2

Ich ritt über Kolvirs Gipfel und stieg an meinem Grabmal ab. Ich trat ein und öffnete den Sarkophag. Er war leer. Gut. Ich begann mir so meine Gedanken zu machen und hatte schon halb damit gerechnet, mich selbst dort aufgebahrt liegen zu sehen, als Beweis für die Tatsache, daß ich trotz aller Vorzeichen und Intuitionen doch irgendwie in den falschen Schatten geraten war.

Nun kehrte ich nach draußen zurück und rieb Star die Nase. Die Sonne strahlte, und der Windhauch war kühl. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, eine Seefahrt zu machen. Doch ich setzte mich nur auf die Bank und beschäftigte mich mit meiner Pfeife.

Wir hatten uns unterhalten. Dara hatte mit untergeschlagenen Beinen auf dem braunen Sofa gesessen, hatte gelächelt und die Geschichte ihrer Abkunft von Benedict und Lintra, dem Höllenmädchen, erzählt, von ihrer Jugend in und bei den Burgen des Chaos, eines extrem nichteuklidischen Reiches, in dem die Zeit seltsame Verteilungsprobleme machte.

»Was du mir bei unserem Kennenlernen erzählt hast, war alles gelogen«, sagte ich. »Warum sollte ich dir jetzt mehr glauben?«

Sie hatte gelächelt und ihre Fingernägel betrachtet.

»Damals mußte ich dich anlügen«, erklärte sie, »um von dir zu bekommen, was ich wollte.«

»Und das war . . .?«

»Kenntnisse zu erlangen über die Familie, das Muster, die Trümpfe, über Amber. Dein Vertrauen zu gewinnen. Dein Kind zu empfangen.«

»Und die Wahrheit hätte dir dabei nichts genützt?«

»Wohl kaum. Schließlich komme ich vom Feind. Meine Gründe, warum ich diese Dinge erstrebte, waren nicht von einer Art, die deine Zustimmung gefunden hätte.«

»Dein Umgang mit dem Schwert . . .? Du sagtest mir, Benedict habe dich ausgebildet.«

Wieder lächelte sie, und in ihren Augen loderte ein düsteres Feuer.

»Ich bin beim großen Herzog Borel persönlich in die Schule gegangen, einem Hohen Lord des Chaos.«

». . . und dein Aussehen«, fuhr ich fort. »Es änderte sich bei mehreren Gelegenheiten, als ich dich das Muster beschreiten sah. Wie? Und warum?«

»Jeder, dessen Herkunft sich irgendwie vom Chaos ableitet, ist zugleich Gestaltsveränderer«, antwortete sie.

Ich dachte an den Abend, an dem Dworkin mich dargestellt hatte.

Benedict nickte. »Vater hat uns mit seiner Ganelon-Verkleidung getäuscht.«

»Oberon ist ein Sohn des Chaos«, gab Dara zurück, »ein Rebellensohn eines Rebellenvaters. Trotzdem ist die Kraft noch vorhanden.«

»Warum besitzen wir sie dann nicht?« wollte Random wissen.

Sie zuckte die Achseln.

»Habt ihr es jemals versucht? Vielleicht besitzt ihr ja die Fähigkeit. Andererseits mag sie mit eurer Generation ausgestorben sein. Ich weiß es nicht. Was mich betrifft, so habe ich bestimmte Lieblingsformen, auf die ich im Notfall zurückgreife. Ich wuchs an einem Ort auf, an dem so etwas die Regel war, an dem die andere Gestalt zuweilen sogar überwog. Diesen Reflex habe ich mir bis heute bewahrt. Und das hast du beobachtet – damals.«

»Dara«, sagte ich, »warum warst du auf diese Dinge aus, die du uns eben genannt hast – Kenntnisse über die Familie, das Muster, die Trümpfe, Amber? Und einen Sohn?«

»Also gut«, sagte sie seufzend. »Also gut. Ihr kennt inzwischen Brands Pläne – Vernichtung und Neuaufbau Ambers . . .«

»Ja.«

»Dies setzte unser Einverständnis und Mitwirken voraus.«

»Einschließlich des Mords an Martin?« fragte Random.

»Nein«, sagte sie. »Wir wußten nicht, wen er als – Mittelsperson benutzen wollte.«

»Hättest du dich davon abbringen lassen, wenn du Bescheid gewußt hättest?«

»Das ist eine hypothetische Frage«, gab sie zurück, »die du dir selbst beantworten kannst. Ich freue mich jedenfalls, daß Martin noch lebt. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Na schön«, sagte Random. »Was ist nun mit Brand?«

»Er vermochte sich mit unseren Führern durch Methoden in Verbindung zu setzen, die er von Dworkin gelernt hatte. Er hatte ehrgeizige Pläne. Er brauchte Wissen und Macht. Er machte uns ein Angebot.«

»Was für Wissen?«

»Zum einen wußte er nicht, wie er das Muster vernichten konnte . . .«

»Dann warst du also für seine Untat verantwortlich«, sagte Random.

»Wenn du es so sehen willst.«

»Das will ich.«

Sie zuckte die Achseln und blickte mich an. »Wollt ihr seine Geschichte hören?«

»Sprich weiter!« Ich blickte zu Random hinüber, und er nickte.

