Ich war noch keine tausend Meter in die Richtung geritten, die einmal Süden gewesen war, als plötzlich alles aufhörte – Boden, Himmel, Berge. Ich sah mich einer Fläche weißen Lichts gegenüber. Bei diesem Anblick fielen mir der Fremde in der Höhle und seine Worte wieder ein. Er war der Meinung gewesen, daß das seltsame Unwetter die Welt auslösche, daß die Erscheinung der Prophezeiung einer lokalen apokalyptischen Legende entspräche. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht hatte es sich um die Woge des Chaos gehandelt, von der Brand gesprochen hatte, in diese Richtung schwenkend, vorbeischwemmend, vernichtend, alles auflösend. Dieses Ende des Tals war allerdings unberührt geblieben. Warum?
Dann erinnerte ich mich an mein Vorgehen beim Verlassen der Höhle. Ich hatte die Macht des Juwels eingesetzt, um das Unwetter aus diesem Gebiet fernzuhalten. Was war, wenn es sich tatsächlich um mehr als ein normales Unwetter gehandelt hatte? Nicht zum erstenmal hätte sich das Muster gegen das Chaos durchgesetzt. War dieses Tal, in dem ich den Regen gestoppt hatte, inzwischen nur noch eine kleine Insel in einem ganzen Ozean des Chaos? Und wenn dem so war, wie sollte ich weiterkommen?
Ich blickte nach Osten, von wo sich der Tag aufhellte. Keine eben aufgegangene Sonne stand am Himmel, dafür eine ziemlich große, grellblanke Krone, ein schimmerndes Schwert in ihrer Mitte. Irgendwo sang ein Vogel, Töne, die beinahe wie Gelächter klangen. Ich beugte mich vor und barg das Gesicht in den Händen. Wahnsinn . . .
Nein! Ich war schon oft in unheimlichen Schatten gewesen. Je weiter man kam, desto seltsamer wurden sie zuweilen. Bis . . . Was war mir an jenem Abend in Tir-na Nog´th durch den Kopf gegangen?
Zwei Zeilen aus einer Erzählung Isak Dinesens kamen mir in den Sinn, Zeilen, die mich soweit beunruhigt hatten, daß ich sie mir einprägen mußte, trotz der Tatsache, daß ich damals als Carl Corey gereist war: ». . . Nur wenige Menschen können von sich behaupten, von dem Glauben frei zu sein, daß die Welt, die sie ringsum sehen, in Wirklichkeit das Produkt ihrer eigenen Phantasie ist. Sind wir folglich zufrieden damit und stolz darauf?« Eine Zusammenfassung des liebsten Zeitvertreibs unserer Familie in Sachen Philosophie. Erschaffen wir die Schattenwelten? Oder sind sie bereits vorhanden, unabhängig von uns, und erwarten unser Kommen? Oder gibt es da eine bisher übersehene Mitte? Ist das Ganze eher eine Frage des Mehr oder Weniger als des Entweder-Oder? Ein trockenes Lachen stieg mir in der Kehle auf, als ich erkannte, daß ich die Antwort vielleicht nie finden würde. Und doch hatte ich mir schon in jener Nacht überlegt, daß es einen Ort geben mußte, einen Ort, da das Ich sein Ende findet, einen Ort, da Solipsismen keine plausible Erklärung mehr sind für die Örtlichkeiten, die wir aufsuchen, für die Dinge, die wir dort finden. Die Existenz dieses Ortes, dieser Dinge, sagt uns, daß zumindest hier ein Unterschied besteht; und wenn es diesen Unterschied hier gibt, dann wirkt er vielleicht auch zurück durch unsere Schatten, tränkt sie mit dem Nicht-Ich und drängt unsere Egos damit auf eine kleinere Bühne zurück. Ich spürte, daß dies ein solcher Ort war, ein Ort, da das »Sind wir folglich zufrieden damit und stolz darauf?« nicht gültig war, so wie das zerstörte Tal von Garnath und mein Fluch unweit der Heimat. Was immer ich auch letztlich annehmen mochte, ich spürte, daß ich im Begriff stand, das Land des totalen Nicht-Ichs zu betreten. Mein Einfluß über die Schatten mochte an diesem Punkt sein Ende finden.
Ich richtete mich wieder auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Helligkeit. Ich gab Star ein Kommando und schüttelte die Zügel. Wir ritten weiter.
Einen Augenblick lang fühlte es sich so an, als bewegten wir uns im Nebel. Nur war es erheblich heller, und ringsum war kein Laut zu hören. Dann begannen wir zu fallen.
