11

Ich kam an der Nische vorbei und hastete weiter. Dahinter führte ein natürlicher Pfad in zahlreichen Windungen bergauf. Ich folgte ihm.

Noch war niemand zu sehen, doch mit jedem Schritt wuchs das Gefühl, daß das Juwel in der Nähe war. Ich glaubte von rechts einen Schritt zu hören und fuhr in diese Richtung, doch es ließ sich niemand sehen. Da das Juwel sich andererseits auch nicht so nahe anfühlte, setzte ich meinen Marsch fort.

Als ich mich dem Kamm der Anhöhe näherte, hinter der sich das schwarze Panorama des Chaos erstreckte, hörte ich Stimmen. Noch war nicht zu verstehen, was diese Stimmen sagten, doch sie klangen erregt.

Ich ging langsamer, duckte mich und starrte um einen Felsvorsprung.

Dicht vor mir stand Random; in seiner Begleitung waren Fiona und die Lords Chantris und Feldane. Bis auf Fiona hielten alle Waffen in die Höhe, als wären sie bereit, sie einzusetzen; allerdings machte niemand eine Bewegung. Sie starrten zum Abgrund aller Dinge hinüber, einem Felsvorsprung, der ein wenig höher lag und etwa fünfzehn Meter entfernt war – der Rand des Abgrunds.

Brand stand an dieser Stelle, und er hielt Deirdre an sich gepreßt. Den Helm hatte sie verloren, und ihr Haar wehte heftig im Wind, und er hatte ihr den Dolch an die Kehle gesetzt. Anscheinend hatte er ihr schon die Haut geritzt. Ich zog den Kopf wieder zurück.

Ich hörte Random leise fragen: »Kannst du wirklich nichts weiter tun, Fiona?«

»Ich kann ihn dort festhalten«, antwortete sie, »und auf diese Entfernung auch seine Kontrolle über das Wetter einschränken. Aber mehr nicht. Er ist in gewisser Weise auf das Juwel eingestimmt, ich aber nicht. Außerdem wirkt sich die größere Nähe zu seinen Gunsten aus. Alles, was ich sonst noch versuchen könnte, würde er abschmettern.«

Random biß sich auf die Unterlippe.

»Senkt eure Waffen!« rief Brand. »Sofort, oder Deirdre lebt nicht mehr.«

»Töte sie doch!« sagte Random. »Dann verlierst du das einzige Pfand, das dich noch am Leben erhält. Tu es, und ich zeige dir, was ich mit meiner Waffe mache!«

Brand murmelte etwas vor sich hin.

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich fange damit an, daß ich sie zerstückele.«

Random spuckte aus. »Dann tu´s doch!« forderte er. »Sie kann ihren Körper erneuern wie jeder von uns. Denk dir eine Drohung aus, die wirklich etwas bedeutet, oder halt den Mund und steh deinen Mann!«

Brand schwieg. Ich hielt es für besser, meine Ankunft weiterhin zu verheimlichen. Sicher konnte ich etwas tun. Ich wagte einen zweiten Blick und prägte mir im Geiste das Terrain ein, ehe ich mich wieder zurückzog. Links befanden sich einige Felsen, aber sie reichten nicht weit genug heran. Ich sah keine Möglichkeit, Brand anzuschleichen.

»Ich glaube, wir müssen alles auf eine Karte setzen und ihn angreifen«, hörte ich Random sagen. »Ich sehe keine andere Möglichkeit. Du vielleicht?«

Ehe jemand antworten konnte, geschah etwas Seltsames. Der Tag wurde heller.

Ich sah mich nach der Ursache der Helligkeit um, schaute schließlich zum Himmel empor.

Die Wolken waren unverändert vorhanden, und dahinter trieb der verrückte Himmel seine Kapriolen. Die Helligkeit lag jedoch in den Wolken. Sie waren bleicher geworden und begannen nun zu glühen, als verdeckten sie eine weitere Sonne. Während ich noch hinschaute, verstärkte sich der Beleuchtungseffekt noch mehr.

»Was führt er jetzt im Schilde?« fragte Chantris.

»Keine Ahnung«, antwortete Fiona. »Aber ich glaube nicht, daß er dahintersteckt.«

»Wer dann?«

Eine Antwort bekam ich nicht mit.

