Ich döste gerade vor mich hin, als der Kontakt mich überraschte. Ich sprang sofort auf. Es war Vater.
»Corwin, ich habe meine Entscheidungen getroffen. Die Zeit ist reif«, sagte er. »Mach deinen linken Arm frei!«
Ich gehorchte, während seine Gestalt sich noch weiter verdichtete und dabei immer königlicher aussah, eine seltsame Traurigkeit im Gesicht, wie ich sie bei ihm noch nie bemerkt hatte.
Er ergriff meinen Arm mit seiner linken Hand und zog mit der anderen seinen Dolch.
Ich sah zu, wie er mir in den Arm schnitt und die Klinge wieder fortsteckte. Blut quoll hervor, das er mit der linken Hand auffing. Er ließ meinen Arm los, bedeckte die linke Hand mit der rechten und entfernte sich einen Schritt. Die Hände vor das Gesicht hebend, hauchte er seinen Atem dazwischen und öffnete sie ruckartig.
Ein Vogel von der Größe eines Rabens, das Gefieder blutrot, bäumte auf seiner Hand, stieg auf seinen Unterarm und starrte mich an. Sogar die Augen waren rot, und irgendwie kam mir das Wesen vertraut vor, als es den Kopf auf die Seite legte und mich anblickte.
»Er ist Corwin, der Mann, dem du zu folgen hast«, sagte Vater zu dem Vogel. »Präge ihn dir ein!«
Dann setzte er sich das Tier auf die linke Schulter, von wo es mich weiter unverwandt anstarrte, ohne Anstalten zu machen, fortzufliegen.
»Du mußt dich auf den Weg machen, Corwin«, sagte er. »Und zwar sofort. Besteige dein Pferd und reite nach Süden! Verschwinde in den Schatten, so schnell es geht! Beginne einen Höllenritt! Entferne dich so weit wie möglich von hier!«
»Wohin, Vater?« fragte ich.
»Zu den Burgen des Chaos. Du kennst den Weg?«
»In der Theorie. Ich habe ihn nie zur Gänze zurückgelegt.«
Er nickte langsam. »Dann mach zu!« sagte er. »Du mußt ein möglichst großes Zeitdifferential zwischen diesem Ort und dir schaffen.«
»Na schön«, sagte ich. »Aber ich begreife das alles nicht.«
»Du wirst es begreifen, wenn die Zeit reif ist.«
»Aber es gibt einen einfacheren Weg«, wandte ich ein. »Ich komme schneller und weitaus müheloser ans Ziel, wenn ich mich mit Benedict und seinem Trumpf in Verbindung setze und mich von ihm hindurchholen lasse.«
»Das nützt nichts«, sagte Vater. »Du mußt den längeren Weg nehmen, weil du etwas bei dir trägst, das dir unterwegs übermittelt wird.«
»Übermittelt? Wie denn?«
Er hob den Arm und streichelte dem roten Vogel über das Gefieder.
»Durch deinen Freund hier. Er schafft den ganzen Weg zu den Burgen des Chaos nicht – zumindest nicht rechtzeitig.«
»Was wird er mir bringen?«
»Das Juwel. Ich glaube nicht, daß ich in der Lage bin, die Überbringung selbst zu veranlasen, wenn ich die Aufgabe erledigt habe, die ich dem Juwel und mir stellen muß. An jenem Ort könnte seine Macht uns irgendwie von Nutzen sein.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Trotzdem brauche ich nicht die ganze Strecke zurückzulegen. Ich könnte durch den Trumpf ans Ziel springen, nachdem ich das Juwel erhalten habe.«
»Das geht wohl leider nicht. Sobald ich getan habe, was ich hier tun muß, werden die Trümpfe für eine gewisse Zeit ihre Wirkung verlieren.«
»Warum?«
»Weil die gesamte Struktur unserer Welt sich verändern wird. Nun reite schon los, verdammt! Steig auf dein Pferd!«
Ich richtete mich auf und starrte ihn noch einen Moment lang an. »Vater, gibt es keine andere Möglichkeit?«
Er schüttelte nur den Kopf und hob die Hand. Gleichzeitig begann er zu verblassen.
