10

Ich lag schmerzerfüllt am Boden und gab mich meinen Visionen hin: Brand, der auf dem Schlachtfeld erschien, auf dem die Streitkräfte Ambers und des Chaos gegeneinander anstürmten, das pulsierende Juwel auf seiner Brust. Anscheinend genügte ihm seine Kontrolle darüber, um die Geschehnisse zu unseren Ungunsten zu beeinflussen. Ich sah, wie er Blitze gegen unsere Truppen schleuderte. Ich sah ihn mächtige Windstöße und Hagelschauer heraufbeschwören, die uns vernichtend trafen. Am liebsten hätte ich geweint. Dies alles zu einer Zeit, da er sich noch hätte läutern können, indem er sich auf unsere Seite stellte. Es genügte ihm wohl nicht mehr, einfach nur zu siegen. Er mußte diesen Sieg für sich selbst erringen und nach seinen eigenen Vorstellungen. Und ich? Ich hatte versagt. Ich hatte ein Muster gegen das Chaos errichtet, was ich mir niemals zugetraut hätte. Und doch würde meine Tat nichts bedeuten, wenn die Schlacht verloren war und Brand zurückkehrte, um das Muster auszulöschen. Meinem Ziel so nahe zu sein und dann doch einen Fehlschlag zu erleiden . . . Ich spürte den Drang, »Ungerechtigkeit« zu brüllen, obwohl ich wußte, daß sich das Universum nicht nach meinen Vorstellungen von Fairneß richtete. Ich knirschte mit den Zähnen und spuckte Dreck aus, der mir zwischen die Lippen geraten war. Mein Vater hatte mir den Auftrag gegeben, das Juwel zum Schlachtfeld zu bringen. Beinahe hätte ich es geschafft.

Plötzlich kam mir etwas seltsam vor. Etwas erforderte meine Aufmerksamkeit. Was?

Die Stille.

Der Sturm tobte nicht mehr, der Donner war verstummt. Die Luft stand still, und sie fühlte sich angenehm frisch an. Und ich wußte, daß auf der anderen Seite meiner geschlossenen Lider Licht strahlte.

Ich öffnete die Augen. Ich erblickte einen Himmel aus einem hellen, einheitlichen Weiß. Ich blinzelte und drehte den Kopf. Rechts von mir befand sich etwas . . .

Ein Baum. An der Stelle, an der ich den vom alten Ygg abgeschnittenen Stock stehengelassen hatte, befand sich ein Baum. Schon war er größer als der ursprüngliche Stab. Ich glaubte förmlich zu sehen, wie er wuchs. Und er war grün von Blättern und weiß von vereinzelten Knospen; einige Blüten hatten sich bereits geöffnet. Aus dieser Richtung trug die Brise einen schwachen, angenehmen Duft herbei, der mich irgendwie tröstete.

Ich betastete meinen Körper. Ich schien ohne Rippenbrüche davongekommen zu sein, während mein Unterleib höllisch schmerzte von dem Tritt, den ich erhalten hatte. Ich rieb mir die Augen und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Seufzend stemmte ich mich auf ein Knie hoch.

Den Kopf drehend, sah ich mich um. Das Plateau war das alte – aber auch wieder nicht. Es war noch immer kahl, doch nicht mehr abweisend und öde. Vermutlich eine Folge der Beleuchtung. Nein, es stand mehr dahinter . . .

Ich hatte meine Drehung fortgesetzt, bis ich schließlich den ganzen Horizont abgesucht hatte. Es war doch nicht derselbe Ort, an dem ich meine Wanderung durch das Muster begonnen hatte. Es gab feine wie auch grobe Unterschiede: veränderte Felsformationen, eine Senke, wo zuvor eine Erhebung gewesen war, eine andere Maserung des Gesteins unter mir und in meiner Nähe, in der Ferne so etwas wie Mutterboden. Ich stand auf und glaubte plötzlich aus unbestimmter Richtung Meeresgeruch wahrzunehmen. Diese Welt fühlte sich ganz anders an als die, in die ich geklettert war – es schien so lange her zu sein. Die Veränderungen waren zu tiefgreifend, als daß sie allein von dem Unwetter stammen konnten. Ich fühlte mich an etwas anderes erinnert.