Zu fallen oder zu treiben. Nach dem ersten Erschrecken war das kaum genauer zu sagen. Zuerst kam ein Gefühl des Höhenverlustes, vielleicht verstärkt durch den Umstand, daß Star in Panik geriet. Doch seine auskeilenden Hufe fanden keinen Halt, und nach einiger Zeit bewegte sich Star überhaupt nicht mehr, bis auf sein Zittern und die schweren Atemzüge.
Ich hielt die Zügel mit der rechten Hand und umklammerte das Juwel mit der linken. Ich weiß nicht, welche Befehle mein Wille ausstrahlte oder wie ich das Juwel zum Wirken brachte; mir war nur klar, daß ich diesen Ort grellen Nichts durchqueren wollte, um meinen Weg wiederzufinden und an das Ziel meiner Expedition zu gelangen.
Ich verlor jedes Zeitgefühl. Ich hatte nicht mehr den Eindruck, daß wir stürzten. Kam ich überhaupt voran, oder schwebte ich nur auf der Stelle? Es gab keine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. War die Helligkeit noch immer nur Helligkeit? Und die tödliche Stille . . . Ich erschauderte. Hier mußten meine Sinne sogar noch mehr entbehren als in der Zeit meiner Blindheit in der alten Zelle. Hier gab es nichts – nicht das Huschen einer Ratte oder das Scharren meines Löffels gegen die Tür, keine Feuchtigkeit, keinen kühlen Lufthauch, keine Oberflächen. Ich schickte meine Gedanken weiter aus . . .
Ein Flackern.
Ich hatte den Eindruck, als wäre das Blickfeld zu meiner Rechten kurz verändert worden, doch so kurz, daß es beinahe nicht zu merken gewesen war. Ich schickte meine Empfindungen in diese Richtung, fühlte aber nichts.
Die Erscheinung war von flackernder Abruptheit gewesen, und ich wußte nicht, ob ich mich täuschte. Es mochte sich um eine Halluzination handeln.
Aber da schien es schon wieder zu passieren, diesmal links. Wie lang die dazwischenliegende Zeit war, wußte ich nicht zu sagen.
Dann hörte ich auch etwas – eine Art richtungsloses Stöhnen. Auch diese Wahrnehmung war nur sehr kurz.
Als nächstes – und zum erstenmal war ich mir meiner Sache sicher – erschien eine grauweiße Landschaft wie eine Mondoberfläche. Sie tauchte auf und verschwand wieder, nach etwa einer Sekunde, in einem kleinen Bereich meines Sehbereichs zur Linken. Star schnaubte.
Rechts erschien jetzt ein Wald – grau und weiß – herabstürzend, als passierten wir einander in unmöglichem Winkel. Ein sehr begrenztes Bild, weniger als zwei Sekunden lang zu sehen.
Dann Teile eines brennenden Gebäudes unter mir . . . farblos.
Fetzen von Heultönen schallten aus dem Himmel herab . . .
Ein gespenstischer Berg, eine Fackelprozession auf einem Serpentinenweg am mir zugewandten Hang . . .
Eine Frau, die an einem Baum hing, ein straffes Seil um den Hals, den Kopf zur Seite gedreht, die Hände auf dem Rücken gefesselt . . .
Auf dem Kopf stehende Berge, weiß; darunter schwarze Wolken . . .
Klick! Eine winzige Vibration, als hätten wir für kurze Zeit etwas Festes berührt – vielleicht Stars Hufe auf felsigem Grund. Und wieder verschwunden . . .
Ein Flackern.
Rollende Köpfe, tropfendes schwarzes Blut . . . Ein leises Lachen aus dem Nichts . . . Ein an die Wand genagelter Mann, mit dem Kopf nach unten . . .
Und wieder das weiße Licht, rollend und wogend.
Klick! Ein Flackern.
Einen Herzschlag lang bewegten wir uns auf einem Pfad unter fleckigem Himmel. In dem Augenblick, als die Erscheinung verschwand, griff ich durch das Juwel danach.
Klick! Ein Flackern. Klick! Grollen.
Ein felsiger Weg, der sich einem hohen Bergpaß entgegenwand . . . Noch immer monochrom, die Welt . . . Hinter mir ein Krachen wie Donner . . .
