorge dir etwas zu essen.«

Ich schloß die Augen. Ich begann zu dösen. Zu viele Bilder zuckten mir durch den Kopf, als daß sich ein zusammenhängender Traum ergab. Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht, doch ein alter Reflex holte mich beim Klang näherkommenden Hufschlags ins Bewußtsein zurück. Ein Schatten glitt über meine Lider.

Ich hob den Blick und entdeckte einen verhüllten Reiter, reglos, stumm. Er musterte mich.

Ich erwiderte den Blick. Keine drohende Bewegung war gemacht worden, doch in dem kalten Blick lag Ablehnung.

»Dort liegt der Held«, sagte eine leise Stimme.

Ich schwieg.

»Ich könnte dich mühelos umbringen.«

Da erkannte ich die Stimme, wenn ich auch keine Vorstellung hatte von den Ursachen für die Ablehnung.

»Ich habe Borel gefunden, ehe er starb«, sagte sie. »Er erzählte mir, wie unehrenhaft du ihn besiegt hast.«

Ich konnte nicht anders, ich hatte keine Kontrolle darüber. Ein trockenes Lachen stieg in meiner Kehle auf. Was für eine lächerliche Kleinigkeit, um sich darüber aufzuregen! Ich hätte ihr sagen können, daß Borel viel besser ausgerüstet und ausgeruhter gewesen war als ich und daß er mir den Kampf förmlich aufgezwungen hatte. Ich hätte ihr klarmachen können, daß ich keine Regeln gelten lasse, wenn mein Leben in Gefahr ist, oder daß ich den Krieg nicht für ein Spiel halte. Ich hätte vieles sagen können, doch wenn sie das nicht bereits wußte oder nicht verstehen wollte, konnten meine Äußerungen auch nichts mehr ändern. Außerdem waren ihre Gefühle klar.

So äußerte ich nur eine schlichte, große Wahrheit: »Im allgemeinen hat jede Geschichte mehr als eine Seite.«

»Ich begnüge mich mit der, die ich kenne«, gab sie zurück.

Am liebsten hätte ich die Achseln gezuckt, doch meine Schultern schmerzten zu sehr.

»Du hast mich zwei der wichtigsten Personen meines Lebens gekostet«, sagte sie nun.

»Ach?« gab ich zurück. »Das tut mir leid, deinetwegen.«

»Du bist nicht der, als der du mir dargestellt wurdest. Ich habe in dir eine wahrhaft edle Gestalt gesehen, stark, doch zugleich verständnisvoll und zuweilen voller Rücksicht. Ehrenvoll . . .«

Das Unwetter, das immer näher kam, tobte hinter ihr. Ich dachte an etwas Vulgäres und sprach es aus. Sie ging darüber hinweg, als hätte sie meine Worte nicht gehört.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Ich kehre zu meinen Leuten zurück. Bisher habt ihr den Kampf gewonnen – aber in jener Richtung hat einmal Amber gelegen«. Sie deutete auf das Unwetter. Ich konnte sie nur anstarren. Nicht die tobenden Elemente. Sie. »Ich glaube nicht, daß von meinen neuen Bindungen noch viel übrig ist, das ich widerrufen müßte«, fuhr sie fort.

»Und was ist mit Benedict?« fragte ich.

»Nicht . . .«, sagte sie und wandte sich ab. Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann fuhr sie fort: »Ich glaube nicht, daß wir uns noch einmal wiedersehen.« Ihr Pferd trug sie nach links davon, in die Richtung zur schwarzen Straße.

Ein Zyniker hätte zu dem Schluß gelangen können, daß sie sich nun auf die Seite derjenigen schlug, die in ihren Augen als die Sieger dastanden, da die Burgen des Chaos das Kommende wohl überstehen würden. Aber ich wußte es nicht. Ich konnte nur an das Bild denken, das ich wahrgenommen hatte, als sie ihre Armbewegung machte. Die Kapuze war zur Seite geglitten, und ich hatte einen Blick auf das werfen können, was sie geworden war. Das Gesicht in den Schatten war nicht mehr menschlich gewesen. Doch ich wandte den Kopf und folgte ihr mit den Blicken, bis sie verschwunden war. Nachdem Deirdre und Brand und Vater nicht mehr am Leben waren und nach der Trennung von Dara – in dieser Stimmung kam mir die Welt viel leerer vor, das wenige, das davon noch übrig war.

Ich lehnte mich seufzend zurück. Warum sollte ich nicht einfach hierbleiben, wenn die anderen weiterritten, und darauf warten, daß der Sturm über mich dahinfuhr, und mich auflöste, während ich noch schlief? Ich mußte an Hugi denken. Hatte ich nicht nur sein Fleisch in mich aufgenommen, sondern auch seine Flucht vor dem Leben? Ich war so erschöpft, daß mir dieser Ausweg als der leichteste vorkam . . .