In der Mitte des Musters stehend, setzte ich die Inspektion meiner Umgebung fort. Beinahe gegen meinen Willen schien meine Verzweiflung zu verfliegen und einem Gefühl der »Erfrischung« – ja, das schien mir irgendwie das richtige Wort zu sein – Platz zu machen. Die Luft war so sauber und süß, und die Szene wirkte irgendwie neu und unberührt auf mich. Ich . . .

Natürlich! Es war die Umgebung des Ur-Musters. Ich wandte mich dem Baum zu, der inzwischen weiter gewachsen war, und betrachtete ihn von neuem. Ähnlich – und auch wieder nicht . . . Etwas Neues lag in der Luft, im Boden, im Himmel. Dies war eine neue Welt. Ein neues Ur-Muster. Dann war alles ringsum die Folge des Musters, in dem ich stand.

Plötzlich ging mir auf, daß ich mehr empfand als nur Belebung. Es war ein Gefühl der Freude, ein Hochgefühl, das mich durchströmte. Ich befand mich an einem sauberen, frischen Ort, der irgendwie auf mich zurückging.

Die Zeit verstrich. Ich stand einfach nur da und beobachtete den Baum, ich sah mich um und genoß die Euphorie, die von mir Besitz ergriffen hatte. Hier lag auf jeden Fall eine Art Sieg – bis Brand zurückkehrte und ihn mir nahm.

Plötzlich war ich wieder ganz nüchtern. Ich mußte Brands Plan vereiteln, ich mußte diesen Ort schützen. Ich befand mich im Zentrum eines Musters. Wenn es dieselben Eigenschaften hatte wie das andere, konnte ich mich mit seiner Kraft an jeden gewünschten Ort projizieren. Mit seiner Hilfe konnte ich mich den anderen anschließen.

Ich stäubte meine Kleidung ab. Ich lockerte die Klinge in der Scheide. Die Lage war vielleicht nicht so hoffnungslos, wie sie mir eben noch erschienen war. Man hatte mir den Auftrag gegeben, das Juwel an den Schauplatz des Kampfes zu bringen. Das hatte Brand nun für mich übernommen; es würde auf jeden Fall zur Stelle sein. Ich mußte ihm nur folgen und es ihm irgendwie wieder abnehmen, um die Dinge so zu drehen, wie sie sich hätten entwickeln sollen.

Ich sah mich um. Ich würde ein andermal hierher zurückkehren müssen, um diese neue Situation genau zu ergründen – aber nur, wenn ich die kommenden Ereignisse überlebte. Irgendwo lag hier ein Rätsel. Es hing in der Luft, es bewegte sich mit der Brise. Es mochte viele Zeitalter dauern, das aufzuklären, was sich hier ereignet hatte, als ich das neue Muster zeichnete.

Ich grüßte den Baum. Wie zur Antwort schien er die Äste zu bewegen. Ich schob meine Rose zurecht und drückte sie wieder in Form. Es wurde Zeit, den Weg fortzusetzen. Ich hatte etwas zu erledigen. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen. Ich versuchte mir die Beschaffenheit des Landes vor dem letzten Abgrund an den Burgen des Chaos vorzustellen. Ich betrachtete die Szene unter dem wirbelnden Himmel und bevölkerte sie mit meinen Verwandten und mit Truppen. Ich glaubte dabei leise Kampfgeräusche wahrzunehmen. Die Szene vertiefte sich, wurde klarer. Ich hielt die Vision noch einen Augenblick lang fest, gab dann dem Muster den Impuls, mich dorthin zu tragen.

