13

Einen Augenblick lang vergaß ich Schmerzen und Müdigkeit. Hoffnung flackerte in mir auf, während ich die zierliche weiße Gestalt betrachtete, die vor uns verharrte. Eine innere Stimme forderte mich auf vorzustürzen, doch eine stärkere Kraft hielt mich in Bann, zwang mich, reglos abzuwarten.

Wie lange wir so verhielten, vermochte ich nicht zu sagen. An den Hängen unter uns hatten sich die Soldaten auf das Abrücken vorbereitet. Die Gefangenen waren gefesselt, Pferde beladen, Kriegsgerät verstaut worden. Diese gewaltige Armee hatte in ihren Marschvorbereitungen plötzlich innegehalten. Es war keine natürliche Erscheinung, daß sie die Vorgänge bei unserer Gruppe so schnell bemerkt hatte – trotzdem war jeder Kopf, den ich sehen konnte, in unsere Richtung gedreht, das Einhorn am Abgrund betrachtend, dieses wunderschöne Geschöpf vor dem belebten Himmel.

Ich spürte plötzlich, daß der Wind hinter mir sich beruhigt hatte; der Donner allerdings grollte weiter und explodierte, und die Blitze ließen huschende Schatten vor mir erscheinen.

Ich dachte an die andere Gelegenheit, da ich das Einhorn zu Gesicht bekommen hatte – beim Einholen der Leiche des Schatten-Caines, an dem Tag, da ich meinen Kampf gegen Gérard verloren hatte. Ich dachte an die Geschichte, die ich gehört hatte . . . Konnte dieses Wesen uns wirklich helfen?

Das Einhorn trat einen Schritt vor und blieb stehen.

Es war so lieblich anzuschauen, daß allein der Anblick aufmunternd auf mich wirkte. Es löste allerdings auch eine schmerzhafte Überreaktion aus, war doch seine Schönheit von einer Art, die man nur in kleinen Dosen genießen sollte. Irgendwie spürte ich die unnatürliche Intelligenz in dem schneeweißen Kopf. Ich spürte den Drang, das Tier zu berühren, wußte aber, daß das nicht ging.

Das Geschöpf ließ seinen Blick über uns wandern. Seine Augen richteten sich auf mich, und ich hätte den Kopf abgewandt, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre. Ich schaffte es jedoch nicht, und so erwiderte ich den Blick, in dem ich ein Verständnis fand, welches das meine weit überstieg. Es war, als wisse das Einhorn alles über mich und habe in den letzten Sekunden auch all meine jüngsten Qualen erfaßt. Einen Augenblick lang glaubte ich in jenen Augen so etwas wie Mitleid und einen starken Ausdruck der Liebe zu sehen – und vielleicht auch einen Anflug von Humor.

Dann wandte sich der Kopf, und der Blickkontakt bestand nicht mehr. Unwillkürlich seufzte ich. Im gleichen Moment glaubte ich im Schein eines Blitzes etwas am Hals des Tiers schimmern zu sehen.

Das Einhorn trat noch einen Schritt vor und blickte nun zu der Gruppe der Verwandten hinüber, der ich mich hatte anschließen wollen. Es senkte den Kopf und stieß ein leises Wiehern aus. Dann stieß es mit dem rechten Vorderhuf auf den Boden.

Ich spürte Merlin neben mir. Ich dachte an Dinge, die ich verlieren würde, wenn hier alles ein Ende finden sollte.

Das Einhorn tänzelte mehrere Schritte weit. Es warf den Kopf hoch und senkte ihn wieder. Es sah so aus, als nähere es sich nur ungern einer so großen Gruppe von Menschen.

Beim nächsten Schritt sah ich es wieder funkeln – und mehr! Weiter unten am Hals schimmerte ein winziger roter Funke. Das weiße Geschöpf trug das Juwel des Geschicks. Wie es daran gekommen war, wußte ich nicht. Es war auch nicht wichtig. Wenn es uns den Stein ausliefern würde, mochte ich in der Lage sein, das Unwetter niederzukämpfen – oder uns zumindest an diesem Ort vor seinem vernichtenden Einfluß zu schützen.