»Hier, Corwin.«

Wieder war ich entschlummert, wenn auch nur für kurze Zeit. Fiona hockte neben mir, Eßrationen und eine Flasche in der Hand. Jemand war bei ihr.

»Ich wollte deine Audienz nicht stören«, sagte sie, »und habe gewartet.«

»Du hast mitgehört?« fragte ich.

»Nein, aber ich kann mir ausmalen, wie es gewesen ist, denn sie ist fort. Hier.«

Ich trank Wein und wandte meine Aufmerksamkeit dem Fleisch und Brot zu. Trotz meines seelischen Zustands schmeckte alles sehr gut.

»Wir müssen bald los«, sagte Fiona und warf einen Blick auf die tobende Unwetterfront. »Kannst du reiten?«

»Ich glaube schon«, antwortete ich.

Wieder trank ich von dem Wein.

»Aber es ist viel zuviel geschehen, Fiona«, fuhr ich fort. »Mein Gefühl ist wie betäubt. Ich bin aus einem Sanatorium in einer Schattenwelt ausgebrochen. Ich habe Menschen übertölpelt und umgebracht. Ich habe mir Vorteile ausgerechnet und erkämpft. Ich errang mein Gedächtnis wieder und habe seither versucht, mein Leben wieder auf eine vernünftige Grundlage zu stellen. Ich habe meine Familie gefunden und festgestellt, daß ich sie liebe. Ich habe mich mit Vater versöhnt. Ich habe um das Königreich gekämpft. Ich habe mich bis zum Letzten verausgabt, um die Dinge zusammenzuhalten. Und jetzt sieht es so aus, als habe das alles nichts genützt, und meine Kraft reicht nicht mehr, um darüber traurig zu sein. Ich bin völlig gefühllos geworden. Verzeih mir.«

Sie küßte mich.

»Noch sind wir nicht besiegt. Du wirst zu dir selbst zurückfinden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es ist wie im letzten Kapitel von Alice im Wunderland«, sagte ich. »Wenn ich rufe: ›Ihr seid doch nur ein Kartenspiel!‹, dann wirbeln wir alle in die Luft, ein Packen gemalter Motive. Ich begleite euch nicht. Laßt mich hier zurück. Ich bin sowieso nur der Joker.«

»In diesem Augenblick bin ich stärker als du«, widersprach sie. »Du kommst mit!«

»Das ist nicht fair«, sagte ich leise.

»Iß zu Ende«, sagte sie. »Wir haben noch ein wenig Zeit.«

Als ich ihrer Aufforderung nachkam, fuhr sie fort: »Dein Sohn Merlin möchte dich gern sprechen. Ich würde ihn gern heraufrufen.«

»Als Gefangenen?«

»Eigentlich nicht. Er hat am Kampf nicht teilgenommen. Er traf lediglich vor kurzem ein und wollte dich sehen.«

Ich nickte, und sie entfernte sich. Ich legte die Nahrung fort und sprach noch einmal dem Wein zu. Plötzlich war ich nervös. Was sagt man einem erwachsenen Sohn, wenn man erst kürzlich erfahren hat, daß es ihn überhaupt gibt? Ich fragte mich, welche Gefühle er mir entgegenbringen würde. Und ob er von Daras Entscheidung wußte. Wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten?

Ich sah ihn aus einer Gruppe meiner Verwandten treten, die sich ein gutes Stück links von mir zusammengefunden hatte. Ich hatte mich schon gefragt, warum man dermaßen auf Abstand von mir ging, doch je mehr Besucher zu mir kamen, desto mehr ahnte ich die Lösung. Ich fragte mich, ob der Rückzug meinetwegen verzögert wurde. Die feuchten Böen des Unwetters wurden stärker. Merlin blickte mich im Näherkommen an, ohne einen besonderen Ausdruck auf dem Gesicht, das dem meinen so sehr ähnelte. Ich fragte mich, wie Dara zumute war, nachdem sich ihre Prophezeiung von der Vernichtung endlich zu bewahrheiten schien. Und ich fragte mich, wie sie wirklich zu dem Jungen stand. Ich stellte mir . . . viele Fragen.

Er beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Vater . . .«

»Merlin.« Ich blickte ihn in die Augen. Ohne seine Hand loszulassen, stand ich auf.

»Bleib liegen.«

»Schon gut.« Ich drückte ihn an mich und ließ ihn wieder los. »Ich bin froh«, fuhr ich fort. »Trink mit mir.« Ich hielt ihm den Wein hin, zum Teil auch um zu verbergen, daß ich plötzlich keine Worte fand.

»Vielen Dank.«

Er nahm die Flasche, trank daraus und reichte sie zurück.

»Auf deine Gesundheit«, sagte ich und trank ebenfalls. »Tut mir leid, daß ich dir keinen Stuhl anbieten kann.«

Ich setzte mich wieder auf den Boden. Er folgte meinem Beispiel.