. . . Gleich darauf schien ich auf einem Hügel über einer Ebene zu stehen. Ein kalter Wind wehte meinen Mantel zur Seite. Der Himmel zeigte sich als das verrückte, kreisende, punktierte Durcheinander, das ich noch von meinem ersten Besuch in Erinnerung hatte – halb schwarz, halb gefüllt mit psychedelisch zuckenden Regenbogenfarben. Unangenehme Dämpfe verpesteten die Luft. Die schwarze Straße erstreckte sich zur Linken; sie überquerte die Ebene und führte darüber hinaus und über den Abgrund zu der schwarzen Zitadelle, die von zuckenden Glühwürmchenlichtern umgeben war. Durchscheinend wirkende Brücken schwebten in der Luft, aus den Tiefen der Dunkelheit heranreichend, und absonderliche Gestalten bewegten sich darauf wie auch auf der schwarzen Straße. Auf dem Terrain unter mir schien sich die größte Zusammenballung von Truppen zu befinden, die es je gab. Hinter mir hörte ich etwas. Ich wandte mich in die Richtung, die Norden sein mußte – immerhin hatte ich seinen Kurs schon mehrfach berechnet – und gewahrte den bekannten Teufelssturm, der durch die fernen Berge näherrückte, blitzend und grollend, sich herbeiwälzend wie ein himmelshoher Gletscher.

Ich hatte diese Erscheinung mit der Schaffung eines neuen Musters also nicht zum Stillstand gebracht. Anscheinend hatte sie mein geschütztes Gebiet einfach umgangen und würde sich weiterwälzen, bis sie ihr Ziel erreichte oder ins Leere stieß. Ihr auf dem Fuße folgten hoffentlich recht starke konstruktive Impulse, die sich bereits von dem neuen Muster ausbreiten müßten, mit der Wiedereinführung der Ordnung in allen Schattenwelten. Ich fragte mich, wie lange das Unwetter noch brauchen würde, bis es uns erreichte.

Plötzlich hörte ich Hufschlag, zog meine Klinge und drehte mich um . . .

Ein gehörnter Reiter stürmte auf einem großen schwarzen Pferd in meine Richtung. In seinen Augen schienen Flammen zu züngeln.

Ich korrigierte meine Haltung und wartete ab. Er schien von einer der durchsichtigen Straßen herabgestiegen zu sein, die in meine Richtung trieben. Beide befanden wir uns abseits des allgemeinen Geschehens. Ich sah zu, wie er den Hügel heraufritt. Ein gutes Pferd. Eine schöne breite Brust. Wo, zum Teufel, steckte Brand? Ich war im Augenblick nicht auf einen Kampf scharf.

Ich beobachtete den Reiter und die gekrümmte Klinge in seiner rechten Hand. Als er Anstalten machte, mich niederzureiten, sprang ich zur Seite. Als er ausholte, war ich mit einem Parierschlag zur Stelle, der seinen Arm in meine Reichweite brachte. Ich packte ihn und zerrte ihn von seinem Tier.

»Die Rose da . . .«, sagte er im Fallen. Ich weiß nicht, was er sonst noch sagen wollte, weil ich ihm die Kehle durchschnitt und seine Worte und alles andere an ihm mit dem heftigen Schnitt zu Ende gingen.

Ich fuhr herum, hielt Grayswandir zur Seite, rannte los und packte die Zügel des schwarzen Tiers. Dann redete ich beruhigend auf den Hengst ein und führte ihn von den Flammen fort. Nach einigen Minuten hatten wir uns kennengelernt, und ich stieg in den Sattel.

Er war sehr unruhig, doch ich ließ ihn zuerst nur ungezwungen auf dem Hügelkamm entlanggehen, während ich meine Beobachtungen fortsetzte. Die Streitkräfte Ambers schienen in der Offensive zu sein. Überall auf dem Schlachtfeld lagen qualmende Leichen. Die Hauptstreitmacht des Gegners hatte sich auf eine Anhöhe nahe dem großen Abgrund zurückgezogen. Ihre Reihen, bedrängt, aber noch nicht aufgelöst, bewegten sich in geordnetem Rückzug langsam darauf zu. Von der anderen Seite kamen dagegen weitere Kämpfer über den Abgrund und schlossen sich den Kämpfenden an, die die Anhöhe hielten. In Anbetracht der zunehmenden Kampfkraft und der günstigen Position ging ich davon aus, daß dort ein Gegenangriff vorbereitet wurde. Brand war nicht zu sehen.