»Brand erhielt das Gewünschte«, fuhr sie fort, »doch man traute ihm nicht. Man hatte Sorge, daß er sich nicht mit der Herrschaft über ein umgestaltetes Amber begnügen würde, wenn er erst einmal die Macht besaß, die Welt nach seinem Willen zu formen. Er würde versuchen, seinen Einfluß auch über das Chaos auszudehnen. Unser Ziel war ein geschwächtes Amber, neben dem das Chaos stärker werden konnte, als es jetzt ist – die Schaffung eines neuen Gleichgewichts, durch das uns mehr von den Schattenländern zufallen sollten, die zwischen unseren Reichen liegen. Man hatte schon vor langer Zeit erkannt, daß sich die beiden Königreiche niemals miteinander verschmelzen lassen können oder eines der beiden gar zerstört werden kann, ohne zugleich all jene Vorgänge auseinanderzureißen, die zwischen den beiden Polen ständig im Gange sind. Das Ergebnis wäre völliger Stillstand oder totales Chaos. Wenngleich unsere Führer erkannten, was Brand im Schilde führte, trafen sie eine Vereinbarung mit ihm. Es war die beste Gelegenheit, die sich seit langem bot. Man durfte sie nicht verstreichen lassen. Man hatte das Gefühl, daß man sich mit Brand zu gegebener Zeit auseinandersetzen und ihn dann sogar ersetzen konnte.«

»Ihr wolltet ihn also von vornherein betrügen«, sagte Random.

»Nicht wenn er sich an sein Wort hielt. Aber wir wußten genau, daß er das nicht tun würde. Wir schufen also die Ausgangsbasis für unsere Aktion gegen ihn.«

»Wie?«

»Wir wollten ihm gestatten, sein Ziel zu erreichen, und ihn dann vernichten. Sein Nachfolger sollte ein Mitglied der Königsfamilie von Amber sein, zugleich ein Angehöriger der ersten Familie der Höfe, ein Mann, der bei uns erzogen und für die Position ausgebildet worden war. Merlins Verbindung zu Amber leitet sich sogar von beiden Seiten her, durch meinen Vorfahren Benedict und direkt von dir selbst – den beiden begünstigsten Kandidaten für euren Thron.«

»Du entstammst dem königlichen Haus des Chaos?«

Sie lächelte.

Ich stand auf. Entfernte mich. Starrte in die Asche auf dem Kaminrost.

»Es stört mich irgendwie festzustellen, daß ich in ein nüchternes Fortpflanzungsprojekt verwickelt worden bin«, sagte ich schließlich. »Aber wenn das so ist und wenn man – für den Augenblick – deine Äußerungen als wahr hinnimmt – warum erzählst du uns das alles gerade jetzt?«

»Weil ich die Befürchtung habe«, antwortete sie, »daß die Lords meines Reiches für ihre Visionen so weit gehen würden wie Brand für die seinen. Und vielleicht noch weiter. Dabei geht es mir um das Gleichgewicht, von dem ich gesprochen habe. Nur wenigen scheint bewußt zu sein, wie leicht diese Balance zu stören ist. Ich bin durch die Schattenländer nahe Amber gereist, ich bin durch das eigentliche Amber geschritten. Außerdem kenne ich die Schatten, die auf Chaos´ Seite liegen. Ich habe viele Leute kennengelernt und viele Dinge gesehen. Als ich schließlich Martin begegnete und mit ihm sprach, wuchs in mir die Überzeugung, daß die Veränderungen, die man mir als wünschenswert hingestellt hatte, nicht einfach zu einer Umgestaltung Ambers im Sinne der Vorstellungen meiner Familienoberen führen würden. Vielleicht würde Amber durch sie zu einem bloßen Auswuchs der Höfe werden, die meisten Schatten würden davonschäumen und sich dem Chaos anschließen. Auf diese Weise würde Amber als Insel dastehen. Etliche führende Persönlichkeiten gesetzteren Alters, denen es mißfällt, daß Dworkin Amber überhaupt erst entstehen ließ, erstreben eine Rückkehr zu den Zeiten vor diesem Ereignis. Zum totalen Chaos, aus dem alle anderen Dinge erstehen. Ich sehe die augenblickliche Lage als erstrebenswerter an und möchte sie erhalten. Mein Wunsch wäre, daß aus einem etwaigen Konflikt keine Seite als Sieger hervorgeht.«

Ich wandte mich um und bekam noch mit, daß Benedict den Kopf schüttelte.

»Dann stehst du also auf keiner Seite«, bemerkte er.

»Ich sehe es gern so, daß ich auf beiden Seiten stehe«, gab sie zurück.

»Martin«, fragte ich, »bist du mit ihr in die Sache verwickelt?«

Er nickte.

Random lachte. »Ihr beide? Gegen Amber und die Burgen des Chaos? Was hofft ihr zu erreichen? Wie gedenkt ihr eure Vorstellung von einem Gleichgewicht durchzusetzen?«

»Wir sind nicht allein«, gab sie zurück, »und der Plan stammt auch nicht von uns.«

Daras Finger verschwanden in einer Tasche. Als sie sie wieder zum Vorschein brachte, schimmerte etwas darin. Sie hielt das Gebilde ins Licht. Es war der Siegelring unseres Vaters.

»Woher hast du ihn?« fragte Random.

»Woher sonst?«

Benedict ging auf sie zu und hielt ihr die Hand hin. Sie gab ihm den Ring. Er betrachtete das Schmuckstück.

»Es ist wirklich sein Ring«, meinte er. »Hier sind kleine Markierungen auf der Rückseite, die ich schon einmal gesehen habe. Warum hast du den Ring?«

»Erstens will ich euch damit überzeugen, daß ich autorisiert bin, seine Befehle zu übermitteln«, sagte sie.

»Wie kommt es, daß du ihn überhaupt kennst?« fragte ich.

»Ich lernte ihn vor einiger Zeit kennen, als er seine – Schwierigkeiten hatte«, erwiderte sie. »Im Grunde kann man sogar sagen, daß ich dabei geholfen habe, ihn davon zu befreien. Damals war ich Martin schon begegnet, und meine Sympathie galt in größerem Maße Amber. Abgesehen davon ist euer Vater ein charmanter Mann, der zu überzeugen versteht. Ich kam zu dem Schluß, daß ich nicht einfach zusehen durfte, wie er von meinesgleichen gefangengehalten wurde.«

»Weißt du, wie er ursprünglich festgesetzt wurde?«

Sie schüttelte den Kopf. »Mir ist nur bekannt, daß Brand für seine Anwesenheit in einem Schatten gesorgt hat, der so weit von Amber entfernt war, daß er dort überwältigt werden konnte. Wenn ich mich nicht irre, ging es um die Suche nach einem erfundenen Zauberwerkzeug, mit dem sich das Muster hätte instandsetzen lassen. Inzwischen weiß er, daß nur das Juwel dazu in der Lage ist.«

»Daß du ihm bei der Flucht geholfen hast . . . wie wirkte sich das auf die Beziehung zu deinen eigenen Leuten aus?«

»Nicht besonders gut«, sagte sie. »Ich bin vorübergehend ohne Heimat.«

»Und die suchst du hier?«

Wieder lächelte sie.