Ich sah die Wolken heller werden. Die größte und hellste schien plötzlich zu wirbeln, als rühre jemand darin. Formen zuckten darin herum, arrangierten sich. Ein Umriß begann Gestalt anzunehmen.

Die Kampfgeräusche auf dem Schlachtfeld unter uns verstummten. In dem Maße, wie die Vision anwuchs, wurde das Unwetter gedämpft. In dem grellen Lichtfeld über unseren Köpfen formierte sich etwas – es entstanden die Züge eines riesigen Gesichts.

»Ich weiß es nicht, das mußt du mir glauben!« hörte ich Fiona auf eine gemurmelte Frage antworten.

Noch ehe die Formbildung abgeschlossen war, erkannte ich das Gesicht meines Vaters am Himmel. Ein hübscher Trick. Und ich hatte auch keine Ahnung, was das sollte.

Das Gesicht bewegte sich, als betrachte es uns alle. Spuren der Anspannung waren auszumachen, und auch ein Anflug von Sorge im Ausdruck. Die Helligkeit verstärkte sich noch ein wenig. Die Lippen begannen sich zu bewegen.

Die Stimme ertönte – seltsamerweise in ganz normalem Gesprächston und nicht mit der hallenden Lautstärke, die ich erwartet hatte.

»Ich schicke euch diese Botschaft«, sagte er, »ehe ich den Versuch beginne, das Muster instandzusetzen. Wenn ihr dies hört, habe ich bereits Erfolg gehabt oder bin gescheitert. Sie wird euch vor der Woge des Chaos erreichen, die mein Bemühen begleiten muß. Ich habe Gründe für die Annahme, daß der Versuch meinen Tod bedeutet.«

Sein Blick schien das Schlachtfeld abzusuchen.

»Triumphiert oder trauert, wie es euch gefällt«, fuhr die Stimme fort, »denn dies ist entweder der Anfang oder das Ende. Sobald ich keine Verwendung mehr dafür habe, werde ich das Juwel des Geschicks zu Corwin senden. Ich habe ihn beauftragt, es an den Ort der Auseinandersetzung zu bringen. Alle eure Mühen dort werden nichts fruchten, wenn die Woge des Chaos nicht aufgehalten werden kann. Mit dem Juwel an jenem Ort müßte Corwin in der Lage sein, euch zu erhalten, bis die Erscheinung vorübergewogt ist.«

Ich hörte Brands Lachen. Es hörte sich an, als habe er völlig den Verstand verloren.

»Mit meinem Tod«, sprach die Stimme weiter, »wird sich für euch von neuem die Frage der Nachfolge erheben. Ich hatte in dieser Beziehung meine Vorstellungen, aber ich weiß inzwischen, daß sie nicht zu realisieren sind. Deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als dies dem Horn des Einhorns zu überlassen.

Meine Kinder, ich kann nicht behaupten, daß ich mit euch ganz zufrieden bin, aber das läßt sich vermutlich auch aus eurer Sicht mir gegenüber sagen. Lassen wir das! Ich verlasse euch mit meinem Segen, und das ist mehr als eine Formalität. Ich werde jetzt das Muster beschreiten. Lebt wohl!«

Daraufhin begann das Gesicht zu verblassen, und die Helligkeit schwand aus den Wolken. Wenig später war sie verschwunden. Eine seltsame Stille lag über dem Schlachtfeld.

». . . und wie ihr sehen könnt«, hörte ich Brand verkünden, »hat Corwin das Juwel nicht. Werft die Waffen fort und verschwindet von hier! Oder behaltet sie und verzieht euch! Es ist mir gleich. Laßt mich allein! Ich habe zu tun.«

»Brand«, sagte Fiona, »kannst du erreichen, was er sich von Corwin vorgestellt hat? Kannst du das Juwel so einsetzen, daß die Erscheinung an uns vorbeigeht?«

»Wenn ich wollte, könnte ich das tun«, antwortete er. »Ja, ich könnte die Woge des Chaos umlenken.«

»Wenn du das tust, wirst du ein Held sein«, sagte sie leise. »Du hättest dir unsere Dankbarkeit verdient. Alle Fehler der Vergangenheit wären verziehen. Verziehen und vergessen. Wir . . .«