Selbst wenn ich ausgeruht und in Rüstung gewesen wäre, hätte ich es mir zweimal überlegt, ehe ich dort hinabgeritten wäre, um an dem Kampf teilzunehmen. Meine Aufgabe war es zunächst, Brand ausfindig zu machen. Ich nahm nicht an, daß er direkt in den Kampf eingreifen würde. So suchte ich die Randzonen der eigentlichen Scharmützel ab, Ausschau haltend nach einer einsamen Gestalt. Nein . . . Vielleicht auf der anderen Seite des Schlachtfelds. Ich würde zum Norden hinüberreiten müssen. In Richtung Westen war mir der Blick von hier aus zu sehr verwehrt.

Ich zog das Tier herum und lenkte es den Hügel hinab. Dabei überlegte ich mir, daß es sehr angenehm wäre, mich jetzt zum Schlafen niederzulegen. Einfach vom Pferd fallen und schlafen. Ich seufzte. Wo steckte Brand nur?

Ich erreichte den Fuß des Hügels und wechselte die Richtung, um durch einen Felsgraben zu reiten. Ich mußte einen besseren Beobachtungsstandpunkt finden . . .

»Lord Corwin von Amber!«

Ich kam um eine Biegung der Senke und sah ihn vor mir, einen großen leichenblassen Burschen mit rotem Haar und einem fahlen Pferd. Er trug eine kupferschimmernde Rüstung mit grünlichen Markierungen und saß starr wie ein Denkmal im Sattel.

»Ich habe dich auf dem Hügel gesehen«, stellte er fest. »Du trägst keinen Panzer, oder?«

Ich schlug mir vor die Brust.

Er nickte energisch. Dann hob er die Hand, zuerst an die linke Schulter, dann an die rechte, dann nestelte er unter seinen Armen an den Halterungen des Brust- und Rückenschildes. Als er sie gelöst hatte, nahm er die Rüstung ab und senkte sie auf der linken Seite zu Boden. Auf gleiche Weise verfuhr er mit seinen Beinschützern.

»Ich wollte dich schon lange einmal kennenlernen«, sagte er. »Ich bin Borel. Es soll von mir nicht gesagt werden, daß ich dich auf unfaire Weise übervorteilt hätte, wenn ich dich jetzt töten muß.«

Borel . . . Der Name kam mir bekannt vor. Dann fiel es mir ein. Der Mann hatte Daras Respekt und Zuneigung genossen. Er war ihr Fechtlehrer gewesen, ein Meister der Klinge. Allerdings ein Dummkopf. Er verspielte meinen Respekt, als er sich seiner Rüstung begab. Kämpfen ist kein Spiel, und ich hatte keine Lust, mich einem eingebildeten Dummkopf auszuliefern, der anderer Meinung war. Und erst recht keinem fähigen Dummkopf, wenn ich überdies noch am Ende meiner Kräfte war. Wenn schon nicht im Kampf, so mochte er mich auf jeden Fall mit seiner Ausdauer besiegen.

»Jetzt werden wir eine Sache klären, die mich seit langer Zeit beunruhigt«, sagte er.

Ich erwiderte mit einem passenden unfeinen Wort, riß meinen Schwarzen herum und galoppierte den Weg zurück, auf dem ich gekommen war. Er nahm sofort die Verfolgung auf.

Auf dem Ritt durch die Senke wurde mir klar, daß mein Vorsprung nicht ausreichte. In wenigen Sekunden würde er mich einholen und mich niederstrecken oder mir den Kampf aufzwingen. Meine Möglichkeiten waren zwar ziemlich beschränkt, doch ein wenig mehr wollte ich aus der Situation schon machen.

»Feigling!« brüllte er. »Du kneifst vor dem Kampf! Ist das der große Krieger, von dem ich schon soviel gehört habe?«

Ich hob die Hand und öffnete die Spange meines Mantels. Der obere Rand der Senke lag zu beiden Seiten auf Höhe meiner Schultern, dann meiner Hüfte.

Ich ließ mich nach links aus dem Sattel rollen, stolperte und fand das Gleichgewicht. Der Schwarze galoppierte weiter. Ich trat nach rechts und blickte dem anderen entgegen.