»Leb wohl!«
Ich machte kehrt und stieg auf. Es hätte noch mehr zu sagen gegeben, aber dazu war es zu spät. Ich zog Star zu dem Weg herum, der mich nach Süden führen würde. Während Vater schon auf dem Gipfel Kolvirs mit den Schatten hatte spielen können, war mir das stets verwehrt geblieben. Ich mußte ein gutes Stück von Amber fort sein, ehe ich die ersten Verschiebungen bewirken konnte.
In dem Bewußtsein, daß es möglich war, wollte ich es heute aber einmal versuchen. Während ich also, den Weg nach Garnath ansteuernd, in südlicher Richtung über kahles Gestein und durch Felsschluchten ritt, durch die der Wind pfiff, versuchte ich die Stofflichkeit meiner Umwelt zu verformen.
. . . Ein kleines Büschel blauer Blumen an einer steinigen Kante.
Diese Entdeckung erfüllte mich mit Erregung, denn sie waren ein bescheidener Bestandteil meiner Bemühungen. Ich fuhr darin fort, der Welt meinen Willen aufzuerlegen.
Der Schatten eines dreieckigen Steines tauchte hinter der Wegbiegung auf . . . ein Umschlagen des Windes . . .
Einige kleinere Effekte funktionierten tatsächlich. Eine Rückwärtswendung des Weges . . . ein Spalt . . . ein uraltes Vogelnest hoch oben auf einem Felsvorsprung . . . Mehr blaue Blumen . . .
Warum nicht? Ein Baum . . . und ein zweiter . . .
Ich spürte, wie sich die Kraft in mir regte. Ich bewirkte neue Veränderungen.
Plötzlich kam mir hinsichtlich meiner neuentdeckten Fähigkeiten ein Gedanke. Durchaus möglich, daß ich aus rein psychologischen Gründen solche Manipulationen bisher nicht hatte durchführen können. Bis vor kurzem hatte ich Amber für die einzige unveränderbare Realität gehalten, von der alle Schatten ihre Gestalt ableiteten. In diesem Moment erkannte ich, daß Amber nur der erste Schatten war und daß der Ort, an dem sich mein Vater aufhielt, die höhere Realität darstellte. So erschwerte die unmittelbare Nähe zwar das Herbeiführen von Veränderungen, doch waren sie nicht unmöglich. Unter anderen Umständen hätte ich dennoch meine Kräfte gespart, bis ich eine Stelle erreichte, da mir die Verschiebungen nicht mehr so viel Mühe machten.
Heute aber war mir Eile aufgetragen worden. Ich würde mich anstrengen müssen, würde hetzen müssen, um den Wünschen meines Vaters nachzukommen.
Als ich den Pfad erreichte, der den Südhang Kolvirs hinabführte, hatte sich die Landschaft bereits verändert. Vor mir lag nicht die steile Tiefe, sondern eine Folge flacher Hänge. Schon drang ich in die Schattenländer ein.
Als ich meinen Weg fortsetzte, lag die schwarze Straße wie eh und je als schwarze Narve zu meiner Linken; allerdings war das Garnath, durch das sie schnitt, in leicht besserer Verfassung als die Region, die ich bis in den letzten Winkel kannte. Die Konturen waren weicher, aufgelockert durch grünen Bewuchs, der näher an den toten Streifen heranreichte. Es war, als sei mein Fluch auf dieses Land leicht abgemildert worden. Natürlich eine Illusion des Gefühls, befand ich mich doch eigentlich nicht mehr in meinem Amber. Meine Rolle hierbei tut mir leid, sagte ich im Geiste auf wie ein Gebet. Ich bin unterwegs, um mein Tun vielleicht rückgängig zu machen. Verzeih mir, Geist dieses Ortes. Mein Blick wandte sich in die Richtung, in der sich der Hain des Einhorns befinden mußte, doch er lag zu weit im Westen und wurde durch zu viele Bäume verstellt, als daß ich auch nur einen Zipfel jenes heiligen Ortes zu sehen bekam.
Im weiteren Verlauf meines Rittes flachte der Hang noch mehr ab und ging in eine Reihe sanfter Vorberge über. Hier ließ ich Star schneller gehen, zuerst in südwestlicher Richtung, dann nach Süden. Immer tiefer kam ich. Links funkelte und flirrte in großer Entfernung das Meer. Bald würde sich die schwarze Straße zwischen uns schieben, denn mein Weg nach Garnath brachte mich ihr näher. Was immer ich mit den Schatten anstellte – jene unheildrohende Erscheinung würde ich nicht auslöschen können. Im Grunde führte der schnellste Weg zu meinem Ziel parallel zu ihr.