Er begann schallend zu lachen. »Ihr vergebt mir?« fragte er. »Ihr, die ihr mich in den Turm geworfen habt, die ihr mir die Messerwunde beibrachtet? Vielen Dank, Schwester. Sehr nett von dir, mir verzeihen zu wollen, aber du wirst Verständnis haben, wenn ich das ablehne.«

»Also schön«, schaltete sich Random ein. »Was willst du denn? Sollen wir uns entschuldigen? Steht dir der Sinn nach Reichtum und Schätzen? Nach einem wichtigen Posten? Nach all diesen Dingen? Sie sollen dir gehören! Aber das Spiel, das du mit uns treibst, ist sinnlos. Machen wir Schluß damit, gehen wir nach Hause und tun wir so, als wäre alles ein schlimmer Traum gewesen.«

»Ja, machen wir Schluß«, erwiderte Brand. »Indem ihr eure Waffen hinwerft. Dann entläßt mich Fiona aus ihrem Bann, und ihr alle macht kehrt und marschiert nach Norden. Entweder das, oder ich bringe Deirdre um.«

»Darauf kann ich nur sagen, daß du sie lieber töten und dich bereithalten solltest, die Sache mit mir auszukämpfen«, gab er zurück, »denn in Kürze sind wir sowieso tot, wenn wir dich gewähren lassen. Wir alle.«

Brand kicherte.

»Glaubst du wirklich, ich lasse euch sterben? Ich brauche euch – so viele wie ich nur retten kann. Hoffentlich auch Deirdre. Ihr seid immerhin die einzigen, die meinen Triumph wirklich zu schätzen wüßten. Ich werde euch vor dem Vernichtungssturm bewahren, der unmittelbar bevorsteht.«

»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte Random.

»Dann solltest du dir die Zeit nehmen, einmal darüber nachzudenken. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß ich es euch zeigen will. Ich will euch als Zeugen für meine Tat haben. In diesem Sinne brauche ich eure Anwesenheit in meiner neuen Welt. Und jetzt verschwindet von hier!«

»Du bekommst alles, was du willst – und unsere Dankbarkeit«, setzte Fiona an. »Wenn du nur . . .«

»Geht!« schrie er.

Ich wußte, ich durfte nicht länger zögern. Ich mußte meinen Zug machen. Zugleich war mir klar, daß ich nicht rechtzeitig an ihn herankommen konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Juwel als Waffe gegen ihn einzusetzen.

Ich schickte meinen Geist auf die Reise und spürte die Gegenwart des Steins. Ich schloß die Augen und rief meine Kräfte an.

Heiß. Heiß, dachte ich. Das Juwel verbrennt dich, Brand! Es führt dazu, daß jedes Molekül in deinem Körper immer schneller vibriert. Du stehst im Begriff, zu einer menschlichen Fackel zu werden . . .

Ich hörte ihn aufschreien.

»Corwin!« brüllte er. »Hör auf damit! Wo immer du bist! Ich bringe sie um! Schau!«

Ohne in meinem Auftrag an das Juwel nachzulassen, stand ich auf. Ich starrte ihn an. Seine Kleidung begann zu qualmen.

»Hör auf!« brüllte er, hob das Messer und fuhr Deirdre damit durch das Gesicht.

Ich schrie auf, und Tränen schossen mir in die Augen. Ich verlor die Kontrolle über das Juwel. Doch Deirdre, deren linke Wange zu bluten begann, biß Brand in die Hand, die sich zu einem zweiten Stich senkte. Im nächsten Augenblick hatte sie den Arm frei, stieß ihm den Ellbogen in die Rippen und versuchte, von ihm freizugekommen.

Kaum hatte sie sich bewegt, kaum hatte sich ihr Kopf gesenkt, sah man ein silbriges Aufblitzen. Brand keuchte und ließ den Dolch fallen. In seinem Hals steckte ein Pfeil. Gleich darauf folgte ein zweiter und ragte ihm dicht neben dem Juwel aus der Brust.

Er machte einen Schritt zurück und stieß ein Gurgeln aus. Nur hatte er hier am Rande des Abgrunds keinen Bewegungsraum mehr.

Er riß die Augen auf und begann zur Seite zu sinken. Im nächsten Augenblick zuckte seine rechte Hand vor und packte Deirdres Haar. Ich war bereits brüllend losgelaufen, wußte aber, daß ich zu spät kommen mußte.