Meinen Mantel faßte ich mit beiden Händen und schwang ihn rückwärts im Kreis herum, ehe Borels Kopf und Schultern vor mir auftauchten. Der Stoff hüllte ihn mitsamt der gezogenen Klinge ein, seinen Kopf verdeckend, seine Armbewegungen hemmend.

Ich trat energisch zu. Dabei zielte ich auf seinen Kopf, erwischte ihn aber nur an der linken Schulter. Er wurde aus dem Sattel gedrückt, und sein Pferd galoppierte ebenfalls weiter.

Ich zog Grayswandir und sprang hinter ihm her. Ich erwischte ihn, als er eben seinen Mantel zur Seite streifte und sich aufzurichten versuchte. Ich spießte ihn an Ort und Stelle auf und sah den erstaunten Ausdruck auf seinem Gesicht, als die Wunde zu brennen begann.

»Oh, gemeines Tun!« rief er. »Ich hatte von dir Besseres erwartet!«

»Wir halten hier nicht die Olympischen Spiele ab«, sagte ich und wischte mir die Funken vom Mantel.

Dann fing ich mein Pferd wieder ein und stieg in den Sattel. Dies kostete mich mehrere Minuten. Meinen Ritt fortsetzend, erreichte ich höheres Terrain. Von dort vermochte ich Benedict auszumachen, der die Schlacht lenkte, und in einer weit zurückliegenden Senke Julian an der Spitze seiner Truppen aus Arden, die von Benedict offenbar in Reserve gehalten wurden.

Ich ritt weiter dem vorrückenden Unwetter entgegen, überragt von dem halb schwarzen, halb buntschillernden kreisenden Himmel. Nach kurzer Zeit erreichte ich mein Ziel, den höchsten Berg in dieser Gegend, und begann ihn zu ersteigen. Unterwegs hielt ich mehrmals inne, um zurückzuschauen.

Ich sah Deirdre in schwarzer Rüstung eine Axt schwingen; Llewella und Flora hielten sich bei den Bogenschützen auf. Fiona vermochte ich nicht auszumachen, ebensowenig Gérard. Dann sah ich Random auf dem Rücken eines Pferdes eine schwere Klinge schwingen; er führte einen Angriff auf die hochgelegenen Stellungen des Feindes. In seiner Nähe hielt sich ein grüngekleideter Ritter auf, den ich nicht erkannte. Der Mann setzte seinen Morgenstern mit tödlicher Genauigkeit ein. Auf dem Rücken trug er einen Bogen und an der Hüfte einen Köcher mit schimmernden Pfeilen.

Als ich den Hügelkamm erreichte, klang das Toben des Unwetters lauter herüber. Die Blitze zuckten mit der Gleichmäßigkeit von Neonröhren, und der Regen prasselte herab, ein Fiberglasvorhang, der nun über die Berge vorgerückt war.

Unter mir waren Tiere und Menschen – und nicht wenige Tiermenschen – in die Formationen des Kampfes verstrickt. Eine Staubwolke hing über dem Schlachtfeld. Als ich die Kräfteverteilung abschätzte, hatte ich nicht den Eindruck, daß sich die wachsenden feindlichen Streitkräfte noch weiter zurückdrängen lassen würden. Ich hatte sogar das Gefühl, daß der Gegenangriff unmittelbar bevorstand. Die Männer in den zerklüfteten Stellungen schienen sich bereitzuhalten und nur noch auf den Befehl zu warten.

Ich irrte mich nur um etwa anderthalb Minuten. Dann rückten die Horden vor, den Hang herabbrandend, die eigenen Reihen stärkend, unsere Kämpfer zurückdrängend, nicht innehaltend. Und von der anderen Seite des dunklen Abgrundes kam weitere Verstärkung. Unsere Soldaten begannen einen einigermaßen geordneten Abzug einzuleiten. Der Feind bedrängte sie noch energischer, und als es so aussah, als würde sich die Lage zum Chaos wenden, schien ein Befehl zu kommen.

Ich hörte Julians Horn erklingen, und gleich darauf sah ich ihn auf dem Rücken Morgensterns an der Spitze der Männer aus Arden in den Kampf eingreifen. Dieses Manöver stellte das Gleichgewicht zwischen den beiden Seiten fast wieder her, und der Lärm nahm weiter zu, während der Himmel ungerührt über uns kreiste.