»Das hängt davon ab, wie sich die Dinge entwickeln. Wenn meine Leute sich durchsetzen, kann ich genauso gut zurückkehren – oder in den Schatten bleiben, die den Kampf überstehen.«

Ich zog einen Trumpf und betrachtete ihn.

»Was ist mit Merlin? Wo befindet er sich im Augenblick?«

»Sie haben ihn«, antwortete sie. »Ich fürchte, daß er inzwischen auf ihrer Seite steht. Er weiß, wer seine Eltern sind, aber man hat seine Erziehung lange unter Kontrolle gehabt, ich kann nicht sagen, ob man ihn dort irgendwie herausbekommt.«

Ich hob den Trumpf und starrte auf das Bild.

»Es nützt nichts«, meinte sie. »Zwischen hier und dort funktioniert das nicht.«

Mir fiel ein, wie schwer die Verständigung durch die Trümpfe im Grenzbereich jener Welt gewesen war. Ich versuchte es trotzdem.

Die Karte in meiner Hand fühlte sich plötzlich kalt an, und ich suchte die Verbindung. Denkbar schwach flackerte der Impuls einer Wesenheit. Ich verstärkte meine Anstrengungen.

»Merlin, hier ist Corwin«, sagte ich. »Hörst du mich?«

Ich glaubte eine Antwort zu hören, die Worte klangen nach: »Ich kann nicht . . .« Und dann nichts. Die Karte verlor ihre Kühle.

»Hast du ihn erreicht?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht genau«, sagte ich. »Aber ich nehme es an. Für einen kurzen Augenblick.«

»Besser als ich gedacht hätte«, meinte sie. »Entweder sind die Bedingungen gut, oder euer Verstand ist sehr ähnlich.«

»Als du mit Vaters Siegelring zu fuchteln begannest, sagtest du etwas von Befehlen«, sagte Random. »Was für Befehle? Und warum schickt er sie durch dich?«

»Es ist eine Frage der zeitlichen Abstimmung.«

»Zeitliche Abstimmung? Himmel! Er ist doch erst heute hier abgerauscht!«

»Ehe er mit etwas Neuem anfangen konnte, mußte er eine andere Sache zu Ende bringen. Er hatte keine Ahnung, wie lange das dauern würde. Ich habe mit ihm gesprochen, unmittelbar bevor ich hierherkam – wenn ich auch nicht auf einen solchen Empfang gefaßt war. Er ist jedenfalls bereit, die nächste Phase in Angriff zu nehmen.«

»Wo hast du mit ihm gesprochen?« fragte ich. »Wo ist er?«

»Keine Ahnung. Er setzte sich mit mir in Verbindung.«

»Und . . .?«

»Er möchte, daß Benedict sofort angreift.«

Nun rührte sich Gérard in dem riesigen Ohrensessel, in dem er das bisherige Gespräch verfolgt hatte. Er stand auf, hakte die Daumen in den Gürtel und blickte auf Dara hinab.

»Ein solcher Befehl müßte schon direkt von Vater kommen.«

»Das tut er auch«, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe keinen Sinn darin. Warum sollte er jemanden wie dich ansprechen – jemanden, dem zu trauen wir wenig Grund haben – und nicht einen von uns?«

»Ich nehme nicht an, daß er euch im Augenblick erreichen könnte. Mich aber vermochte er anzusprechen.«

»Warum?«

»Er arbeitete ohne Trumpf. Für mich hat er gar keinen. Er machte sich einen Zurückstrahl-Effekt der schwarzen Straße zunutze, ähnlich wie Brand einmal Corwin entkommen konnte.«

»Du weißt ja viel von den Dingen, die sich hier abgespielt haben.«

»Ja. Ich habe noch meine Informationsquellen bei den Höfen, und Brand versetzte sich nach dem Kampf mit dir dorthin. Ich erfahre so manches.«

»Weißt du, wo sich unser Vater im Augenblick aufhält?« fragte Random.

»Nein. Aber ich nehme an, er hat sich in das wahre Amber begeben; es aufgesucht, um sich mit Dworkin zu beraten und noch einmal den Schaden am Ur-Muster zu überprüfen.«

»Und was soll das nützen?«

»Keine Ahnung. Vermutlich will er sich darüber klarwerden, wie er nun weiter vorgehen soll. Die Tatsache, daß er mich erreicht und den Angriff befohlen hat, dürfte bedeuten, daß er zu einem Entschluß gekommen ist.«

»Wie lange liegt diese Mitteilung zurück?«

»Wenige Stunden – meiner Zeitrechnung. Aber ich befand mich fern von hier in den Schatten. Ich weiß nicht, wie die Zeitunterschiede aussehen. Dafür ist mir das alles doch noch zu neu.«

»Es mag also erst kurze Zeit her sein«, sagte Gérard, »vielleicht nur Sekunden. Warum hat er aber mit dir gesprochen und nicht mit einem von uns? Ich glaube einfach nicht, daß er uns nicht erreichen könnte, wenn er das wirklich wollte.«

»Vielleicht wollte er euch klarmachen, daß ich in seiner Gunst stehe«, bemerkte sie.