Deirdre heulte auf, Entsetzen auf dem blutigen Gesicht. Sie streckte mir die Arme hin . . .

Im nächsten Augenblick waren Brand, Deirdre und das Juwel über den Rand gekippt, stürzten in die Tiefe, waren verschwunden . . .

Ich glaube, ich wollte mich hinter ihnen herstürzen, doch Random hielt mich fest. Dann mußte er mich sogar niederschlagen, und die Welt versank.


Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf steinigem Grund, ein gutes Stück von der Stelle entfernt, an der ich umgesunken war. Jemand hatte mir meinen zusammengefalteten Mantel als Kissen unter den Kopf gelegt. Als erstes gewahrte ich den kreisenden Himmel, der mich irgendwie an den Traum mit dem Rad denken ließ, den ich am Tage meiner ersten Begegnung mit Dara gehabt hatte. Ich spürte die anderen ringsum und hörte ihre Stimmen, bewegte den Kopf aber noch nicht. Ich lag nur reglos da und betrachtete das Mandala am Himmel und dachte an den Verlust, den ich erlitten hatte. Deirdre . . . sie hatte mir mehr bedeutet als alle anderen Verwandten zusammen. Ich kann nichts dagegen tun. So war es nun mal. Wie oft hatte ich gewünscht, sie wäre nicht meine Schwester! Doch hatte ich mich mit der Realität unserer Situation abgefunden. Meine Gefühle würden sich niemals verändern, nur . . . gab es sie jetzt nicht mehr, und dieser Gedanke bedrückte mich mehr als die drohende Vernichtung der Welt.

Trotzdem mußte ich sehen, was jetzt geschah. Nachdem das Juwel nun außer Reichweite war, mußte alles vorbei sein. Trotzdem . . . ich schickte meinen Geist aus, versuchte seine Gegenwart zu erspüren, wo immer es sich auch befinden mochte, doch es kam keine Reaktion. Daraufhin richtete ich mich auf, um zu sehen, wie weit die Woge vorgerückt war, doch ein Arm drückte mich zurück.

»Ruh dich aus, Corwin!« ertönte Randoms Stimme. »Du bist am Ende. Du siehst aus, als wärst du gerade durch die Hölle gekrochen. Du kannst nichts mehr tun. Laß es gut sein!«

»Was für einen Unterschied macht mein Gesundheitszustand noch?« erwiderte ich. »Bald kommt es nicht mehr darauf an.«

Wieder wollte ich aufstehen, und diesmal stützte mich der Arm und half mir dabei.

»Na schön«, sagte er. »Es gibt aber nicht viel Lohnenswertes zu sehen.«

Damit hatte er wohl recht. Die Schlacht schien vorbei zu sein, bis auf einige vereinzelte Widerstandsnester des Gegners, die bereits umzingelt und niedergekämpft wurden, wo bei sich alles allmählich in unsere Richtung bewegte, zurückweichend vor der herbeiwogenden Front, die bereits die andere Seite des Schlachtfeldes erreicht hatte. In Kürze würden sich auf unserer Anhöhe die Überlebenden beider Seiten drängen. Ich schaute hinter uns. Von der düsteren Zitadelle kam keine Verstärkung mehr. Konnten wir uns an jenen Ort zurückziehen, wenn das Chaos uns schließlich erreichte? Und dann was? Der Abgrund schien der letzte Ausweg zu sein. »Bald«, murmelte ich und dachte an Deirdre. »Bald.« Warum auch nicht?

Ich beobachtete die Unwetterfront, die quirlte und kochte und Blitze aussandte. Ja, bald. Nachdem das Juwel mit Brand untergegangen war . . .

»Brand . . .«, sagte ich. »Wer hat ihn da vorhin erwischt?«

»Diese Ehre beanspruche ich«, sagte eine mir bekannte Stimme, die ich aber nicht unterbringen konnte.

Ich wandte den Kopf. Der Mann in Grün saß auf einem Felsen, Pfeil und Bogen neben sich auf dem Boden. Er musterte mich mit einem bösen Lächeln.

Es war Caine.