Etwa eine Viertelstunde lang beobachtete ich die Auseinandersetzung, die dazu führte, daß sich unsere Leute langsam zurückzogen. Dann sah ich plötzlich auf einem fernen Hügel eine einarmige Gestalt auf einem wilden gestreiften Pferd. In der Hand schwenkte der Mann eine Klinge; er blickte in die entgegengesetzte Richtung, nach Westen. Mehrere Sekunden lang rührte er sich nicht. Dann senkte er das Schwert.

Aus dem Westen tönten Trompeten herüber, doch zuerst sah ich nichts. Dann kam ein Schwadron Kavallerie in Sicht. Ich fuhr zusammen. Ich dachte einen Augenblick lang, Brand wäre dabei. Dann ging mir auf, daß dort Bleys vorstürmte, um mit seiner Truppe die ungeschützte Flanke anzugreifen.

Und plötzlich zogen sich unsere Kämpfer nicht mehr zurück. Sie hielten die Stellung. Dann drangen sie wieder vor.

Bleys und seine Reiter stürmten herbei, und ich erkannte, daß Benedict den Vorteil wieder auf seiner Seite hatte. Dem Feind drohte die totale Vernichtung.

Im nächsten Augenblick wehte eine kalte Bö aus dem Norden, und ich blickte in diese Richtung.

Das Unwetter war ein gutes Stück vorangekommen; in letzter Zeit schien es sich noch schneller zu bewegen. Und es hatte sich in einem bisher ungeahnten Maße verdüstert, mit helleren Blitzen und lauteren Donnerschlägen. Und der kalte, feuchte Wind nahm an Stärke noch weiter zu.

Ich fragte mich, ob die Erscheinung wie eine Vernichtungswoge über das Schlachtfeld schwappen würde – und dann weiter nichts? Wie stand es mit den Auswirkungen des neuen Musters? Würden diese sich anschließend bemerkbar machen und eine Art Korrektur bilden? Irgendwie zweifelte ich daran. Wenn dieses Toben der Elemente uns vernichtete, dann blieb es wohl dabei – davon war ich überzeugt. Die Kraft des Juwels war erforderlich, damit wir den Angriff über uns dahinrollen lassen konnten, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Und was würde noch übrig sein, wenn wir überlebten? Ich konnte es mir nicht vorstellen.

Was hatte Brand also vor? Worauf wartete er? Was wollte er unternehmen?

Wieder blickte ich über das Schlachtfeld . . .

Ein schattiger Winkel auf der Anhöhe, wo der Feind sich neu gruppiert hatte und vor dem neuerlichen Angriff verstärkt wurde – da war etwas.

Ein winziges rotes Blinken. Ich war überzeugt, daß ich es wahrgenommen hatte. Ich starrte weiter hinüber und wartete ab. Ich mußte es noch einmal sehen, mußte seine Position genau bestimmen . . .

Eine Minute verging. Vielleicht auch zwei . . .

Dort! Und noch einmal.

Ich zog das schwarze Pferd herum. Es schien nicht unmöglich zu sein, die nahegelegene Flanke des Feindes zu umgehen und jene angeblich leere Höhe zu ersteigen. Ich galoppierte den Hügel hinab und suchte mir meinen Weg.

Es mußte Brand sein mit dem Juwel. Er hatte sich ein gutes und sicheres Versteck ausgesucht, eine Stelle, von der er nicht nur das gesamte Schlachtfeld im Auge behalten konnte, sondern auch den anrückenden Sturm. Von dort oben konnte er seine Blitze gegen unsere vorrückenden Truppen schicken. Er konnte im richtigen Augenblick das Rückzugsignal geben, mit der entarteten Wut des Unwetters zuschlagen und sie von den Kämpfern ablenken, die er unterstützte. Dies schien mir die einfachste und nützlichste Verwendung zu sein, die er unter diesen Umständen für das Juwel haben konnte.