Endlich erreichten wir den Talgrund. Der Wald von Arden ragte in großer Entfernung rechts von mir auf, sich nach Westen erstreckend, immens und undurchdringlich. Ich ritt weiter und gab mir große Mühe, neue Veränderungen zu bewirken, die mich noch weiter von zu Hause fortführten.
Ich hielt mich zwar in der Nähe der schwarzen Straße, achtete aber auf Abstand. Es blieb mir nichts anderes übrig, war sie doch das einzige, das ich nicht zu ändern vermochte. Ich achtete darauf, daß uns Büsche, Bäume und niedrige Hügel trennten.
Und wieder schickte ich meinen Geist auf die Reise, und die Beschaffenheit der Landschaft veränderte sich.
Achatadern . . . Haufen von Schiefergestein . . . ein Abdunkeln des Grüns . . .
Wolken schwammen durch den Himmel . . . Die Sonne schimmerte und tanzte . . .
Wir erhöhten das Tempo. Das Land fiel noch weiter ab. Die Schatten wurden länger und verschmolzen miteinander. Der Wald wich zurück. Rechts von mir wuchs eine Felswand empor, eine zweite erschien zu meiner Linken . . . Ein kalter Wind verfolgte mich durch den zerklüfteten Canyon. Himmelsstreifen – rot, golden, gelb und braun – zuckten vorüber. Der Canyongrund wurde sandig. Staubteufel umtanzten uns. Als der Weg anzusteigen begann, beugte ich mich noch weiter vor. Die einwärts geneigten Felsmauern rückten dichter zusammen. Der Weg wurde schmaler, immer schmaler. Beinahe vermochte ich beide Felswände zu berühren . . .
Oben stießen sie zusammen. Ich ritt durch einen schattengefüllten Tunnel, das Pferd zügelnd, als es immer dunkler wurde. Phosphoreszierende Wesen erstanden vor meinen Augen. Der Wind erzeugte ein klagendes Geräusch.
Und wieder hinaus!
Das von den Felsmauern reflektierte Licht war blendend grell, und ringsum erhoben sich riesige Kristalle. Wir stürmten daran vorbei auf einem ansteigenden Weg, der von dieser Zone fortführte, durch eine Reihe moosbewachsener Täler laufend, in denen sich kleine und völlig runde Teiche still wie Glas erstreckten.
Riesige Farnwedel tauchten vor uns auf, und wir ritten hindurch. Ich hörte einen fernen Trompetenton.
Drehen, im Schritt reiten . . . Die Farne nun breiter und kürzer . . . Dahinter eine große Ebene, sich in einen rosa Abend erstreckend . . .
Weiter über helles Gras . . . Der Geruch frischer Erde . . . Weiter vorn Berge oder dunkle Wolken . . . Von links ein ganzer Sturz von Sternen . . . Ein kurzer Hauch sprühender Feuchtigkeit . . . Ein blauer Mond springt am Himmel empor . . . Es zuckt zwischen den dunklen Massen . . . Erinnerungen und ein Grollen . . . Geruch nach Unwetter und entfesselter Luft . . .
Ein kräftiger Wind . . . Wolken vor den Sternen . . . eine grelle Gabel spießt rechts von mir einen zerschmetterten Baum auf, läßt ihn hoch auflodern . . . Ein Kribbeln . . . der Geruch nach Ozon . . . ich werde von Regen überschüttet . . . links eine Reihe von Lichtern . . .
Klappernd über eine kopfsteingepflasterte Straße . . . Ein seltsames Fahrzeug nähert sich . . . rund, prustend . . . Wir gehen uns aus dem Weg . . . Ein Ruf verfolgt mich . . . In einem hellen Fenster ein Kindergesicht . . .
Getrappel . . . Wasserspritzen . . . Läden und Wohnhäuser . . . der Regen läßt nach, erstirbt, ist vorbei . . . Nebelschwaden werden vorbeigeweht, verharren, verdichten sich, leuchten perlig im Schein eines stärker werdenden Lichts zu meiner Linken . . .