Ich drehte das Juwel wie einen Einstellknopf, als die Welt wieder zu verblassen begann. Sie kehrte zurück . . . Zwei, drei, vier . . . ich zählte die Hufschläge, Herzschläge gegen den knurrenden Hintergrund . . . sieben, acht, neun . . . die Welt wurde heller. Ich atmete tief ein und seufzte schwer. Die Luft war kalt.
Zwischen dem Donnern und seinen Echos hörte ich das Rauschen von Regen. Allerdings blieb ich davon unberührt.
Ich schaute zurück. Etwa hundert Meter hinter mir erstreckte sich eine mächtige Regenwand, hinter der ich nur sehr vage Bergkonturen wahrnehmen konnte. Ich schnalzte Star mit der Zunge zu, woraufhin er ein wenig schneller ausschritt, zu einem beinahe ebenen Stück Land emporsteigend, das zwischen zwei Gipfeln hindurchführte. Die Welt vor uns war noch unverändert, eine Studie in Weiß und Grau, der Himmel weiter vorn von dunklen und hellen Streifen verschmiert. Wir erreichten den Paß.
Ich begann zu zittern. Ich wollte die Zügel anziehen, rasten, essen, rauchen und herumgehen. Aber dafür war ich der Front des Unwetters noch zu nahe.
Stars Hufschläge hallten durch den Paß, der dem Zebrahimmel links und rechts mit steilen Felswänden entgegenragte. Ich hoffte, daß die Sturmfront an diesen Bergen zerbrechen würde, wenn ich auch zugleich das Gefühl hatte, daß das gar nicht möglich war. Es handelte sich nicht um ein normales Unwetter, und ich hatte das unangenehme Gefühl, daß es sich bis nach Amber erstreckte und daß ich ohne das Juwel für immer darin festgesessen und meinen Tod gefunden hätte.
Während mein Blick auf den seltsamen Himmel gerichtet war, umwirbelte mich plötzlich ein Schneesturm aus hellen Blumen, die mir den Weg erhellten. Angenehme Düfte füllten die Luft. Das Donnern hinter mir klang weicher. Die Felswände zu beiden Seiten waren von silbernen Adern durchzogen. Der Beleuchtung entsprechend, war die ganze Welt von einer Zwielichtaura erfüllt, und als ich den Paß verließ, blickte ich in ein Tal hinab, in dem die Perspektive nicht mehr stimmte, in dem sich keine Entfernungen mehr berechnen ließen: ein Tal, angefüllt mit natürlich aussehenden Spitzen und Minaretten, das mondähnliche Licht der Himmelsstreifen reflektierend, mich an eine Nacht in Tir-na Nog´th erinnernd; dazwischen erhoben sich silbrige Bäume, leuchteten spiegelähnliche Teiche, wehten gespenstische Nebelschwaden. Das Tal schien an manchen Stellen zu künstlichen Terrassen geformt, an anderen in natürlichen Wellen zu verlaufen, durchschnitten von einer Linie, die eine Fortsetzung des Weges zu sein schien, auf dem ich mich bewegte, ansteigend und sich wieder senkend, das Ganze von einer seltsam elegischen Atmosphäre erfüllt, belebt durch unerklärliche Glanzlichter und Reflexionspunkte, bar jeder Spur von Besiedlung.
Ich zögerte nicht, den Abstieg zu beginnen. Der Boden ringsum war kreideweiß und glatt wie Knochen und – entdeckte ich dort zur fernen Linken die Linie einer schwarzen Straße? Ich vermochte sie nur vage auszumachen.
Ich ritt ohne Eile, da ich spürte, daß Star zu ermüden begann. Wenn das Unwetter nicht zu schnell nachrückte, konnten wir vielleicht an einem der Teiche im Tal rasten. Ich war ebenfalls erschöpft und hungrig.
Auf dem Weg nach unten hielt ich die Augen offen, bekam aber keine Menschen oder Tiere zu Gesicht. Der Wind erzeugte ein leises Seufzen. Als ich die tiefere Zone des Tals erreichte, wo sich normales Blattwerk ausbreitete, entdeckte ich weiße Blumen, die sich zwischen den Ranken am Wegrand bewegten. Zurückschauend erkannte ich, daß die Regenfront den Berggipfel noch nicht überschritten hatte. Allerdings türmten sich die Wolken schon steil dahinter auf.
Ich drang tiefer in die seltsame Welt ein. Schon seit längerer Zeit fielen keine Blumen mehr nieder, doch noch immer lag ein angenehmer Duft in der Luft. Außer den Geräuschen, die wir erzeugten, und dem Säuseln des beständigen Windes war nichts zu hören. Absonderliche Felsformationen erhoben sich auf allen Seiten; in der Reinheit ihrer Linien hatten sie beinahe etwas Künstliches. Unentwegt trieb Nebel durch das Tal. Das helle Gras schimmerte feucht.