Ich mußte sofort möglichst dicht an ihn heran. Immerhin hatte ich eine größere Kontrolle über den Edelstein als er, doch meine Einwirkungsmöglichkeiten verringerten sich mit der Entfernung, und bestimmt hatte er das Juwel bei sich. Meine Chance lag allenfalls darin, auf ihn loszustürmen, um jeden Preis in die Kontrolldistanz zu kommen und dann das Kommando über den Stein zu übernehmen und ihn gegen Brand einzusetzen. Allerdings war es möglich, daß er sich dort oben mit einer Leibwache umgeben hatte. Dieser Gedanke beunruhigte mich, denn ein solches Hindernis mochte mich mit katastrophalen Folgen an der Ausführung meines Plans hindern. Und wenn er ungeschützt war – was hinderte ihn daran, mir mit Teleportation zu entwischen, wenn die Lage für ihn zu brenzlig wurde? Was sollte ich dann tun? Dann würde ich meine Jagd auf ihn von vorn beginnen müssen. Ich überlegte, ob ich mit dem Juwel verhindern konnte, daß er sich an einen anderen Ort versetzte. Ich wußte es nicht, nahm mir aber vor, es auf jeden Fall zu versuchen.

Es war sicher nicht der beste Plan, der jemals geschmiedet worden war, aber der einzige, der mir in den Sinn kam. Zeit für weitere Überlegungen blieb mir nicht mehr.

Im Reiten erkannte ich, daß auch andere auf die Anhöhe zuhielten. Random, Deirdre und Fiona waren in Begleitung von acht Kavalleristen durch die feindlichen Reihen geritten, dichtauf gefolgt von einigen anderen Soldaten – ob Freund oder Feind, wußte ich nicht. Der grüngekleidete Ritter schien dabei am schnellsten voranzukommen; er verringerte den Abstand zu der ersten Gruppe. Ich erkannte ihn – oder sie – nicht. Da Fiona zu der Expedition gehörte, wußte ich sofort, was der Vorstoß sollte. Sie hatte bestimmt Brands Gegenwart gespürt und führte nun die anderen zu ihm. Eine kleine Flamme der Hoffnung regte sich in meinem Herzen. Durchaus möglich, daß sie Brands Kräfte neutralisieren oder zumindest dämpfen konnte. Ich beugte mich vor und trieb mein Pferd heftig an; mein Weg führte mich nach links um die Kämpfenden herum. Der Himmel drehte sich unentwegt. Der Wind tobte. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag hallte. Ich schaute nicht zurück.

Ich versuchte die anderen einzuholen. Ich wollte nicht, daß sie ihr Ziel vor mir erreichten, fürchtete aber, daß ich es nicht verhindern konnte. Die Entfernung war zu groß.

Wenn sie sich nur umdrehen und mich sehen würden! Bei meinem Anblick würden sie wahrscheinlich warten. Ich wünschte, ich hätte ihnen mein Eintreffen irgendwie signalisieren können. Zu dumm, daß die Trümpfe nicht mehr funktionierten!

Ich begann zu rufen. Ich schrie hinter ihnen her, doch der Wind riß mir die Worte vom Mund, und der Donner rollte darüber hin.

»Wartet auf mich! Verdammt! Ich bin´s, Corwin!«

Niemand schaute in meine Richtung.

Ich passierte die ersten Gruppen von Kämpfern und ritt außer Reichweite von Wurfgeschossen und Pfeilen an der Flanke des Feindes entlang. Die Gegner schienen sich inzwischen noch schneller zurückzuziehen, und unsere Truppen verteilten sich auf ein größeres Gebiet. Brand wollte sicher gleich zuschlagen. Ein Teil des rotierenden Himmels war von einer dunklen Wolke verdeckt, die vor wenigen Minuten noch nicht über dem Schlachtfeld geschwebt hatte.

Ich wandte mich hinter den zurückweichenden Streitkräften nach rechts und galoppierte auf die Hügel zu, die die anderen bereits erreicht hatten.

Unterwegs verdüsterte sich der Himmel immer mehr, und ich begann um meine Genossen zu bangen. Sie rückten Brand bereits zu dicht auf den Pelz. Er würde etwas gegen sie unternehmen müssen. Es sei denn, Fiona war stark genug, um ihn zu bremsen . . .