»Da soll mich doch . . .!« sagte ich und rieb mir das Kinn. »Ich hatte da ein seltsames Erlebnis auf dem Weg zu deiner Beerdigung.«

»Ja. Ich habe davon gehört.« Er lachte. »Hast du dich schon mal selbst umgebracht, Corwin?«

»Letzthin nicht. Wie hast du das fertiggebracht?«

»Ich bin in den entsprechenden Schatten eingedrungen«, sagte er, »und habe den dortigen Schatten meiner selbst in einen Hinterhalt gelockt. Der lieferte mir die Leiche.« Er erschauderte. »Ein unheimliches Gefühl, das kann ich dir sagen! So etwas möchte ich nicht noch einmal durchmachen.«

»Aber warum?« wollte ich wissen. »Warum hast du deinen Tod vorgetäuscht und mir zur Last legen lassen?«

»Ich wollte an die Wurzeln der Probleme in Amber«, sagte er, »und damit ein für allemal aufräumen. Der beste Weg dorthin schien mir die Arbeit aus dem Untergrund zu sein. Und wie hätte ich euch nachhaltiger davon überzeugen können, daß ich wirklich tot war? Wie ihr seht, habe ich mein Ziel nun doch noch erreicht.« Er hielt inne. »Die Sache mit Deirdre tut mir allerdings leid. Aber ich hatte keine andere Wahl. Es war unsere letzte Chance. Ich hatte nicht geglaubt, daß er sie mit sich in den Tod reißen würde.«

Ich wandte den Blick ab.

»Ich hatte keine andere Wahl«, wiederholte er. »Ich hoffe, das siehst du ein.«

Ich nickte. »Aber warum hast du es so aussehen lassen, als hätte ich dich umgebracht?« wollte ich wissen.

In diesem Augenblick traf Fiona in Bleys Begleitung ein. Ich begrüßte beide und wandte mich dann wieder Caine zu, der mir noch eine Antwort schuldig war. Auch von Bleys wollte ich Auskünfte haben, die mir aber nicht so sehr unter den Nägeln brannten.

»Also?« fragte ich.

»Ich wollte dich ausschalten«, entgegnete er. »Ich dachte noch immer, du könntest der Drahtzieher hinter allem sein. Du oder Brand. Auf diese beiden hatte ich die Sache schon eingeengt. Ich nahm sogar an, daß ihr beide vielleicht gemeinsame Sache machtet – besonders, wo er sich solche Mühe gab, dich zurückzuholen.«

»Das hast du nicht richtig gesehen«, schaltete sich Bleys ein. »Brand versuchte ihn fernzuhalten. Er hatte erfahren, daß er die Erinnerung wiederfand, und . . .«

»Das weiß ich heute«, sagte Caine. »Aber damals stellte sich die Sache anders dar. Ich wollte Corwin also wieder in einem Verlies wissen, während ich nach Brand suchte. Anschließend behielt ich den Kopf unten und hörte mir alles an, was durch die Trümpfe gesagt und getan wurde und hoffte auf einen Hinweis, der mir Brands Aufenthaltsort verraten hätte.«

»Das meinte Vater also!« sagte ich.

»Was?« fragte Caine.

»Er deutete an, es gebe einen Lauscher in den Trümpfen.«

»Ich wüßte nicht, wie er das gemerkt haben sollte. Ich hatte mir beigebracht, mich völlig passiv zu verhalten. Ich habe alle Karten vor mich hingelegt, sie alle zugleich leicht berührt und darauf gewartet, daß sich etwas rührte. Wenn es dazu kam, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Sprechenden. Wenn ich mich einzeln mit euch beschäftigte, konnte ich sogar manchmal eure Gedanken lesen, auch wenn ihr die Trümpfe nicht benutztet – dazu mußtet ihr aber ausreichend abgelenkt sein.«

»Trotzdem wußte er Bescheid«, sagte ich.

»Durchaus möglich«, sagte Fiona. »Sogar wahrscheinlich.« Bleys nickte ihr zu.

Random rückte näher. »Was sollte deine Frage nach Corwins Gesundung?« fragte er. »Woher wußtest du überhaupt von der Wunde, wenn du nicht . . .«

Caine nickte nur. Ich sah Benedict und Julian in einiger Entfernung stehen; sie sprachen zu ihren Soldaten. Caines stumme Bewegung führte aber dazu, daß ich sie vergaß.

»Du?« fragte ich mit belegter Stimme. »Du hast mir den Stich beigebracht?«

»Trink einen Schluck«, sagte Random und reichte mir seine Flasche. Es war verdünnter Wein. Ich trank gierig. Mein Durst war groß, doch ich hielt nach mehreren Schlucken inne.