Aber der eine lange Blick hatte genügt. Das Einhorn beachtete mich nicht mehr. Langsam, vorsichtig, als sei es bereit, beim geringsten Anlaß zu fliehen, näherte es sich der Stelle, an der Julian, Random, Bleys, Fiona, Llewella, Benedict und mehrere Edelleute standen.

Ich hätte erkennen müssen, was da vorging, doch ich ahnte nichts. Ich verfolgte lediglich die Bewegungen des schlanken Wesens, das vorsichtig die Gruppe umkreiste.

Wieder blieb es stehen und senkte den Kopf. Dann schüttelte es die Mähne und brach mit den Vorderhufen in die Knie. Plötzlich hing das Juwel des Geschicks an seinem verwundeten goldenen Horn. Die Spitze dieses Horns berührte beinahe die Person, vor der das Einhorn kniete.

Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge das Gesicht meines Vaters am Himmel, und seine Worte hallten in meinem Kopf nach: »Mit meinem Tod wird sich für euch von neuem die Frage der Nachfolge erheben . . . Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als dies dem Horn des Einhorns zu überlassen.«

Ein Murmeln ging durch die Gruppe, weil allen wohl der gleiche Gedanke gekommen war. Das Einhorn ließ sich dadurch nicht stören, sondern verharrte als zarte weiße Statue und schien nicht einmal zu atmen.

Langsam hob Random die Hände und nahm das Juwel von dem goldenen Horn. Sein Flüstern drang bis zu mir.

»Danke«, sagte er.

Julian zog seine Klinge, kniete nieder und legte sie Random zu Füßen. Bleys, Benedict und Caine, Fiona und Llewella taten es ihm nach. Ich schloß mich ihnen an. Ebenso mein Sohn.

Random schwieg lange Zeit. Dann sagte er: »Ich nehme euren Treueschwur an. Jetzt steht auf, ihr alle!«

Als wir das taten, fuhr das Einhorn herum und galoppierte davon. Es galoppierte den Hang hinab und war nach wenigen Sekunden verschwunden.

»Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet«, sagte Random, der das Juwel in Augenhöhe vor sich hielt. »Corwin, kannst du dieses Ding nehmen und das Unwetter damit aufhalten?«

»Es gehört jetzt dir, und ich weiß nicht, wie weit sich die Erscheinung erstreckt. In meinem Zustand halte ich vielleicht nicht lange genug durch, um uns alle zu retten. Ich glaube, dies wird deine erste Tat als Herrscher sein müssen.«

»Dazu mußt du mir aber zeigen, wie man damit umgeht. Ich dachte, wir brauchten ein Muster, um die Einstimmung vorzunehmen.«

»Ich glaube nicht. Brand hat unterstellt, daß eine Person, die bereits auf das Juwel eingestimmt war, eine zweite einweisen kann. Ich habe seither darüber nachgedacht und glaube einen Weg zu wissen. Komm, wir suchen uns ein abgelegenes Plätzchen!«

»In Ordnung.«

Schon lag in seiner Stimme und Haltung ein neues Element. Die ihm so unverhofft übertragene Rolle schien sich sofort auszuwirken. Ich fragte mich, was für eine Art König er mit seiner Partnerin Vialle sein würde. Aber es war zuviel. Meine Gedanken waren irgendwie losgelöst. In letzter Zeit war einfach zuviel geschehen. Ich vermochte die jüngsten Ereignisse nicht mehr zu überschauen. Mein Bestreben ging dahin, mich an einen ruhigen Ort zu verkriechen und einmal rund um die Uhr zu schlafen. Statt dessen folgte ich Random an eine Stelle, wo noch ein kleines Lagerfeuer glomm.

Er stocherte in der Asche herum und warf einige Holzstücke hinein. Dann setzte er sich daran und nickte mir zu. Ich nahm neben ihm Platz.

»Diese Königswürde«, begann er. »Was soll ich tun, Corwin? Ich bin völlig unvorbereitet.«

»Tun? Du wirst dich wahrscheinlich recht gut schlagen«, erwiderte ich.