Während ich dem Weg zur bewaldeten Talmitte folgte, veränderte sich laufend die Perspektive, Entfernungen verschoben sich, Panoramen wirkten verzerrt. Ich bog schließlich vom Weg nach links ab, um zu einem scheinbar nahegelegenen See zu reiten, der sich dann jedoch vor mir zurückzuziehen schien. Als ich ihn erreichte, abstieg und einen Finger in das Naß tauchte, schmeckte das Wasser eiskalt und süß.
Nachdem ich getrunken hatte, verweilte ich eine Zeitlang ausgestreckt auf dem Boden und schaute Star beim Grasen zu, ehe ich mir aus meiner Tasche eine kalte Mahlzeit zusammenstellte. Das Unwetter mühte sich noch immer über die Berge. Ich starrte lange darauf und beschäftigte mich mit der Erscheinung. Wenn Vater sein Ziel wirklich nicht erreicht hatte, dann tönte da hinten das Grollen von Armageddon, dann war mein ganzer Ritt sinnlos geworden. Solche Gedanken waren aber müßig, denn ich mußte ja unter allen Umständen weiter. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Es konnte sein, daß ich mein Ziel erreichte, daß ich mitbekam, wie die große Schlacht gewonnen wurde, nur um dann Zeuge zu werden, wie alles davongeschwemmt wurde. Sinnlos . . . Nein. Nicht sinnlos. Wenigstens hatte ich dann den Versuch gemacht, diese Entwicklung abzuwenden, und ich würde es bis zum Schluß weiter versuchen. Das war genug, auch wenn alles andere verloren ging. Verdammter Brand! Daß er . . .
Ein Schritt.
Im nächsten Augenblick hatte ich mich sprungbereit hingehockt und starrte mit gezogener Klinge in die Richtung, aus der mir möglicherweise Gefahr drohte.
Eine Frau stand vor mir, klein, weißgekleidet. Sie hatte langes, dunkles Haar und wilde, dunkle Augen und lächelte mich an. Über dem Arm trug sie einen Flechtkorb, den sie zwischen uns auf den Boden stellte.
»Du mußt hungrig sein, Ritter«, sagte sie in einem seltsamen Thari-Dialekt. »Ich habe dich kommen sehen und dir dies gebracht.«
Ich lächelte und entspannte mich.
»Vielen Dank«, antwortete ich. »Ich bin wirklich hungrig. Mein Name ist Corwin. Und wie heißt du?«
»Lady«, entgegnete sie.
Ich hob eine Augenbraue. »Vielen Dank – Lady. Du lebst an diesem Ort?«
Sie nickte und kniete nieder, um den Korb zu öffnen.
»Ja, mein Zelt steht da weiter hinten am See.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Osten – zur Schwarzen Straße hinüber.
»Ich verstehe«, sagte ich.
Die Speisen und der Wein im Korb sahen sehr real aus: frisch und appetitlich, auf jeden Fall besser als meine Wegzehrung. Natürlich war ich mißtrauisch. »Du ißt mit?« fragte ich.
»Wenn du willst.«
»Ja.«
»Na schön.«
Sie breitete ein Tuch aus, nahm mir gegenüber Platz, holte die Speisen aus dem Korb und deckte zwischen uns. Ohne zu zögern, begann sie dann zu essen. Ich kam mir ein wenig schäbig vor – aber nur ein wenig. Immerhin war dies ein seltsamer Wohnort für eine Frau, die anscheinend allein lebte und offenbar nur darauf wartete, den ersten Fremden, der des Weges kam, zu bewirten. Auch Dara hatte uns bei unserer ersten Begegnung zu essen gegeben, und da ich vermutlich dem Ende meiner Reise nahe war, konnten die Machtzentren des Feindes nicht mehr weit sein. Die Schwarze Straße war ungemütlich nahe, und ich erwischte Lady mehrmals dabei, wie sie das Juwel betrachtete.
Trotzdem verbrachten wir eine angenehme Zeit und lernten uns im Verlaufe der Mahlzeit auch besser kennen. Sie war das ideale Publikum, lachte und brachte mich dazu, über mich selbst zu sprechen. Dabei blickte sie mir oft tief in die Augen und irgendwie schaffte sie es, daß wir uns immer wieder an den Fingern berührten, wenn wir uns etwas reichten. Wenn ich hier umgarnt wurde, dann auf sehr angenehme Weise.