Das Terrain verschwimmt, wird rot . . . Das Licht im Nebel wird noch heller . . . Frischer Wind, von hinten, zunehmende Wärme . . . Die Luft bricht auseinander . . .
Hellgelber Himmel . . . eine orangerote Sonne, die der Mittagsstunde entgegeneilt . . .
Ein Beben. Etwas, das ich nicht bewirkt habe, völlig überraschend . . . Unter uns bewegt sich der Boden, aber das ist nicht alles. Der neue Himmel, die neue Sonne, die rostrote Ebene, auf die ich soeben geritten bin – dies alles bläht sich auf und zieht sich wieder zusammen, verblaßt und kehrt zurück. Ein Krachen ertönt, und mit jedem Verblassen sehe ich Star und mich allein, inmitten eines weißen Nichts – Figuren ohne Hintergrund. Wir treten ins Leere. Das Licht kommt von überall und erhellt nur uns selbst. Ein gleichmäßiges Knacken füllt meine Ohren, wie von einem auftauenden arktischen Fluß, an dem ich einmal entlanggeritten bin. Star, der schon viele Schatten erlebt hat, stößt ein angstvolles Schnauben aus.
Ich sehe mich um. Verschwommene Umrisse erscheinen, festigen sich, werden klar. Meine Umwelt ist wiederhergestellt, wenn sie auch irgendwie verwaschener aussieht. Ein wenig Farbe ist der Welt genommen worden.
Wir wirbeln nach links und galoppieren auf einen niedrigen Hügel zu, ersteigen ihn, verhalten schließlich auf seiner höchsten Stelle.
Die schwarze Straße. Sie scheint ebenfalls entartet zu sein – aber mehr noch als der Rest. Sie windet sich unter meinem Blick, scheint im Hinschauen beinahe zu fließen. Das Knacken setzt sich fort, wird lauter . . .
Aus dem Norden pfeift ein Wind herbei, zuerst schwach, dann stärker werdend. In diese Richtung schauend, sehe ich, wie sich eine dunkle Wolkenmasse aufbaut.
Ich weiß, ich muß jetzt galoppieren wie nie zuvor in meinem Leben. Sternstunden der Vernichtung und Schöpfung ereignen sich an dem Ort, den ich besucht habe – wann? Egal. Die Wellen bewegen sich von Amber auswärts, und selbst Amber mag untergehen – und ich mit ihm. Wenn Vater nicht wieder alles in den Griff bekommt.
Ich schüttle die Zügel. Wir galoppieren nach Süden.
Eine Ebene . . . Bäume . . . etliche zerstörte Gebäude . . . Schneller . . .
Rauch über einem brennenden Wald . . . eine Flammenwand . . . vorbei . . .
Gelber Himmel, blaue Wolken . . . eine Armada von Segelschiffen, die vor mir vorbeikreuzen . . .
Schneller . . .
Die Sonne senkt sich wie ein Stück glühendes Eisen in einen Eimer Wasser, die Sterne werden zu Funken . . . Helles Licht auf einem geraden Weg . . . Geräusche im Dopplereffekt von dunklen Verschmierungen entstellt, ein Heulen . . . Heller das Licht, schwächer die Aussicht . . . grau zu meiner Rechten, zu meiner Linken . . . Noch heller . . . vor meinen Augen nichts als der Weg, auf dem ich reiten muß . . . Das Heulen steigert sich zu schrillem Kreischen . . . Umrisse laufen ineinander . . . Wir stürmen durch einen Tunnel aus Schatten . . . Er beginnt sich zu drehen . . .
Drehen, sich winden . . . Nur die Straße ist real . . . Die Welten wirbeln vorbei . . . Ich habe meine Kontrolle über die Welten aufgegeben und reite nun im Schwung der eigentlichen Kraft, erfüllt von dem einzigen Ziel, von Amber loszukommen und in Richtung Chaos zu rasen . . . Wind überfällt mich, und in meinen Ohren gellt der Schrei . . . Nie zuvor habe ich meine Macht über die Schatten bis an ihre Grenzen ausgelotet . . . Der Tunnel wird so glatt und nahtlos wie Glas . . . ich glaube, durch einen Wirbel zu reiten, durch einen Mahlstrom, durch das Herz eines Tornados . . . Star und ich sind in Schweiß gebadet . . . Ein unbezwingbares Gefühl des Fliehenmüssens überkommt mich, als würde ich verfolgt . . . Die Straße ist zu einer Abstraktion geworden . . . Meine Augen schmerzen, als ich den Schweiß fortzublinzeln versuche . . . diesen Ritt vermag ich nicht viel länger durchzuhalten . . . an der Schädelbasis pulsiert ein Schmerz . . .