Vor mir zuckte ein greller Blitz auf. Mein Pferd stieg auf die Hinterbeine, und ich wurde zu Boden geschleudert. Der Donner brüllte, ehe ich den Boden berührte.

Sekundenlang lag ich betäubt da. Das Pferd war davongaloppiert und kam erst nach etwa fünfzig Metern unsicher zum Stehen. Ich rollte mich auf den Bauch und starrte den langen Hang empor. Die anderen Reiter lagen ebenfalls am Boden. Der Blitzstrahl war offenbar in die Gruppe gefahren. Mehrere bewegten sich, die Überzahl aber nicht. Noch hatte sich niemand aufgerichtet. Über ihnen erblickte ich das rote Funkeln des Juwels unter einer Art Felsvorsprung, heller und gleichmäßiger schimmernd, dahinter die schattenhaften Umrisse der Gestalt, die den Edelstein trug.

Ich begann den Hang emporzukriechen. Ehe ich mich aufrichtete, wollte ich aus dem Blickfeld jener Gestalt verschwinden. Sie kriechend zu erreichen, würde zu lange dauern; ich mußte im Bogen um die anderen herum, da seine Aufmerksamkeit sicher nur ihnen galt.

Vorsichtig bewegte ich mich voran, jede Deckung ausnutzend, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß der Blitz auch mich treffen würde, daß Brand die große Katastrophe auf unsere Kämpfer herabbeschwor. Es konnte jederzeit soweit sein. Ein Blick über die Schulter zeigte mir unsere Truppen weit ausgebreitet am anderen Ende des Schlachtfeldes. Der Feind hatte sich davon gelöst und bewegte sich in unsere Richtung. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ich auch diese Kämpfer noch in meine Überlegungen einbeziehen mußte.

Ich verschwand in einem schmalen Graben und schlängelte mich etwa zehn Meter weit in südlicher Richtung. Dann auf der anderen Seite wieder hinaus, in Deckung einer Anhöhe, in den Schutz einiger Felsen huschend.

Als ich vorsichtig den Kopf hob, um die Lage zu peilen, war das Glühen des Juwels nicht mehr auszumachen. Der Spalt, in dem es geleuchtet hatte, wurde nun durch einen Felsrand verdeckt.

Trotzdem kroch ich in unmittelbarer Nähe des großen Abgrundes weiter und wandte mich erst dann wieder nach rechts. Schließlich erreichte ich eine Stelle, an der ich mich gefahrlos aufrichten konnte, und tat es. Ich war auf einen weiteren Blitz, einen zweiten Donnerschlag gefaßt – ganz in der Nähe oder unten auf dem Schlachtfeld –, doch nichts geschah. Ich wunderte mich. Warum geschah nichts? Ich schickte meinen Geist aus und versuchte die Gegenwart des Juwels zu erspüren, stieß aber auf keine Resonanz. Ich hastete auf die Stelle zu, an der ich das Schimmern gesehen hatte.

Ich starrte über den großen Abgrund, um mich zu vergewissern, daß aus dieser Richtung keine neuen Gefahren anrückten, und zog meine Klinge. Als ich mein Ziel erreichte, hielt ich mich dicht an den Felsen und ging seitlich in nördlicher Richtung. Als der Spalt unmittelbar vor mir lag, duckte ich mich und starrte um die Ecke.

Kein roter Schimmer. Keine schattenhafte Gestalt. Die Nische war leer. Nichts Verdächtiges war in der Nähe zu sehen. Hatte er sich an einen anderen Ort versetzt? Und wenn ja, warum?

Ich stand auf, ging um die Felserhebung herum und schritt weiter in diese Richtung. Noch einmal versuchte ich Kontakt mit dem Juwel aufzunehmen und erhielt diesmal eine schwache Reaktion – es schien sich irgendwo rechts zu befinden und ein Stück über mir.

Lautlos bewegte ich mich in diese Richtung. Warum hatte Brand sein Versteck verlassen? Seine Position war geradezu ideal gewesen für die Durchführung seiner Pläne. Es sei denn . . .

Ich hörte einen Schrei und einen Fluch. Von zwei verschiedenen Stimmen. Ich begann zu rennen.

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