»Erzähl mir darüber«, forderte ich.

»Na schön – das bin ich dir schuldig«, gab er zurück. »Als ich aus Julians Gedanken erfuhr, daß du Brand nach Amber zurückgebracht hattest, kam ich zu dem Schluß, daß eine alte Vermutung von mir richtig gewesen war – daß du nämlich mit Brand unter einer Decke stecktest. Das hieß, ihr mußtet beide vernichtet werden. In jener Nacht projizierte ich mich mit Hilfe des Musters in deine Räume. Dort versuchte ich dich umzubringen, aber du warst zu schnell und konntest dich durch den Trumpf retten, ehe ich es noch einmal versuchen konnte.«

»Die Verdammnis treffe dich!« sagte ich. »Wenn du unsere Gedanken lesen konntest, hättest du dann nicht erkennen können, daß ich nicht der Gesuchte war?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich konnte nur Oberflächengedanken und Reaktionen auf die jeweilige Umgebung auffangen. Und das nicht immer. Außerdem hatte ich deinen Fluch gehört, Corwin, der sich zu bewahrheiten begann. Es war überall zu sehen. Ich hatte das Gefühl, daß wir alle viel sicherer sein würden, wenn es dich und Brand nicht mehr gäbe. Seine Taten vor deiner Rückkehr hatten mir gezeigt, wozu er fähig war. Aber ich kam damals nicht an ihn heran, wegen Gérard. Dann begann er stärker zu werden. Ich machte später noch einen Versuch, der aber fehlschlug.«

»Wann war das?« fragte Random.

»Es war der Angriff, an dem Corwin die Schuld erhielt. Ich maskierte mich – für den Fall, daß er entkommen konnte wie Corwin. Er sollte nicht wissen, daß ich noch mitspielte. Ich projizierte mich durch das Muster in seine Gemächer und versuchte ihn umzubringen. Wir wurden beide verletzt – es floß viel Blut –, doch auch er konnte sich durch den Trumpf retten. Vor kurzem setzte ich mich dann mit Julian in Verbindung und schloß mich ihm für diese Schlacht an, denn hier mußte Brand auftauchen. Ich hatte einige Pfeile mit silbernen Spitzen machen lassen, weil ich davon überzeugt war, daß er nicht mehr der alte war, nicht mehr so wie wir übrigen. Ich wollte ihn schnell töten können, und zwar aus der Entfernung. Ich übte Bogenschießen und machte mich hier auf die Suche. Und schließlich hatte ich ihn gefunden. Und jetzt versichert mir jeder hier, daß ich mich in dir geirrt habe. Ich schätze, der für dich bestimmte Pfeil wird im Köcher bleiben.«

»Vielen Dank.«

»Mag sein, daß ich dir sogar Abbitte leisten muß.«

»Das würde mich zu Tränen rühren.«

»Andererseits sage ich mir, daß ich recht hatte. Ich habe gehandelt, um die anderen zu retten . . .«

Ich bekam Caines Entschuldigung nicht zu hören, denn im gleichen Augenblick ertönte ein Fanfarenstoß, der die ganze Welt erzittern ließ – richtungslos, laut, langgedehnt. Wir drehten die Köpfe hin und her, suchten nach dem Bläser.

Caine stand auf und hob den Arm. »Dort!« sagte er.

Mein Blick folgte seiner Bewegung. Im Nordwesten hatte sich der Vorhang der Sturmfront geöffnet, an der Stelle, an der die schwarze Straße daraus hervorkam. Ein gespenstischer Reiter auf schwarzem Pferd war erschienen und stieß ins Horn. Es dauerte einen Augenblick, ehe neue Töne uns erreichten. Sekunden später erschienen zwei weitere Trompeter – ebenfalls bleich von Gestalt und auf schwarzen Pferden sitzend. Sie hoben die Instrumente an die Lippen und fielen in die Fanfaren ein.

»Was mag das sein?« fragte Random.

»Ich glaube, ich weiß es«, meinte Bleys, und Fiona nickte.

»Was denn?« fragte ich.

Aber sie antworteten nicht. Die Reiter auf der schwarzen Straße kamen näher, und weitere Berittene tauchten hinter ihnen auf.

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