Während des Essens und Sprechens hatte ich die ständig näherrückende Unwetterfront nicht aus dem Auge gelassen. Die finstere Linie hatte schließlich den Berggipfel überwunden und bewegte sich nun langsam von den oberen Hängen herab. Als Lady das Tuch zusammenfaltete, bemerkte sie meinen Blick und nickte.
»Ja, es kommt«, sagte sie, tat die letzten Utensilien wieder in den Korb und setzte sich mit Flasche und Trinkbechern neben mich. »Wollen wir darauf trinken?«
»Ich trinke gern mit dir – aber nicht darauf.«
Sie schenkte ein.
»Es kommt nicht darauf an«, sagte sie. »Nicht mehr.« Und sie legte mir die Hand auf den Arm und reichte mir den Becher.
Ich ergriff ihn und blickte auf sie hinab. Sie lächelte. Sie stieß mit ihrem Becher gegen den meinen. Wir tranken.
»Komm in mein Zelt!« sagte sie und ergriff meine Hand. »Dort verbringen wir die Stunden, die uns noch bleiben, auf angenehme Weise.«
»Vielen Dank«, gab ich zurück. »Zu jeder anderen Zeit wäre das ein herrlicher Nachtisch für eine großartige Mahlzeit. Leider muß ich weiter. Die Pflicht ruft, die Zeit eilt dahin, ich habe eine Mission.«
»Na schön«, sagte sie. »So wichtig ist es nicht. Und ich weiß alles über deine Mission. Inzwischen ist die auch nicht mehr so wichtig.«
»Oh? Ich muß gestehen, daß ich durchaus damit gerechnet hatte, du würdest mich zu einer kleinen Privatfeier einladen, die dazu führen mußte, daß ich irgendwo an einem einsamen Hügel allein herumirrte.« Sie lachte. »Und ich muß gestehen, daß ich die Absicht hatte, so vorzugehen, Corwin. Aber das ist vorbei.«
»Warum?«
Sie deutete auf die vorrückende Linie der Zerstörung.
»Es ist nicht mehr erforderlich, dich aufzuhalten. Ich schließe daraus, daß die Mächte des Chaos gesiegt haben. Niemand könnte das Vorrücken des Chaos noch aufhalten.«
Ich erschauderte, und sie füllte unsere Becher nach.
»Ich würde es aber trotzdem vorziehen, wenn du mich in einem solchen Augenblick nicht verließest«, fuhr sie fort. »In wenigen Stunden wird es hier sein. Wie könnte man diese Zeit besser zubringen als in der Gesellschaft des anderen? Wir brauchten ja nicht einmal in mein Zelt zu gehen.«
Ich neigte den Kopf, und sie rückte neben mich. Ach was! Eine Frau und eine Flasche – so hatte ich nach eigenem Bekunden mein Leben stets beenden wollen. Ich trank einen Schluck Wein. Wahrscheinlich hatte sie recht. Doch mußte ich an das Frauenwesen denken, das mich beim Verlassen Avalons auf der schwarzen Straße umgarnt hatte. Zuerst hatte ich ihr helfen wollen und war dann ihrem unnatürlichen Charme schnell erlegen – als dann ihre Maske fiel, mußte ich erkennen, daß sich nicht das geringste dahinter befand. Das hatte mir damals einen großen Schreck eingejagt. Aber schließlich hat jeder ein ganzes Regal voller Masken für verschiedene Anlässe – wenn man es mal nicht zu philosophisch betrachten will. Ich habe Psychologen oft dagegen wettern hören. Dennoch habe ich Menschen kennengelernt, die zunächst einen guten Eindruck machten, die ich dann aber zu hassen begann, als ich erfuhr, wie innerlich wirklich waren. Und manchmal glichen sie jenem Frauenwesen – es gab innerlich kaum etwas. So habe ich festgestellt, daß die Maske oft weitaus akzeptabler ist als ihre Alternative. Und . . . das Mädchen, das ich hier an mich drückte, mochte unter ihrem Äußeren ein Monstrum sein. Wahrscheinlich war sie das sogar. Trifft das nicht auf die meisten von uns zu? Wenn ich mich schon an diesem Punkt aufgeben wollte, gab es sicher unangenehmere Abgänge. Sie gefiel mir.
Ich leerte meinen Becher. Sie machte Anstalten, mir nachzuschenken, doch ich hielt ihre Hand fest.