»Meinst du, es gibt viele Ressentiments?«

»Wenn es sie gibt, so sind sie nicht an die Oberfläche gekommen«, antwortete ich. »Du bist eine gute Wahl, Random. In letzter Zeit ist soviel geschehen . . . Vater hat uns im Grunde gut beschützt, vielleicht mehr, als für uns gut war. Der Thron ist bestimmt keine leichte Aufgabe. Du mußt dich auf eine schwere Zeit gefaßt machen. Und das haben die anderen meiner Meinung nach erkannt.«

»Und du?«

»Ich strebte nur danach, weil auch Eric es tat. Damals war mir das nicht klar, aber es stimmt. Es war der Siegespreis in einem Spiel, das wir die Jahre über gespielt haben. Eigentlich das Ende einer Vendetta. Und ich hätte ihn dafür umgebracht. Heute bin ich froh, daß er einen anderen Tod gefunden hat. Wir waren uns ähnlicher, als wir verschieden waren, er und ich. Auch das erkannte ich erst viel später. Nach seinem Tod jedoch stieß ich immer wieder auf Gründe, die dagegen sprachen, den Thron zu übernehmen. Endlich ging mir auf, daß ich das in Wirklichkeit auch gar nicht wollte. Nein. Du sollst die Macht haben. Herrsche gut, Bruder! Ich bin sicher, daß dir das gelingt.«

»Wenn Amber noch existiert«, sagte er nach kurzem Schweigen, »will ich es versuchen. Komm, erledigen wir die Sache mit dem Juwel. Das Unwetter rückt unangenehm nahe.«

Ich nickte und nahm ihm den Stein aus den Fingern. Ich hielt das Juwel an der Kette in die Höhe, so daß sich das Feuer dahinter befand. Das Licht schimmerte hindurch, das Innere schien völlig klar zu sein.

»Beug dich vor und blicke mit mir in das Juwel!« sagte ich.

Er kam der Aufforderung nach, und während wir beide den Stein anstarrten, fuhr ich fort: »Denk an das Muster!« Gleichzeitig begann ich ebenfalls daran zu denken und versuchte, mir seine Windungen und Wirbel, seine bleichschimmernden Linien vorzustellen.

Im Mittelpunkt des Steins glaubte ich einen schwachen Makel auszumachen. Während ich mir das Hin und Her der Linien, die Drehungen und Biegungen vorstellte, beschäftigte ich mich auch mit dieser feinen Verfärbung . . . ich stellte mir die Energie vor, die mich durchströmte, sobald ich diesen komplizierten Weg in Angriff nahm.

Die Verfärbung des Steins nahm immer mehr zu.

Ich richtete meinen Willen darauf, ließ die Erscheinung zur vollen Reife gedeihen. Dabei überkam mich ein vertrautes Gefühl – wie an jenem Tag, da ich mich auf das Juwel eingestimmt hatte. Ich konnte nur hoffen, daß ich kräftig genug war, um diese Erfahrung noch einmal durchzumachen.

Ich hob die Hand und packte Randoms Schulter.

»Was siehst du?« fragte ich ihn.

»Etwas, das dem Muster ähnlich ist«, antwortete er, »nur scheint es dreidimensional zu sein. Es befindet sich am Grunde eines roten Meeres . . .«

»Dann komm mit!« sagte ich. »Wir müssen dorthin.«

Wieder das Gefühl der Bewegung, zuerst ein Dahintreiben, dann ein sich immer mehr beschleunigender Sturz in Richtung auf die nie ganz klar erschauten Windungen des Musters im Juwel. Ich trieb uns mit Willenskraft voran, die Gegenwart meines Bruders neben mir spürend, und der rötliche Schein, der uns einhüllte, wurde dunkler, wurde zur Schwärze eines Nachthimmels. Das Muster wuchs mit jedem dröhnenden Herzschlag weiter an. Aus irgendeinem Grund lief dieser Vorgang müheloser ab als früher – vielleicht, weil ich bereits eingestimmt war.