»Von den anderen scheint niemand genau zu wissen, was du eigentlich getan hast«, sagte er, »außer Fiona, die mir sagte, es sei sehr schwierig gewesen.«

»Ach was«, gab ich zurück. »Ich freue mich, daß ich es bis hierher geschafft habe, und wenn es wegen dieses Gespräches wäre. Erzähl mir von dir, mein Sohn. Was für ein Mensch bist du? Wie ist das Leben mit dir umgesprungen?«

Er wandte den Blick ab. »Ich habe noch nicht lang genug gelebt, um viel erreicht zu haben«, erwiderte er.

Es interessierte mich, ob er die Fähigkeiten eines Gestaltveränderers besaß, verzichtete aber zunächst darauf, ihn zu fragen. Es hatte keinen Sinn, nach Unterschieden zwischen uns zu forschen, nachdem ich ihn eben erst kennengelernt hatte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muß«, sagte ich, »in den Höfen aufzuwachsen.«

Zum erstenmal lächelte er.

»Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es woanders hätte sein können«, entgegnete er. »Es war insofern anders, als ich viel mir selbst überlassen blieb. Man brachte mir die Dinge bei, die ein Edelmann wissen muß – Magie, Waffen, Gifte, Reiten und Tanzen. Man sagte mir, ich würde eines Tages in Amber herrschen. Aber das gilt nicht mehr, oder?«

»Für die absehbare Zukunft sieht es nicht danach aus«, sagte ich.

»Gut«, erwiderte er. »Dies war auch die einzige Sache, die ich nicht tun wollte.«

»Was möchtest du denn tun?«

»Ich möchte das Muster in Amber beschreiten, wie Mutter es getan hat, und Macht über die Schatten gewinnen, damit ich sie aufsuchen und dort unbekannte Dinge sehen und Abwechslung erleben kann. Meinst du, daß das möglich ist?«

Ich trank einen Schluck und reichte ihm den Wein.

»Durchaus möglich«, sagte ich, »daß Amber gar nicht mehr existiert. Es hängt alles davon ab, ob dein Großvater mit einem Versuch, den er begonnen hat, Erfolg gehabt hat – aber er kann uns nicht mehr sagen, was mit ihm in Amber geschah. Wie dem auch sei, auf jeden Fall gibt es ein Muster. Wenn wir dieses dämonische Unwetter überstehen, dann sollst du ein Muster finden, das verspreche ich dir. Ich werde dich unterweisen und dafür sorgen, daß du es durchschreitest.«

»Vielen Dank«, sagte er. »Erzählst du mir jetzt von deinem Ritt hierher?«

»Später«, sagte ich. »Was hat man dir von mir erzählt?«

Er wandte den Blick ab. »Man lehrte mich, viele Aspekte Ambers abzulehnen«, antwortete er schließlich und fuhr nach kurzem Zögern fort: »Vor dir als meinem Vater brachte man mir Respekt bei. Aber man ließ mich nicht darüber im unklaren, daß du der gegnerischen Seite angehörtest.« Wieder schwieg er. »Ich erinnere mich an den Patrouillenritt, als du an diesen Ort kamst und ich dich nach deinem Kampf gegen Kwan fand. Damals war ich schwankend in meinen Gefühlen. Du hattest gerade jemanden umgebracht, den ich kannte – und doch mußte ich deine Art bewundern. In deinem Gesicht sah ich das meine. Es war irgendwie seltsam. Ich wollte dich näher kennenlernen.«

Der Himmel hatte sich einmal völlig gedreht, bis nun die Dunkelheit über uns stand und die Farben über dem Chaos. Das gleichmäßige Vorrücken der blitzenden Sturmfront wurde durch diesen Effekt betont. Ich beugte mich vor und griff nach meinen Stiefeln und begann sie anzuziehen. Bald war es Zeit für unseren Rückzug. »Wir werden unser Gespräch in deiner Heimat fortsetzen müssen«, sagte ich. »Es ist Zeit, vor dem Unwetter zu fliehen.«

Er wandte sich um und betrachtete die Elemente, dann starrte er über den Abgrund.

»Ich kann einen Himmelssteg rufen, wenn du willst.«

»Eine der dahintreibenden Brücken, wie du sie benutzt hast, als wir uns zum erstenmal begegneten?«

»Ja«, antwortete er. »Sie sind sehr angenehm. Ich . . .«

Aus der Gruppe meiner Verwandten stieg ein Schrei auf. Als ich hinüberblickte, schien sich nichts Bedrohliches zu tun. Also stand ich auf und machte einige Schritte auf die anderen zu, während Merlin sich hinter mir aufrichtete.

Dann sah ich es. Eine weiße Gestalt, die aus dem Abgrund aufstieg, scheinbar in der freien Luft einhertrabend. Die Vorderhufe trafen auf den Felsrand, dann trat das Wesen vor und blieb stehen, uns alle betrachtend: unser Einhorn.

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