»Das mag ja alles richtig sein«, warf Benedict ein. »Doch ich unternehme nichts, ehe ich nicht eine Bestätigung für den Befehl erhalte.«

»Hält sich Fiona noch am Ur-Muster auf?« fragte Random.

»Nach der letzten Nachricht von ihr«, sagte ich, »hat sie dort ihr Lager aufgeschlagen. Ich begreife, was du sagen willst . . .«

Ich blätterte Fionas Karte auf.

»Zum Durchkommen brauchten wir mehr als einen von uns«, sagte er.

»Du hast recht. Hilf mir!«

Er stand auf und trat neben mich. Benedict und Gérard näherten sich ebenfalls.

»Das ist eigentlich überflüssig!« wandte Dara ein.

Ich beachtete sie nicht, sondern konzentrierte mich auf die zarten Gesichtszüge meiner rothaarigen Schwester. Gleich darauf hatten wir Kontakt.

»Fiona, ist Vater bei dir?« fragte ich. Der Hintergrund verriet mir, daß sie sich noch immer im Kern aller Dinge aufhielt.

»Ja«, antwortete sie mit gepreßtem Lächeln. »Er ist drinnen, bei Dworkin.«

»Hör zu, wir haben es sehr eilig. Ich weiß nicht, ob du Dara kennst oder nicht, aber sie ist hier . . .«

»Ich weiß, wer sie ist, bin ihr aber noch nicht begegnet.«

»Nun, sie behauptet, einen Angriffsbefehl für Benedict zu haben, von Vater. Als Beweis kann sie seinen Siegelring vorweisen, aber er hat uns davon vorher nichts gesagt. Weißt du etwas darüber?«

»Nein«, antwortete sie. »Als er und Dworkin vorhin hier draußen waren, um sich das Muster anzusehen, haben wir uns lediglich begrüßt. Allerdings hatte ich gleich einen Verdacht, der nun bestätigt wird.«

»Einen Verdacht? Was meinst du?«

»Ich glaube, Vater will den Versuch machen, das Muster zu reparieren. Er hat das Juwel bei sich, und ich habe etwas von dem mitbekommen, was er zu Dworkin gesagt hat. Wenn er den Versuch wagt, wird man es in den Burgen des Chaos in dem Augenblick merken, da er das Muster betritt. Man wird versuchen, ihn daran zu hindern. Deshalb will er vielleicht zuerst losschlagen, um die Leute in Atem zu halten. Nur . . .«

»Was?«

»Er wird es nicht überleben. Soviel weiß ich. Ob er nun Erfolg hat oder es nicht schafft, er wird dabei vernichtet werden.«

»Das kann ich kaum glauben!«

»Daß ein König für das Reich sein Leben gibt?«

»Daß Vater es tun würde.«

»Dann hat er sich verändert, oder du hast ihn nie richtig gekannt. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, daß er es versuchen wird.«

»Warum schickt er seinen neuesten Befehl dann aber durch jemanden, von dem er weiß, daß wir ihm nicht vertrauen?«

»Um zu zeigen, daß ihr ihr trauen sollt, würde ich sagen – sobald er den Befehl bestätigt hat.«

»Das scheint mir einigermaßen umständlich zu sein, aber ich stimme dir zu, daß wir ohne diese Bestätigung nichts unternehmen sollten. Kannst du sie uns besorgen?«

»Ich werde es versuchen. Ich melde mich, sobald ich mit ihm gesprochen habe.«

Sie unterbrach den Kontakt.

Ich wandte mich Dara zu, die nur unsere Seite des Gesprächs mitbekommen hatte.

»Weißt du, was Vater vorhat?« fragte ich.

»Es hat irgendwie mit der schwarzen Straße zu tun«, antwortete sie. »Soweit hatte ich seine Hinweise verstanden. Was er aber im einzelnen plant oder wie er vorgehen will, hat er mir nicht gesagt.«

Ich wandte mich ab. Ich klopfte meine Karten glatt und steckte sie wieder ein. Die jüngste Wende der Ereignisse gefiel mir nicht. Der Tag hatte einen schlechten Anfang genommen und war seither ausschließlich bergab gegangen. Dabei hatten wir erst frühen Nachmittag. Ich schüttelte den Kopf. Dworkin hatte mir einmal erklärt, welche Folgen ein Reparaturversuch am Muster haben mußte, und das hatte sich ziemlich schrecklich angehört. Was würde geschehen, wenn Vater das Wagnis nicht schaffte und dabei umkam? Wo standen wir dann? Wo wir auch jetzt standen, nur ohne Anführer: vor dem Beginn einer großen Schlacht, und mit dem wiederauflebenden Nachfolgeproblem im Tornister. Die schreckliche Sache würde uns in einem Hinterstübchen unseres Verstandes beschäftigen, während wir in die Schlachten ritten, und wir alle würden unsere kleinen Vorbereitungen treffen für den Kampf gegen die Brüder und Schwestern, sobald der andere Feind geschlagen war. Es mußte einen anderen Weg geben! Es war besser, Vater lebendig auf dem Thron zu wissen, als die Nachfolge-Intrigen wieder aufleben zu lassen.

»Worauf warten wir?« fragte Dara. »Auf die Bestätigung?«

»Ja«, antwortete ich.

Random begann hin und her zu schreiten. Benedict nahm Platz und überprüfte den Verband an seinem Arm. Gérard lehnte an der Kaminumrandung. Ich stand irgendwo im Zimmer und überlegte. Soeben war mir ein Einfall gekommen. Ich schob den Gedanken sofort zur Seite, wurde ihn aber nicht los. Die Vorstellung gefiel mir nicht, was aber mit praktischen Erwägungen wenig zu tun hatte. Allerdings würde ich schnell handeln müssen, ehe ich Gelegenheit fand, mich selbst eines Besseren zu belehren. Nein. Ich würde mich daran halten. Verdammt!