Sanft ziehe ich die Zügel an, und Star verliert an Tempo . . .
Die Mauern meines Lichttunnels werden körnig . . . es herrscht keine Einheitlichkeit der Färbung mehr, sondern ein Gewirr von Grau, Schwarz und Weiß . . . auch Braun . . . ein Hauch von Blau . . . Grün . . . Das Jaulen wird zu einem Summen, zu einem Grollen, verblassend. Der Wind kommt sanfter . . . Umrisse kommen und gehen . . .
Langsamer, immer langsamer . . .
Es gibt keinen Weg. Ich reite über moosbewachsenen Boden. Der Himmel ist blau, die Wolken weiß. Mir ist ganz leicht im Kopf. Ich zügele das Tier. Ich . . .
Winzig.
Entsetzt senkte ich den Blick. Ich stand am Rand eines Spielzeugdorfes. Häuser, die ich in der Hand halten könnte, winzige Straßen, kleine Fahrzeuge, die sich darauf bewegten.
Ich schaute zurück. Etliche kleine Behausungen hatten wir bereits zertreten. Ich sah mich um. Zur Linken war die Bebauung nicht so dicht. Vorsichtig führte ich Star in diese Richtung und machte erst wieder Halt, als wir den seltsamen Ort verlassen hatten. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieser seltsamen Siedlung – was immer sie sein mochte, wer immer dort auch leben mochte. Aber ich konnte nicht das geringste für diese Lebewesen tun.
So setzte ich meinen Weg fort, durch die Schatten reitend, bis ich eine Art verlassenen Steinbruch unter einem grünen Himmel erreichte. Hier kam ich mir schwerer vor. Ich stieg ab, trank einen Schluck Wasser und wanderte ein wenig auf und ab.
In tiefen Zügen genoß ich die feuchte Luft, die mich einhüllte. Ich war fern von Amber, so. weit entfernt, wie man es überhaupt nur sein kann, und hatte damit schon ein gutes Stück des Weges zum Chaos zurückgelegt. Selten war ich so weit von meinem Ausgangspunkt weg gewesen. Ich hatte mir diesen Ort zur Rast ausgesucht, weil er der Normalität so nahe kam, wie ich es nur irgend einrichten könnte; ich wußte aber, daß die Veränderungen bald immer radikaler werden würden.
Eben streckte ich meine müden Muskeln, als ich hoch über mir den Schrei hörte.
Aufblickend sah ich das dunkle Gebilde herniederzucken und zog automatisch Grayswandir. Doch in seinem weiteren Flug brach es das Licht im richtigen Winkel, und die geflügelte Gestalt sah aus wie in Feuer getaucht.
Mein Wappenvogel umkreiste mich und nahm schließlich auf meinem ausgestreckten Arm Platz. Die angsteinflößenden Augen musterten mich mit einer absonderlichen Intelligenz, doch schenkte ich ihnen nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen bei anderer Gelegenheit gegolten hätte. Vielmehr steckte ich Grayswandir ein und griff nach dem Ding, das mir der Vogel gebracht hatte.
Das Juwel des Geschicks.
Da wußte ich, daß Vaters Versuch, was immer sich dahinter verbergen mochte, beendet war. Das Muster war entweder repariert oder völlig zerstört. Entweder lebte er, oder er war tot. Die Auswirkungen seiner Tat würden sich jetzt von Amber ausgehend durch die Schatten ausbreiten wie die sprichwörtlichen Wellen auf dem Teich. In Kürze würde ich mehr über sie erfahren. Bis dahin hatte ich meine Befehle.
Ich zog die Kette über den Kopf und ließ mir das Juwel auf die Brust fallen. Dann stieg ich wieder auf Stars Rücken. Mein Blutvogel stieß einen kurzen Schrei aus und stieg in die Luft.
Wieder waren wir unterwegs.