Random neben mir spürend, zog ich ihn mit, während der vertraute Umriß anwuchs und der Eintrittspunkt sich abzeichnete. Während wir in diese Richtung gezogen wurden, versuchte ich noch einmal die Totalität dieses Musters zu erfassen und verlor mich von neuem in Erscheinungen, bei denen es sich um die mehrdimensionalen Verquickungen des Musters handeln mußte. Gewaltige Kurven und Spiralen und verknotet wirkende Linien wanden sich vor uns durcheinander. Ein Gefühl der Ehrfurcht, wie ich es schon von früher kannte, ergriff mich, und ganz in der Nähe war auch Random davon gebannt, das spürte ich.

Wir erreichten die Zone des Beginns und wurden hineingezerrt. Schimmernde Helligkeit, durchzuckt von Funken, umgab uns, während wir in der Matrix aus Licht aufgingen. Diesmal wurde mein Verstand von dem Vorgang total absorbiert, und Paris schien weit entfernt zu sein . . .

Eine unterbewußte Erinnerung machte mir die schwierigeren Abschnitte bewußt, und hier brachte ich meinen Wunsch ins Spiel – meinen Willen, wenn Sie wollen –, der uns über den funkelnden Weg drängte, wobei ich rücksichtslos auf Randoms Energien zurückgriff, um unser Vorankommen zu beschleunigen.

Es war, als nähmen wir das schimmernde Innere einer riesigen und kunstvoll verformten Muschel in Angriff. Nur war unser Ausschreiten lautlos und unsere Körper unsichtbare Punkte der Intelligenz.

Unsere Geschwindigkeit schien immer mehr zuzunehmen, wie auch ein innerer Schmerz, der mir von meinen bisherigen Reisen durch das Muster nicht erinnerlich war. Vielleicht hatte die Erscheinung mit meiner Müdigkeit zu tun oder mit meinem Bestreben, möglichst schnell ans Ziel zu gelangen. Wir brachen durch die Barrieren, wir waren von gleichmäßigen, fließenden Wänden aus Licht umgeben. Allmählich ließen meine Kräfte nach, mir wurde schwindlig. Aber den Luxus einer Ohnmacht konnte ich mir nicht erlauben, ebensowenig durfte ich langsamer gehen, denn das Unwetter war schon sehr nahe herangerückt. Wieder griff ich voller Bedauern auf Randoms Energien zurück – diesmal aber, um uns überhaupt in Gang zu halten. Wir schritten weiter voran.

Hier fehlte das kribbelnde, flammende Gefühl, umgeformt zu werden – vermutlich eine Folge meiner Einstimmung. Meine erste Wanderung durch das Juwel mußte mir in dieser Beziehung eine leichte Immunität verschafft haben.

Nach einer zeitlosen Periode hatte ich den Eindruck, daß Random neben mir erschlaffte. Vielleicht hatte ich seine Kräfte zu sehr in Anspruch genommen. Ich begann mich zu fragen, ob seine Energien noch ausreichen würden, dem Unwetter zu begegnen, wenn ich mich noch mehr auf ihn stützte. Ich nahm mir vor, ihn nicht weiter in Anspruch zu nehmen. Wir hatten bereits ein gutes Stück zurückgelegt. Nun mußte er ohne mich weiterkommen, wenn es darauf ankam. Ich würde sehen müssen, daß ich irgendwie über die Runden kam. Ich war entbehrlich; er durfte auf diesem Weg nicht verlorengehen.

So stürmten wir weiter, während meine Sinne sich auflehnten, während die Schwindelgefühle zunahmen. Ich bot meine ganzen Willenskräfte auf und zwang alles andere aus meinem Schädel hinaus. Ich glaubte mich dem Abschluß nahe, als eine Verdunkelung einsetzte. Und ich wußte, daß sie fehl am Platze war und nicht zu den Vorgängen gehörte. Ich bezwang meine Panik.

Es nützte nichts. Ich spürte, daß ich den Halt verlor. So dicht vor dem Ziel! Ich war sicher, daß wir es bald geschafft hatten. Es konnte doch kein Problem mehr . . .