Es regte sich ein Kontakt. Ich wartete ab. Gleich darauf hatte ich erneut Fiona vor mir. Sie befand sich an einem mir bekannten Ort, den ich gleichwohl erst nach wenigen Sekunden erkannte: Dworkins Wohnzimmer hinter der dicken Tür hinten in der Höhle. Vater und Dworkin waren bei ihr. Vater hatte seine Ganelon-Rolle aufgegeben und zeigte wieder die alte Gestalt. Er trug das Juwel.

»Corwin«, meldete sich Fiona. »Es stimmt. Vater hat den Angriffsbefehl über Dara ausgeschickt und war auf unsere Bitte um Bestätigung gefaßt. Ich . . .«

»Fiona, hol mich durch!«

»Was?«

»Du hast mich verstanden. Mach schon!«

Ich streckte die rechte Hand aus. Sie hob den Arm, und wir berührten uns.

»Corwin!« rief Random. »Was ist los?«

Benedict war aufgesprungen. Gérard kam bereits auf mich zu.

»Das werdet ihr bald erfahren«, antwortete ich und trat vor.

Ehe ich losließ, drückte ich ihr die Hand und lächelte.

»Vielen Dank, Fiona. Hallo, Vater! Hallo, Dworkin! Wie geht´s denn so?«

Sofort blickte ich zu der dicken Tür hinüber und sah, daß sie offenstand. Ich ging um Fiona herum und näherte mich den beiden Männern. Vater hatte den Kopf gesenkt und die Augen zusammengekniffen. Diesen Ausdruck kannte ich.

»Was soll das, Corwin? Du bist ohne Erlaubnis hier. Ich habe den verdammten Befehl bestätigt, jetzt erwarte ich, daß er auch ausgeführt wird.«

»Das soll geschehen«, sagte ich und nickte. »Ich bin nicht gekommen, um mich darüber mit dir zu streiten.«

»Worüber dann?«

Ich rückte näher und berechnete dabei meine Worte wie auch die Entfernung. Es freute mich, daß er sitzen geblieben war.

»Wir sind eine Zeitlang als Kameraden miteinander geritten«, sagte ich. »Verflucht will ich sein, wenn ich dich in dieser Zeit nicht liebgewonnen habe. Ich hatte nie Sympathie für dich, weißt du. Auch nicht den Mut, so etwas bisher auszusprechen, aber du weißt, daß ich die Wahrheit sage. Ich spiele gern mit dem Gedanken, daß die Dinge so zwischen uns hätten stehen können, wenn wir nicht eben gewesen wären, was wir sind.« Einen Sekundenbruchteil lang schien sich sein Blick zu erweichen, während ich weiter in Position rückte. Dann fuhr ich fort: »Jedenfalls möchte ich an dich auf diese Weise glauben und nicht auf die andere; denn es gibt etwas, das ich sonst nicht für dich getan hätte.«

»Was?« fragte er.

»Dies.«

Ich packte das Juwel mit hochschnellender Hand und zerrte mit einem Ruck die Kette über den Kopf. Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt und hastete durch den Raum und zur Tür hinaus. Ich zog sie hinter mir ins Schloß. Sie ließ sich von außen nicht verriegeln, und so eilte ich weiter, den umgekehrten Weg gehend, auf dem ich Dworkin damals durch die Höhle gefolgt war. Hinter mir ertönte das erwartete Gebrüll.

Ich folgte den Windungen. Dabei kam ich nur einmal ins Stolpern. Wixers Geruch machte sich in seinem Höhlennest noch stark bemerkbar. Ich hastete weiter und sah nach einer letzten Biegung Tageslicht vor mir.

Ich eilte darauf zu, wobei ich die Kette des Juwels über den Kopf gleiten ließ. Ich spürte, wie es mir vor die Brust fiel. Mit dem Verstand drang ich in das Gebilde ein. In der Höhle hinter mir hallten Echos auf.

Das Freie!

Ich sprintete auf das Muster zu. Währenddessen konzentrierten sich meine Gefühle im Juwel, das zu einem zusätzlichen Sinnesorgan wurde. Außer Vater und Dworkin war ich die einzige Person, die voll auf das Juwel eingestimmt war. Dworkin hatte mir gesagt, das Muster ließe sich reparieren, indem eine Person in einem solchen Stadium der Einstimmung das Große Muster durchschreite und bei jeder Überquerung die Verfärbung ausbrenne, sie ersetzend durch Urmasse aus dem Bild des Musters, das sie mit sich herumtrüge, dabei die schwarze Straße auslöschend. Es war besser, wenn ich diesen Versuch machte, und nicht Vater. Ich war immer noch der Meinung, daß die schwarze Straße ihre endgültige Form zum Teil auch der Stärke meines Fluches gegen Amber verdankte. Auch diese Schuld wollte ich jetzt auslöschen. Ohnehin war Vater besser als ich dazu geeignet, nach dem Krieg wieder alles ins Lot zu bringen. In jenem Augenblick wurde mir klar, daß ich den Thron gar nicht mehr wollte. Selbst wenn er mir zugestanden hätte – welch überwältigende Aussicht, dem Königreich durch all die langweiligen Jahrhunderte zu dienen, die mir noch bevorstehen mochten! Vielleicht war es der problemlosere Ausweg, wenn ich bei diesem Versuch umkäme. Eric war tot, und ich haßte ihn nicht mehr. Das andere, von dem ich beflügelt worden war – das Streben nach dem Thron – schien mir aus heutiger Sicht nur vorhanden gewesen zu sein, weil ich gemeint hatte, er wolle es so. Nun löste ich mich von beidem. Was blieb übrig? Ich hatte Vialle ausgelacht, ehe ich nachdenklich wurde. Aber sie hatte recht gehabt. Der alte Soldat war in mir die größte Kraft. Es war eine Sache der Pflicht. Aber nicht nur der Pflicht. Es ging um mehr . . .