Sie blickte zu mir auf. Ich lächelte.
»Beinahe hättest du mich herumbekommen«, sagte ich.
Dann schloß ich ihr mit vier Küssen die Augen, um den Zauber nicht zu zerstören, stand auf und bestieg Star.
»Leb wohl, Lady!«
Während das Unwetter ins Tal hinunterbrodelte, ritt ich weiter nach Süden. Vor mir erhoben sich neue Berge, und der Weg führte darauf zu. Der Himmel war noch immer schwarz und weiß gestreift, Linien, die sich jetzt aber ein wenig zu bewegen schienen. Alles in allem ergab sich daraus wie zuvor ein Zwielicht-Effekt, auch wenn in den schwarzen Zonen keine Sterne schimmerten. Noch immer der Wind, noch immer der süße Duft ringsum – und die Stille, die verdrehten Monolithen und das silbrige Blattwerk, unverändert taufeucht und funkelnd. Nebelfetzen wehten vor mir dahin. Ich versuchte, mit dem Stoff der Schatten zu arbeiten, doch es war schwer, und ich war müde. Nichts geschah. Ich holte mir Kraft aus dem Juwel und versuchte einen Teil davon an Star weiterzugeben. Wir kamen in gleichmäßigem Tempo voran, bis sich das Land endlich vor uns emporwellte und wir einem neuen Paß entgegenstiegen, zerklüfteter als der, durch den wir das Tal betreten hatten. Ich hielt inne und schaute zurück. Etwa ein Drittel des Tals lag inzwischen hinter dem schimmernden Schirm des vorrückenden Sturm-Gebildes. Ich dachte an Lady und ihren Teich und ihr Zelt. Kopfschüttelnd ritt ich weiter.
Im weiteren Verlauf des Passes wurde der Weg steiler, und wir kamen nur noch langsam voran. Die weißen Flüsse am Himmel nahmen eine rötliche Färbung an, die sich immer mehr vertiefte. Als ich den Durchgang erreichte, schien die ganze Welt mit Blut übergossen zu sein. In den breiten felsigen Boulevard einreitend, mußte ich gegen einen heftigen Wind angehen. Der Boden flachte etwas ab, trotzdem gewannen wir weiter an Höhe, und ich konnte noch nicht durch den Paß schauen.
Plötzlich prasselte etwas in den Felsen zu meiner Linken. Ich schaute in die Richtung, sah aber nichts. Ich tat die Erscheinung als fallenden Stein ab. Eine halbe Minute später bäumte sich Star unter mir auf, stieß ein schreckliches Wiehern aus, wandte sich ruckartig nach links und begann in diese Richtung zu sinken.
Ich sprang aus dem Sattel, und als wir beide zu Boden gingen, sah ich, daß aus Stars rechter Schulter ein Pfeil ragte. Ich rollte am Boden ab und blickte in die Richtung, aus der der Schuß gekommen sein mußte.
Eine Gestalt mit einer Armbrust stand auf einem Felsvorsprung rechts von mir, etwa zehn Meter über dem Paßweg. Sie war bereite damit beschäftigt, die Armbrust für einen zweiten Schuß zu spannen.
Ich wußte, ich kam nicht mehr rechtzeitig an den Mann heran. Ich suchte also nach einem handlichen Stein, fand am Fuße der Felswand hinter mir ein geeignetes Wurfgeschoß, wog es in der Hand und versuchte, mich nicht von meinem Zorn beeinflussen zu lassen. Meine Zielgenauigkeit wurde nicht beeinträchtigt, doch fiel der Wurf vielleicht etwas energischer aus als normal.
Der Stein traf ihn am linken Arm. Er stieß einen Schrei aus und ließ die Armbrust fallen. Die Waffe rutschte klappernd zwischen den Felsen herab und landete auf der anderen Seite des Weges, mir genau gegenüber. .
»Du Schweinehund!« brüllte ich. »Du hast mein Pferd auf dem Gewissen. Das kostet dich den Kopf!«
Ich überquerte den Pfad und suchte nach dem kürzesten Weg zu ihm hinauf. Ein Stück weiter links entdeckte ich eine Möglichkeit. Ich eilte hinüber und begann den Aufstieg. Gleich darauf waren Licht und Blickwinkel besser, und ich konnte mir den Mann genauer ansehen, der zusammengekrümmt dasaß und sich den Arm massierte. Es war Brand, dessen Haar im blutroten Licht noch flammender wirkte als normal. »Jetzt ist Schluß, Brand«, sagte ich. »Ich wünschte nur, jemand hätte das schon vor langer Zeit erledigt.«
Er richtete sich auf und blickte mir einen Augenblick lang beim Klettern zu. Er griff nicht nach seiner Klinge. Als ich die Spitze erreichte und noch etwa sieben Meter von ihm entfernt war, verschränkte er die Arme vor der Brust und senkte den Kopf.