Alles strömte davon. Meine letzte Empfindung war die Erkenntnis, daß Random sich besorgt nach mir umwandte. Zwischen meinen Füßen flackerte es orangefarben und rot. War ich in einer unbekannten astralen Hölle gefangen? Während mein Verstand allmählich erwachte, starrte ich weiter auf die Erscheinung. Das Licht war von Dunkelheit umgeben, und . . .

Es waren Stimmen zu hören, bekannte Stimmen . . .

Die Bilder wurden klar. Ich lag auf dem Rücken, die Füße einem Lagerfeuer zugewendet.

»Alles in Ordnung, Corwin. Alles in Ordnung.«

Fiona hatte zu mir gesprochen. Ich wandte den Kopf. Sie saß über mir auf dem Boden.

»Random . . .?« fragte ich.

»Ihm geht es auch gut – Vater.«

Merlin saß weiter rechts.

»Was ist geschehen?«

»Random hat dich zurückgetragen«, antwortete Fiona.

»Hat die Einstimmung geklappt?«

»Er nimmt es an.«

Ich versuchte mich aufzurichten. Sie wollte mich zurückdrücken, doch ich wehrte mich.

»Wo ist er?«

Sie machte eine Bewegung mit den Augen.

Ich hob den Blick und entdeckte Random. Er stand etwa dreißig Meter entfernt auf einem Felsvorsprung, dem Unwetter zugewandt. Die Sturmfront war ganz nahe, und ein starker Wind zerrte an seiner Kleidung. Blitze zuckten kreuz und quer vor ihm auf. Der Donner schien unentwegt zu dröhnen.

»Wie lange steht er schon dort?« wollte ich wissen.

»Erst wenige Minuten«, antwortete Fiona.

»Und so lange ist es her – seit unserer Rückkehr?«

»Nein«, sagte sie. »Du bist lange ohnmächtig gewesen. Random hat sich zuerst mit den anderen beraten und dann den Rückzug der Truppen angeordnet. Benedict hat die Soldaten auf die schwarze Straße geführt. Sie gehen hinüber.«

Ich wandte den Kopf.

Auf der schwarzen Straße herrschte Bewegung; düstere Kolonnen zogen der Zitadelle entgegen. Durchscheinende Bahnen wehten zwischen uns; am anderen Ende zuckten Funken rings um die düstere Masse. Der Himmel hatte sich wieder einmal völlig gedreht; wir befanden uns unter der dunklen Hälfte. Wieder hatte ich das seltsame Gefühl, vor langer, langer Zeit schon einmal hier gewesen zu sein, um zu erkennen, daß nicht Amber, sondern dieser Punkt das wahre Zentrum der Schöpfung war. Ich versuchte nach dem Hauch von Erinnerung zu greifen, die jedoch wieder verschwand.

Mit den Blicken suchte ich das blitzdurchzuckte Zwielicht ab.

»Sie alle – fort?« fragte ich. »Du, ich, Merlin, Random – wir sind auf dieser Seite die letzten?«

»Ja«, antwortete Fiona. »Möchtest du ihnen folgen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei Random.«

»Ich wußte, daß du das sagen würdest.«

Ich stand gleichzeitig mit ihr auf. Merlin kam unserem Beispiel nach. Fiona schlug die Hände, und ein weißes Pferd tänzelte auf sie zu.

»Du brauchst meine Pflege nicht mehr«, sagte sie. »Ich werde mich also den anderen in den Burgen des Chaos anschließen. An den Felsen dort sind Pferde für euch angebunden.« Sie deutete mit dem Arm. »Kommst du mit, Merlin?«

»Ich bleibe bei meinem Vater und dem König.«

»So sei es denn. Ich hoffe, ich sehe euch bald drüben.«

»Vielen Dank, Fiona«, sagte ich.

Ich half ihr in den Sattel und blickte ihr nach.

Dann kehrte ich zum Feuer zurück und setzte mich wieder. Ich beobachtete Random, der dem Unwetter starr entgegenblickte.