Ich erreichte den Rand des Musters und begab mich mit schnellen Schritten an seinen Anfang. Hastig blickte ich zur Höhlenöffnung hinüber. Vater, Dworkin, Fiona – von ihnen war noch niemand zu sehen. Gut. Sie würden mich nicht mehr aufhalten. Sobald ich einen Fuß auf das Muster stellte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als abzuwarten und zuzusehen. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich an Iagos Auflösung, dann verdrängte ich den Gedanken und versuchte mich soweit zu beruhigen, wie es für mein Vorhaben erforderlich war. Gleich darauf mußte ich an meinen Kampf gegen Brand an diesem Ort denken und an sein seltsames Verschwinden von hier – aber auch das schob ich zur Seite. Ich atmete langsamer, bereitete mich auf meine Aufgabe vor.

Eine gewisse Lethargie machte sich bemerkbar. Es war Zeit zu beginnen, doch ich zögerte noch einen Augenblick lang in dem Versuch, meinen Geist auf die gewaltige Anstrengung einzustimmen, die vor mir lag. Einen Augenblick lang verschwamm das Muster vor meinen Augen. Jetzt! Verdammt! Jetzt! Keine weiteren Vorbereitungen! Fang an! redete ich mir zu. Geh los!

Aber noch immer stand ich da und betrachtete das Muster wie in einem Traum. Im Hinschauen vergaß ich mich sekundenlang selbst – ich betrachtete das Muster mit der langen schwarzen Schmierstelle, die ich entfernen wollte . . .

Es erschien mir nicht mehr wichtig, daß ich dabei sterben konnte. Meine Gedanken gerieten ins Wandern, beschäftigten sich mit der Schönheit des Gebildes . . .

Da hörte ich ein Geräusch. Sicher Vater, Dworkin, Fiona. Ich mußte etwas unternehmen, ehe sie mich eingeholt hatten. Ich mußte das Muster beschreiten, gleich würde ich . . .

Ich riß den Blick von dem Muster los und blickte zur Höhle zurück. Die drei waren ins Freie getreten und ein Stück den Hang herabgekommen, waren dann aber stehengeblieben. Warum? Warum rührten sie sich nicht mehr?

Was machte das noch? Ich hatte genug Zeit, um anzufangen. Ich begann den Fuß zu heben, begann voranzuschreiten.

Aber ich konnte mich kaum bewegen. Mit großer Willensanstrengung schob ich den Fuß zentimeterweise voran. Dieser erste Schritt erwies sich als schlimmer als der letzte Teil des Musters. Aber ich schien weniger gegen einen äußeren Widerstand kämpfen zu müssen als gegen eine Trägheit meines eigenen Körpers. Es war beinahe, als würde ich . . .

Plötzlich sah ich die Vision Benedicts neben dem Muster in Tir-na Nog´th, während Brand sich spöttisch näherte, das lodernde Juwel auf der Brust.

Ehe ich den Blick senkte, wußte ich, was ich sehen würde.

Der rote Stein pulsierte im Takt meines Herzschlags.

Verdammt sollten sie sein!

In diesem Augenblick wirkten Vater oder Dworkin – oder beide – durch den Stein auf mich ein und lahmten mich. Ich bezweifelte nicht, daß die beiden jeweils auch allein über das Juwel gebieten konnten. Auf diese Entfernung wollte ich mich allerdings nicht ohne Gegenwehr in mein Schicksal ergeben.

Ich drängte weiter mit dem Fuß, ließ ihn langsam auf den Rand des Musters zugleiten. Sobald ich es berührte, hatten sie gewiß keine Gewalt mehr über mich . . .

Dösen . . . Ich spürte, wie ich zu fallen begann. Ich war eine Sekunde lang eingeschlafen. Und wieder verschwand meine Umwelt für kurze Zeit. Als ich die Augen öffnete, sah ich ein Stück des Musters vor mir. Als ich den Kopf drehte, erblickte ich Füße. Als ich aufblickte, entdeckte ich meinen Vater über mir, das Juwel in der Hand haltend.

»Geht jetzt!« sagte er zu Dworkin und Fiona, ohne den Kopf in ihre Richtung zu wenden.

Die beiden zogen sich zurück. Im gleichen Augenblick hängte er sich das Juwel wieder um. Anschließend beugte er sich vor und streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie, und er zog mich hoch.

»Das war sehr töricht gehandelt«, sagte er.

»Beinahe hätte ich´s geschafft.«

Er nickte.

»Aber du wärst dabei umgekommen, ohne etwas zu erreichen«, meinte er. »Trotzdem hast du es geschickt angestellt. Komm, machen wir einen Spaziergang!«

Er faßte mich am Arm, und wir wanderten am Rand des Musters entlang.

Ich beobachtete das seltsame Himmelsmeer, das uns horizontlos umgab, und fragte mich, was geschehen wäre, wenn ich das Muster betreten hätte, was sich in diesem Augenblick abspielen würde.

»Du hast dich verändert«, sagte er schließlich. »Oder ich habe dich nie richtig gekannt.«

Ich zuckte die Achseln.

»Vielleicht spielen beide Elemente hinein. Etwas Ähnliches wollte ich gerade über dich sagen. Verrätst du mir etwas?«

»Was?«

»Wie schwer ist dir die Rolle als Ganelon gefallen?«

Er lachte leise. »Gar nicht schwer«, gab er zurück. »Durch ihn magst du einen Eindruck von meinem wirklichen Ich bekommen haben.«

»Er gefiel mir. Ich meine, du als er. Was ist nur mit dem echten Ganelon?«

»Der ist tot, Corwin. Ich traf ihn, nachdem du ihn aus Avalon verbannt hattest, das ist lange her. Kein übler Kerl. Ich hätte ihm nicht über den Weg getraut, aber das tue ich ja bei keinem, wenn ich nicht unbedingt muß.«

»Liegt wohl in der Familie.«

»Es tat mir leid, ihn töten zu müssen. Er ließ mir auch kaum eine andere Wahl. Das ist alles lange her, doch ich erinnerte mich deutlich an ihn, also muß er mich irgendwie beeindruckt haben.«