Ich zog Grayswandir und trat vor. Ich gebe zu, ich wollte ihn umbringen, welche Körperhaltung er auch einnehmen mochte. Das rote Licht hatte sich noch verstärkt, so daß wir nun in Blut getaucht zu sein schienen. Der Wind umtobte uns heulend, und aus dem Tal unter uns grollte Donner.
Plötzlich verblaßte Brand. Seine Umrisse verschwammen, und als ich die Stelle erreichte, an der er gestanden hatte, war er verschwunden.
Fluchend verharrte ich einen Augenblick lang und dachte an die Gerüchte, wonach er irgendwie in einen lebendigen Trumpf verwandelt worden war und sich innerhalb kürzester Zeit überall hinversetzen konnte.
Von unten war ein Geräusch zu hören . . .
Ich eilte zum Rand und blickte hinab. Star strampelte noch immer mit den Hufen und prustete blutigen Schaum. Ein herzzerreißender Anblick. Aber nicht nur das bekümmerte mich.
Brand stand unter mir. Er hatte die Armbrust wieder an sich gebracht und bereitete einen weiteren Schuß vor.
Ich sah mich nach einem Stein um, doch es war keiner in Reichweite. Dann entdeckte ich ein Wurfgeschoß in der Richtung, aus der ich gekommen war. Ich hastete dorthin, steckte die Klinge fort und hievte den Stein hoch, der etwa so groß war wie eine Wassermelone. Ich kehrte damit an den Rand zurück und suchte Brand.
Er war nicht zu sehen.
Plötzlich kam ich mir sehr ungeschützt vor. Er konnte sich an jede günstige Stelle versetzt haben und bereits auf mich zielen. Ich ließ mich zu Boden fallen, wobei ich über meinen Stein stürzte. Gleich darauf hörte ich den Pfeil rechts von mir auftreffen. Dem Laut folgte Brands amüsiertes Lachen.
Da ich wußte, daß es ihn ein Weilchen beschäftigen würde, die Waffe wieder zu spannen, richtete ich mich auf. Ich schaute in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war, und entdeckte ihn auf dem gegenüberliegenden Felsvorsprung, etwa fünf Meter über mir, ungefähr zwanzig Meter entfernt. Der Paßweg lag zwischen uns.
»Wegen des Pferdes tut es mir leid«, sagte er. »Ich hatte auf dich gezielt. Aber dieser verdammte Wind . . .«
Doch schon hatte ich eine Vertiefung entdeckt und eilte darauf zu, wobei ich den Felsbrocken als Schild benutzte. Aus der keilförmigen Nische verfolgte ich, wie er einen neuen Pfeil auflegte.
»Ein schwieriger Schuß!« rief er und hob die Waffe. »Eine Herausforderung für jeden Schützen, aber auf jeden Fall die Mühe wert. Ich habe noch genug Pfeile.«
Er lachte, zielte und schoß.
Ich duckte mich und hielt mir den Stein vor den Torso, doch der Pfeil traf etwa zwei Fuß zu weit rechts auf.
»Das hatte ich schon geahnt«, sagte er und machte sich wieder an der Waffe zu schaffen. »Die Windkraft mußte ich erst einmal ausprobieren.«
Ich schaute mich nach kleineren Steinen um, die ich nach ihm hätte werfen können, doch in der Nähe waren keine zu sehen. Daraufhin wandten sich meine Gedanken dem Juwel zu. Angeblich bot es Schutz vor unmittelbarer Gefahr. Aber ich hatte das seltsame Gefühl, daß so etwas nur aus geringer Nähe funktionierte und daß Brand darüber Bescheid wußte und sich das Phänomen zunutze machte. Konnte ich nichts anderes mit dem Juwel unternehmen, um sein Vorhaben zu vereiteln? Für den Lähmungstrick schien er mir zu weit entfernt zu sein, doch ich hatte ihn schon einmal überwältigt, indem ich das Wetter zu meinen Gunsten steuerte. Ich fragte mich, wie weit das Unwetter entfernt war. Ich griff danach und erkannte, daß es Minuten dauern würde – Minuten, die ich nicht hatte –, um jene Bedingungen zu schaffen, aus denen heraus ich einen Blitzstrahl gegen ihn richten konnte. Die Winde aber standen auf einem anderen Blatt. Ich verband mich mit ihnen, spürte sie . . .