. . . Durch eine Landschaft, über der sich der Himmel in dem Maße aufhellte, wie der Boden dunkler wurde. Schließlich flammte das Land, und der Himmel schwärzte sich ein. Dann umgekehrt. Und noch einmal . . . Mit jedem Schritt kehrte sich der Effekt um, und als wir zu traben begannen, wurde die Erscheinung zu einer stroboskopischen Reihe von Schnappschüssen ringsum, die sich allmählich zu ruckartiger Animation aufbauten, dann zur überdrehten Hektik eines Stummfilms. Schließlich war alles eine einzige verschwommene Masse.
Lichtpunkte zuckten vorbei wie Meteore oder Kometen. Ein pulsierender Schmerz machte sich bemerkbar, wie von einem allesdurchdringenden kosmischen Herzrhythmus. Ringsum begann alles zu kreisen, als wäre ich in einem Wirbelwind gefangen.
Etwas ging hier schief. Ich schien die Kontrolle zu verlieren. War es möglich, daß Vaters Tat sich bereits in diesem Bereich der Schatten bemerkbar machte? Es kam mir unwahrscheinlich vor. Trotzdem . . . Star stolperte. Im Sturz klammerte ich mich krampfhaft fest, wollte ich doch nicht in den Schatten von meinem Tier getrennt werden. Ich prallte mit der Schulter auf eine harte Oberfläche und lag einen Augenblick lang betäubt da.
Als die Welt sich wieder zusammensetzte, fuhr ich hoch und sah mich um.
Ein gleichförmiges Dämmerlicht hüllte mich ein, doch es gab keine Sterne. Statt dessen trieben große Felsbrocken unterschiedlicher Formen und Größen durch die Luft oder verharrten über mir. Ich stand auf und sah mich um.
Soweit ich meine Umgebung wahrnahm, konnte die unregelmäßige Steinfläche, auf der ich stand, ebenfalls ein berggroßer Felsbrocken sein, der zusammen mit den anderen dahintrieb. Star richtete sich auf und stand zitternd neben mir. Absolute Stille hüllte uns ein. Die reglose Luft war kühl. Kein anderes Lebewesen war in Sicht. Mir gefiel dieser Ort nicht. Freiwillig hätte ich hier nicht Rast gemacht. Ich kniete nieder, um mir Stars Bein anzusehen. Ich wollte so schnell wie möglich weiter, und zwar im Sattel.
Während ich damit beschäftigt war, hörte ich ein leises Lachen. War es einer menschlichen Kehle entsprungen?
Ich erstarrte, legte die Hand auf Grayswandirs Griff und suchte nach dem Ursprung der Laute.
Nichts war zu sehen.
Dabei hatten mich meine Ohren nicht getäuscht. Langsam drehte ich mich um und schaute in jede Richtung. Nein . . .
Dann war das Lachen erneut zu hören. Diesmal erkannte ich, daß es von oben kommen mußte.
Ich suchte die schwebenden Felsen ab. Mit Schatten befrachtet, machten sie mir die Suche nicht leicht . . .
Dort!
Zehn Meter über dem Boden und etwa dreißig Meter weiter links stand so etwas wie eine menschliche Gestalt auf einer kleinen Insel am Himmel und betrachtete mich. Ich starrte hinauf. Was immer das Wesen war, es schien zu weit entfernt zu sein, um mir gefährlich werden zu können. Ich war überzeugt, daß ich hier verschwinden konnte, ehe der andere mich zu erreichen vermochte. Ich machte Anstalten, Star zu besteigen.
»Das nützt nichts mehr, Corwin!« rief die Stimme, die ich in diesem Augenblick am wenigsten hören wollte. »Du sitzt in der Falle. Ohne meine Erlaubnis kannst du hier nicht mehr fort.«
Im Aufsteigen lächelte ich, dann zog ich Grayswandir.
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte ich. »Komm, verstell mir den Weg!«
»Schön«, sagte er, und aus dem nackten Gestein zuckten Flammen empor, die mich in einem lückenlosen Kreis umgaben, züngelnd, eine Wand bildend, lautlos.
Star drehte durch. Ich rammte Grayswandir wieder in die Scheide, hielt Star einen Zipfel meines Mantels vor die Augen und rief beruhigende Worte. Gleichzeitig vergrößerte sich der Kreis, das Feuer zog sich an den Rand des mächtigen Felsbrockens zurück, auf dem wir standen.