»Und Lorraine?«

»Das Land? Gute Arbeit, dachte ich. Gut gelungen, meinte ich. Ich bearbeitete den entsprechenden Schatten, der allein durch meine Gegenwart an Stärke gewann, wie es mit jedem Schatten geschieht, wenn einer von uns sich längere Zeit darin aufhält – wie bei dir in Avalon und später der andere Ort. Und ich erkannte, daß ich dort viel Zeit gewinnen konnte, indem ich dem dortigen Zeitstrom meinen Willen aufzwang.«

»Ich wußte nicht, daß so etwas möglich ist.«

»Beginnend mit der ersten Einführung in das Muster, wächst in einem die Kraft. Viele Dinge mußt du noch lernen. Ja, ich stärkte Lorraine und machte es besonders empfindsam gegenüber der wachsenden Macht der schwarzen Straße. Ich sorgte dafür, daß es auf deinem Weg liegen würde, wohin du auch gehen wolltest. Nach deiner Flucht führen alle Straßen nach Lorraine.«

»Warum?«

»Es war eine Falle, die ich dir gestellt hatte, vielleicht auch eine Art Prüfung für dich. Ich wollte bei dir sein, wenn du auf die Mächte des Chaos stießest. Außerdem wollte ich dich eine Zeitlang auf deinen Reisen begleiten.«

»Eine Prüfung? In welcher Beziehung hast du mich geprüft? Und warum wolltest du mich begleiten?«

»Kannst du dir das nicht denken? Im Laufe der Jahre habe ich euch alle genau beobachtet. Ein Nachfolger wurde aber von mir nicht bestimmt – diese Frage ließ ich absichtlich offen. Ihr alle seid mir hinreichend ähnlich, um zu wissen, daß in dem Augenblick, da ich einen von euch zum Thronwärter ernannte, sein oder ihr Todesurteil unterschrieben gewesen wäre. Nein. Ich habe die Dinge absichtlich bis zum Schluß im unklaren gelassen. Inzwischen habe ich meine Entscheidung allerdings getroffen. Du sollst der Nachfolger sein.«

»In Lorraine hast du dich einmal kurz bei mir gemeldet, in deiner wahren Gestalt. Du fordertest mich dabei auf, den Thron zu übernehmen. Wenn du dir damals schon darüber klar warst, warum hast du dann die Maskerade fortgesetzt?«

»Aber die Entscheidung war doch noch gar nicht gefallen! Es ging mir nur darum, dich weiter bei der Stange zu halten. Ich fürchtete, deine Gefühle für das Mädchen und das Land könnten zu stark werden. Als Held des Schwarzen Kreises hättest du es vorziehen können, dort seßhaft zu werden. Ich pflanzte dir lediglich die Gedanken ein, die dazu führen mußten, daß du deine Reise fortsetztest.«

Ich schwieg eine lange Zeit. Wir hatten um das Muster bereits einen großen Bogen gemacht.

»Etwas muß ich ganz genau wissen«, sagte ich schließlich. »Bevor ich zu dir kam, sprach ich mit Dara, die sich bemüht, ihren Namen bei uns reinzuwaschen . . .«

»Das ist bereits geschehen«, sagte er. »Ich spreche ihr das Vertrauen aus.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich verzichtete darauf, ihr etwas vorzuwerfen, das mir seit einiger Zeit im Kopf herumgeht. Es gibt einen guten Grund für meine Annahme, daß man ihr nicht trauen darf – trotz ihrer Argumente und deiner Fürsprache. Eigentlich sogar zwei Gründe.«

»Ich weiß, Corwin. Aber sie hat Benedicts Dienstboten nicht umgebracht, um ihre Position in seinem Haus zu festigen. Ich habe das getan, um dafür zu sorgen, daß sie dich – wie es dann geschah – im richtigen Moment erreichte.«

»Du? Du stecktest mit ihr unter einer Decke? Weshalb?«

»Sie wird dir eine gute Königin sein, mein Sohn. Ich vertraue auf die Kraft des Blutes aus dem Chaos. Es wurde Zeit, daß wir frisches Blut hinzubekamen. So wirst du den Thron übernehmen und bereits einen Erben haben. Wenn er für sein Amt bereit ist, wird Merlin die Folgen seiner Erziehung längst überwunden haben.«

Wir hatten die schwarze Verfärbung des Musters erreicht. Ich blieb stehen, hockte mich nieder und betrachtete die Erscheinung.

»Du meinst, dieses Ding wird dich umbringen?« fragte ich endlich.

»Ich weiß, daß es so kommen wird.«

»Dir macht es nichts aus, unschuldige Menschen zu ermorden, um mich zu manipulieren. Trotzdem würdest du für das Königreich dein Leben opfern.« Ich blickte ihn an. »Ich habe auch keine sauberen Hände«, fuhr ich fort, »und maße mir kein Urteil über dich an. Doch als ich vorhin Anstalten machte, das Muster zu beschreiten, ging mir durch den Kopf, wie sehr sich doch meine Gefühle verändert hatten – gegenüber Eric, gegenüber dem Thron. Du handelst, glaube ich, auch aus einem Gefühl der Pflicht heraus. Auch ich fühle mich jetzt verpflichtet, gegenüber Amber, gegenüber dem Thron. Eigentlich sogar mehr, viel mehr, wie mir vorhin aufging. Aber mir ist auch etwas anderes klargeworden, etwas, worauf sich mein Pflichtgefühl nicht erstreckt. Ich weiß nicht, wann oder wie mein Bestreben aufgehört hat und ich mich verändert habe – aber ich möchte den Thron nicht mehr, Vater. Es tut mir leid, wenn das deine Pläne durcheinanderbringt, aber ich möchte nicht König von Amber werden. Bedaure.«

Ich wandte den Kopf und betrachtete wieder die unheilvolle Schwärung des Musters. Ich hörte ihn seufzen.