Brand war beinahe fertig. Der Wind begann durch den Paß zu kreischen.
Ich habe keine Ahnung, wo sein nächster Schuß landete. Jedenfalls nicht in meiner Nähe. Wieder begann er die Waffe zu spannen, während ich die Faktoren für einen Blitzstrahl zusammenzuholen begann . . .
Als er fertig war, als er wieder die Waffe hob, ließ ich den Wind erneut heftiger wehen. Ich sah ihn zielen, sah ihn tief Luft holen und den Atem anhalten. Dann senkte er den Bogen und starrte mich an. »Eben geht mir auf«, rief er, »daß du den Wind in der Tasche hast, habe ich nicht recht? Das ist Betrügerei, Corwin!« Er sah sich um. »Ich müßte eine Position finden, in der es nicht darauf ankommt. Aha!«
Ich arbeitete weiter an den Umständen, die zu seiner Vernichtung führen konnten, war aber noch nicht am Ziel. Ich blickte zum rot und schwarz gestreiften Himmel empor, an dem sich über uns etwas Wolkenähnliches bildete. Bald, aber noch war es nicht soweit . . .
Brand verblaßte und verschwand erneut. Verzweifelt suchte ich ihn überall.
Dann stand er mir gegenüber. Er war auf meine Seite des Passes herübergekommen. Er stand etwa zehn Meter südlich von mir und hatte den Wind im Rücken. Ich wußte, daß ich die Luftströmung nicht mehr rechtzeitig umlenken konnte, und überlegte, ob ich meinen Felsbrocken werfen sollte. Wahrscheinlich würde er sich ducken, womit ich dann meinen Schild loswürde. Andererseits . . .
Er hob die Waffe an die Schulter.
Aufschub! rief ich mir innerlich zu, während ich weiter den Himmel manipulierte.
»Ehe du schießt, Brand, mußt du mir eine Sache verraten. Einverstanden?«
Er zögerte, dann senkte er die Waffe um einige Zentimeter.
»Was?«
»Hast du mir die Wahrheit gesagt über die Ereignisse – mit Vater, dem Muster, dem Anrücken des Chaos?«
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte. Es klang wie ein Bellen.
»Corwin«, sagte er schließlich, »es freut mich unbeschreiblich, dich sterben zu sehen, ohne daß du etwas weißt, das dir soviel bedeutet.«
Wieder lachte er und hob die Waffe. Ich hatte eben den Stein gehoben, um ihn zu werfen und dann auf meinen Bruder loszustürmen. Doch keiner von uns vermochte sein Vorhaben zu Ende zu bringen.
Von oben gellte ein lautes Kreischen herab, dann schien sich ein Stück Himmel zu lösen und Brand auf den Kopf zu fallen. Er schrie auf und ließ die Armbrust fallen. Er hob die Hände, um an dem Ding zu zerren, das ihn bedrängte. Der rote Vogel, der Juwelenträger, von den Händen meines Vaters aus meinem Blut geboren, war zurückgekehrt, um mich zu verteidigen.
Ich ließ den Felsbrocken los und ging auf Brand zu. Dabei zog ich meine Klinge. Brand schlug nach dem Vogel, der davonflatterte und an Höhe gewann. Das Tier beschrieb einen Bogen und setzte zu einem neuen Sturzflug an. Brand hob beide Arme, um Gesicht und Kopf zu schützen, doch vorher sah ich noch das Blut, das aus seinem linken Augenloch strömte.
Als ich auf ihn zustürmte, begann er wieder zu verblassen. Der Vogel aber stürzte wie eine Bombe herab, und seine Krallen trafen Brand wieder am Kopf. Gleich darauf begann der Vogel ebenfalls zu verschwimmen. Brand griff nach seinem roten Angreifer, von dem er heftig attackiert wurde; im gleichen Augenblick verschwanden beide.
Als ich den Schauplatz des Geschehens erreichte, war als einziges die hingefallene Armbrust zu sehen, die ich mit dem Stiefel zermalmte.
Noch nicht, noch nicht das Ende, verdammt! Wie lange wirst du mich plagen, Bruder? Wie weit muß ich noch gehen, um die Sache zwischen uns zu Ende zu bringen?
Ich kletterte zum Weg hinab. Star war noch nicht tot, und ich mußte ihn erlösen.