»Na, bist du überzeugt?« fragte die Stimme. »Dieser Ort ist zu klein. Gleichgültig, in welche Richtung zu reitest – dein Pferd gerät in Panik, ehe du in den Schatten verschwinden kannst.«
»Leb wohl, Brand«, sagte ich und begann zu reiten.
Ich beschrieb im Gegenuhrzeigersinn einen großen Kreis auf dem Gestein, wobei ich Stars rechtes Auge vor den Flammen am Rand abschirmte. Ich hörte Brand erneut auflachen; er hatte noch nicht gemerkt, was ich im Schilde führte.
Zwei große Felsen . . . gut. Ich ritt daran vorbei, auf Kurs bleibend. Zu meiner Linken jetzt eine zerklüftete Steinbarriere, eine Anhöhe, eine Senke . . . Wirre Schatten warfen die Flammen über meinen Weg . . . Dorthin. Hinab . . . Hinauf. Ein Hauch von Grün in jenem Lichtfleck. Ich spürte die Verschiebung einsetzen.
Die Tatsache, daß es auf geradem Kurs leichter fällt, besagt nicht, daß es im Kreis nicht ebenfalls geht. Wir reiten jedoch so oft geradeaus, daß wir die andere Möglichkeit oft vergessen.
Als ich mich den beiden großen Felsen von neuem näherte, spürte ich die Verschiebung noch mehr. Nun begriff auch Brand, was hier vorging.
»Halt, Corwin!«
Ich winkte ihm grüßend zu und verschwand zwischen den Felsen, tauchte hinab in einen schmalen Canyon, in dem zahlreiche gelbe Lichtflecken flirrten. Wie bestellt.
Ich zog meinen Mantel von Stars Kopf und spornte das Tier an. Der Canyon beschrieb eine Biegung nach rechts. Wir folgten ihm in eine besser beleuchtete Zone, die sich verbreiterte und immer mehr aufhellte.
. . . Unter einen großen Felsvorsprung, darüber ein milchiger Himmel, der auf der anderen Seite perlgrau schimmerte.
Immer tiefer reitend, immer schneller, immer weiter . . . Eine gezackte Klippe krönte den Hang zu meiner Linken, begrünt von gewundenen Buschpflanzen unter einem rosé angehauchten Himmel.
Ich ritt, bis aus dem Grün Blau geworden war unter einem gelben Himmel, bis die Schlucht einer fliederfarbenen Ebene entgegenstieg. Hier rollten orangerote Felsbrocken im Takt unserer Huftritte, die den Boden zum Erbeben zu bringen schienen. Ich ritt unter wirbelnden Kometen dahin und erreichte schließlich an einem Ort schwerer Parfumdüfte die Küste eines blutroten Meeres. Am Strand reitend sah ich eine große grüne und eine kleine bronzefarbene Sonne aus dem Himmel sinken, während skelettartige Flotten aufeinanderprallten und Tiefseeschlangen die orangeroten und blauen Segel umschwammen. Das Juwel pulsierte vor meiner Brust und schenkte mir Kraft. Ein heftiger Wind wehte und trieb uns durch einen kupferwolkigen Himmel über einem jaulenden Abgrund, der sich endlos zu erstrecken schien, schwarzgründig, funkendurchstoben, gefüllt mit betäubenden Gerüchen . . .
Hinter mir ewiges Donnergrollen . . . Zarte Linien, wie die Bruchstellen eines alten Gemäldes, sich überall ausbreitend . . . Kalt, ein alle Düfte tötender Wind verfolgt uns . . .
Linien . . . Die Risse erweitern sich, Schwärze füllt sie, fließt heraus . . . Dunkle Streifen wischen vorbei, hinauf, herab, kreiseln in sich selbst . . . Die Umrisse eines Netzes, die Anstrengungen einer riesigen unsichtbaren Spinne, die die Welt in ihr Netz locken will . . .
Hinab und immer weiter hinab . . . Erneut der Boden, runzlig und ledrig wie der Nacken einer Mumie . . . Unser pulsierender Ritt: lautlos . . . Weicher der Donner, nachlassend der Wind . . . Vaters letzter Atemhauch? Jetzt Tempo und fort . . .