»Ich werde dich jetzt nach Hause schicken«, sagte er schließlich. »Sattle dein Pferd und nimm Vorräte mit. Der Ritt ist weit. Begib dich an einen Ort außerhalb Ambers – egal wohin, es muß nur einigermaßen abgelegen sein.«

»Mein Grabmal?«

Er schnaubte durch die Nase und stimmte ein leises Lachen an. »Das müßte genügen. Reite dorthin und erwarte meine weiteren Anweisungen! Ich muß nachdenken.«

Ich stand auf. Er streckte den Arm aus und legte mir die rechte Hand auf die Schulter. Das Juwel pulsierte. Er blickte mir in die Augen.

»Niemand bekommt alles, was er haben will, so wie er es haben will«, sagte er.

Es trat eine Art Distanzierungseffekt ein, wie die Kraft eines Trumpfs, aber in umgekehrter Richtung. Ich vernahm Stimmen und erblickte ringsum das Zimmer, das ich vor einiger Zeit verlassen hatte. Benedict, Gérard, Random und Dara waren bei mir. Ich spürte, wie Vater meine Schulter losließ. Dann war er fort, und ich befand mich wieder bei den anderen.

»Was ist passiert?« fragte Random. »Wir haben gesehen, wie Vater dich zurückgeschickt hat. Wie hat er das übrigens gemacht?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Jedenfalls bestätigt er Daras Angaben. Er gab ihr den Siegelring und die Botschaft.«

»Warum?« fragte Gérard.

»Wir sollten lernen, ihr zu vertrauen«, antwortete ich.

Benedict stand auf. »Dann will ich tun, was man mir aufgetragen hat.«

»Er möchte, daß du angreifst und dann zurückweichst«, sagte Dara. »Danach brauchst du sie lediglich in Schach zu halten.«

»Für wie lange?«

»Er sagte nur, das würde dir dann schon klar.«

Benedict lächelte, was er selten tat, und nickte. Er bediente sein Kartenetui mit einer Hand, nahm die Karten heraus und zog den speziellen Trumpf für die Höfe des Chaos, den ich ihm gegeben hatte.

»Viel Glück«, sagte Random.

»Ja«, betonte Gérard.

Ich äußerte ebenfalls meine Glückwünsche und sah zu, wie er verblaßte. Als das regenbogenbunte Nachbild verschwunden war, wandte ich mich ab und bemerkte dabei, daß Dara lautlos weinte. Ich machte keine Bemerkung darüber.

»Auch ich habe jetzt meine Befehle – gewissermaßen«, sagte ich. »Ich muß los.«

»Und ich kehre auf das Meer zurück«, verkündete Gérard.

»Nein«, hörte ich Dara sagen, als ich mich bereits der Tür näherte. Ich blieb stehen.

»Du sollst hierbleiben, Gérard, und dich um die Sicherheit Ambers kümmern. Einen Angriff zur See wird es nicht geben.«

»Aber ich dachte, Random wäre hier für die Verteidigung zuständig.«

Sie schüttelte den Kopf. »Random soll zu Julian nach Arden reiten.«

»Bist du sicher?« fragte Random.

»Ganz sicher.«

»Gut«, sagte er. »Hübsch zu wissen, daß er wenigstens an mich gedacht hat. Tut mir leid, Gérard, so ist die Lage.«

Gérard schaute ihn verwirrt an. »Ich hoffe, er weiß, was er tut«, meinte er.

»Das haben wir doch schon durchgekaut«, sagte ich. »Leb wohl!«

Als ich das Zimmer verließ, hörte ich Schritte. Dara tauchte neben mir auf.

»Was noch?« fragte ich.

»Ich dachte, ich könnte dich begleiten.«

»Ich will nur den Hügel hinauf, um mir Vorräte zu besorgen. Dann muß ich zum Stall.«

»Ich komme mit.«

»Ich reite allein.«

»Ich könnte sowieso nicht mitreiten. Ich muß noch mit deinen Schwestern sprechen.«

»Ah, sie gehören also auch dazu?«

»Ja.«

Wir gingen schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie: »Die ganze Sache war nicht so nüchtern, wie sie dir vorkommen muß, Corwin.«

Wir betraten den Proviantraum.

»Welche Sache?«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ach, das. Na schön.«

»Ich mag dich. Es könnte eines Tages mehr als das sein, wenn du überhaupt etwas empfindest.«

Mein Stolz legte mir eine schnippische Antwort in den Mund, die ich aber nicht aussprach. Im Laufe der Jahrhunderte lernt man eben doch dazu. Sie hatte mich für ihre Ziele mißbraucht, doch wie es im Augenblick aussah, war sie damals nicht ganz Herr über ihre Entscheidungen gewesen. Schlimmstenfalls war zu sagen, daß Vater sich wünschte, daß ich sie begehrte. Daß ich mich darüber ärgerte, sollte aber keinen Einfluß haben auf das, was ich wirklich fühlte oder fühlen würde.

»Ich mag dich auch«, sagte ich also und schaute sie an. Es sah so aus, als brauche sie dringend einen Kuß, und ich küßte sie. »Aber jetzt muß ich mich fertigmachen.«

Sie lächelte und drückte mir den Arm. Dann war sie verschwunden. Ich nahm mir vor, meine Gefühle erst später zu analysieren, und stellte meine Vorräte zusammen.

Dann sattelte ich Star und ritt die Hänge Kolvirs hinauf, bis ich mein Grabmal erreichte. Neben dem Eingang sitzend, rauchte ich meine Pfeife und beobachtete die Wolken. Ich hatte das Gefühl, einen sehr angefüllten Tag hinter mir zu haben, dabei war es noch früher Nachmittag. In den Grotten meines Verstandes überschlugen sich die Vorahnungen – doch ich wagte es nicht, mich näher damit zu befassen.

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