»Wir haben noch viel zu essen und genug Wein«, stellte Merlin fest. »Soll ich dir etwas besorgen?«

»Eine gute Idee.«

Das Unwetter war inzwischen so nahe, daß ich ihm hätte entgegengehen und es in wenigen Minuten erreichen können. Ich vermochte nicht zu sagen, ob Randoms Anstrengungen etwas fruchteten. Ich seufzte schwer und ließ meine Gedanken wandern.

Vorbei. Auf die eine oder andere Weise hatten meine Mühen seit Greenwood nun ein Ende gefunden. Es brauchte kein Rachedurst mehr gestillt zu werden. Nein. Wir hatten ein intaktes Muster, vielleicht sogar zwei. Die Ursache für alle unsere Probleme, Brand, war tot. Etwaige Überreste meines Fluches mußten den gewaltigen Erschütterungen zum Opfer fallen, die durch die Schatten fuhren. Außerdem hatte ich mich wirklich bemüht, meine Tat wiedergutzumachen. Ich hatte in meinem Vater einen Freund gefunden und mich mit ihm in seiner eigentlichen Gestalt arrangiert, ehe er unsere Welt verließ. Wir hatten einen neuen König, mit dem Segen des Einhorns, unseres Wappentiers, und hatten ihm unsere Treue geschworen. Diese Geste schien mir ehrlich gemeint zu sein. Ich war mit meiner Familie wieder versöhnt. Ich glaubte, meine Pflicht getan zu haben. Nichts trieb mich zu weiteren Taten. Ich hatte keine Motive zum Handeln mehr und war dem Frieden so nahe, wie ich es vielleicht jemals sein würde. Nach all meinen Erlebnissen meinte ich, sogar ruhig sterben zu können, sollte es wirklich soweit sein. Ich würde mich nicht ganz so heftig dagegen wehren, wie ich es zu jeder anderen Zeit getan hätte.

»Du bist weit von hier, Vater.«

Ich nickte und lächelte dann. Ich ließ mir etwas zu essen geben und biß ab. Gleichzeitig beobachtete ich den Sturm. Noch war es für einen genauen Eindruck zu früh, doch es sah aus, als rücke er nicht weiter vor.

Zum Schlafen war ich zu müde. Oder etwas ähnliches. Meine Schmerzen hatten nachgelassen und einer herrlichen Betäubung Platz gemacht. Ich hatte das Gefühl, in dicke Baumwolle gehüllt zu sein. Die Ereignisse und Erinnerungen ließen das Uhrwerk meiner Gedanken weiterticken. In mancher Hinsicht war es ein großartiges Gefühl.

Ich aß zu Ende und legte Holz ins Feuer. Ich trank Wein und beobachtete das Unwetter wie durch ein beschlagenes Fenster ein großes Feuerwerk. Das Leben war großartig! Wenn Random sein Problem löste, würde ich morgen in die Höfe des Chaos einreiten. Was mich dort erwarten mochte, wußte ich nicht. Vielleicht eine Falle. Ein Hinterhalt. Ein Trick. Ich schüttelte den Gedanken ab. Irgendwie kam es in diesem Augenblick nicht darauf an.

»Du hattest mir von dir erzählt, Vater.«

»Hatte ich das? Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe.«

»Ich würde dich gern besser kennenlernen. Erzähl mir mehr.«

Ich machte mit den Lippen ein schnalzendes Geräusch und zuckte die Achseln.

»Dann dies.« Er machte eine Handbewegung. »Dieser ganze Konflikt. Wie hat er begonnen? Wie sah deine Rolle darin aus? Fiona hat mir erzählt, du habest viele Jahre lang ohne Erinnerung in den Schatten gelebt, in einem Schattenreich namens Erde. Wie bist du zurückgekehrt, wie hast du deine Brüder und Schwestern gefunden – und Amber?«

Ich lachte leise. Noch einmal blickte ich zu Random und dem Unwetter hinüber. Ich trank einen Schluck Wein und zog den Mantel enger um mich.

»Warum nicht?« sagte ich dann. »Wenn du dir gern lange Geschichten anhörst . . . Am besten fange ich wohl mit der Greenwood-Privatklinik an, die sich auf der Schatten-Erde meines Exils befindet. Ja . . .«

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