Ein Engerwerden der Linien, bis hinab zur Feinheit eines Kupferstichs, dann in der Hitze der drei Sonnen verblasend . . . Und noch schneller . . .
Ein Reiter, näherkommend . . . die Hand auf den Schwertgriff legend, meinem Beispiel folgend . . . Ich. Ich, der ich zurückkehre? Gleichzeitig, unser Gruß. Irgendwie durch den anderen hindurch; die Luft ist in jenem trockenen Augenblick wie ein Wasservorhang . . . Was für ein Carroll´scher Spiegel, was für ein Rebma- und Tir-na-Nog´th-Effektl Doch weit entfernt zur Linken windet sich ein schwarzes Ding . . . Wir folgen der Straße . . . Sie führt mich weiter . . .
Weißer Himmel, weißer Boden und kein Horizont . . . Sonnen- und wolkenlos das Panorama . . . Nur jener schwarze Streifen in der Ferne, und überall schimmernde Pyramiden, mächtig und beunruhigend . . .
Wir ermüden. Mir gefällt dieser Ort nicht . . . Doch dem unbekannten Geschehnis, das uns verfolgt, sind wir zunächst entkommen. Zieh die Zügel an!
Ich war müde, spürte jedoch eine seltsame Vitalität in mir. Sie schien von meiner Brust auszugehen . . . Das Juwel, natürlich! Ich versuchte erneut auf seine Kraft zurückzugreifen. Ich spürte die Energie auswärts in meine Glieder strömen, kaum haltmachend an den Spitzen. Es war beinahe, als würde ich . . .
Ja. Ich projizierte meinen Willen und legte ihn auf die kahle geometrische Umgebung. Sie begann sich zu verändern.
Eine Bewegung. Die Pyramiden rutschten vorbei und wurden dabei dunkler. Sie schrumpften, verschmolzen, verwandelten sich in Kies. Die Welt stellte sich auf den Kopf, und ich stand wie auf der Unterseite einer Wolke und sah Landschaften unter und über mir vorbeizucken.
Licht strömte aufwärts, ausgehend von einer goldenen Sonne unter meinen Füßen, hüllte mich ein. Aber auch diese Erscheinung ging vorbei, und der weiche Boden verdunkelte sich, und Wasser schoß empor, um das vorbeiziehende Land aufzulösen. Blitze zuckten zur Welt über mir hinauf, wollten sie auseinanderbrechen lassen. Da und dort bröckelte sie, und die Bruchstücke fielen rings um mich nieder.
In einer vorbeihuschenden Woge der Dunkelheit begannen sie zu trudeln.
Als das Licht zurückkehrte, jetzt bläulich schimmernd, hatte es keinen Ausgangspunkt mehr und erhellte kein Land.
. . . Goldene Brücken durchqueren die Leere in gewaltigen Bögen, von denen sich einer funkelnd auch unter uns erstreckt. Wir folgen seinem Lauf, dabei stehen wir still wie ein Denkmal . . . Dies dauert etwa ein Zeitalter. Ein Phänomen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit Schnellstraßenhypnose hat, macht sich durch meine Augen bemerkbar, läßt mich gefährlich träge werden.
Ich tue, was ich kann, um unser Vorankommen zu beschleunigen. Ein weiteres Zeitalter vergeht.
Endlich erscheint weit vor uns als vager, vernebelter Fleck unser Ziel, das trotz unserer großen Geschwindigkeit nur langsam wächst.
Als wir es endlich erreichen, ist es gigantisch – eine Insel in der Leere, mit metallischen goldenen Bäumen bewaldet . . .
Ich stoppe die Bewegung, die uns bis jetzt mitgerissen hat, und wir traben aus eigener Kraft weiter, in den seltsamen Wald hinein. Unter den Hufen knirscht Gras wie Aluminiumfolie. Seltsame Früchte, bleich schimmernd, hängen von den Bäumen ringsum. Von tierischem Leben ist nicht sofort etwas zu spüren. Weiter in den Wald vordringend, erreichen wir eine kleine Lichtung, die von einem quecksilbernen Bach geteilt wird. Dort steige ich ab.
»Bruder Corwin«, ertönt da die Stimme von neuem. »Ich habe auf dich gewartet.«