5

Mich weckte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Vielleicht war es auch ein Geräusch. Was auch immer, ich war plötzlich hellwach und wußte, es befand sich jemand in der Nähe. Ich verkrampfte die Finger um Grayswandirs Griff und öffnete die Augen. Ansonsten bewegte ich mich nicht.

Ein weicher Schein wie von einem Mond drang durch den Höhleneingang. Einen Schritt innerhalb der Höhle stand eine Gestalt, möglicherweise ein Mensch. Die Beleuchtung verriet mir nicht, ob er mir das Gesicht zugewandt hatte oder etwa nach draußen blickte. Im nächsten Augenblick machte die Erscheinung einen Schritt in meine Richtung.

Ich sprang auf und richtete dem Eindringling die Schwertspitze auf die Brust. Der Unbekannte blieb stehen.

»Frieden«, sagte eine Männerstimme auf Than. »Ich suche nur Schutz vor dem Unwetter. Darf ich diese Höhle mit dir teilen?«

»Was für ein Unwetter?« fragte ich.

Wie zur Antwort dröhnte Donner, gefolgt von einer Windböe, die den Regengeruch in die Höhle trug.

»Schön, soweit sprichst du die Wahrheit«, sagte ich. »Mach es dir bequem.«

Ein gutes Stück vom Höhleneingang entfernt setzte er sich, den Rücken der rechten Felswand zugewandt. Ich faltete meine Decke zu einem Kissen zusammen und ließ mich ihm gegenüber nieder. Etwa vier Meter lagen zwischen uns. Ich nahm meine Pfeife zur Hand, füllte sie und probierte ein Streichholz aus, das ich von der Schatten-Erde mitgebracht hatte. Es brannte sofort und ersparte mir damit große Mühen. Der Tabak roch angenehm in der feuchten Brise. Ich lauschte auf das Prasseln des Regens und betrachtete den dunklen Umriß meines namenlosen Gefährten. Ich versuchte, mir Gefahren vorzustellen, die aus der Situation erwachsen konnten, doch nicht Brands Stimme hatte zu mir gesprochen.

»Dies ist kein natürliches Unwetter«, sagte der andere.

»Ach? Wie denn das?«

»Zum einen kommt es aus dem Norden. Regen und Sturm kommen hier niemals aus dem Norden, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit.«

»Für alles gibt es ein erstes Mal.«

»Zweitens habe ich noch nie ein solches Unwetter erlebt. Den ganzen Tag habe ich es näherkommen sehen – eine glatte Linie, langsam vorrückend, die Front wie eine Glasscheibe. Dabei ist das Blitzen so heftig, daß das Ganze wie ein ungeheures Insektenheer mit Hunderten von schimmernden Beinen aussieht. Absolut unnatürlich. Und dahinter wirkt alles sehr verzerrt.«

»So ist das nun mal im Regen.«

»Aber nicht so. Alles scheint die Form zu verändern. Scheint zu fließen. Als würde die Welt eingeschmolzen oder völlig neu geprägt.«

Ich erschauderte. Ich hatte angenommen, den dunklen Wogen so weit voraus zu sein, daß ich mir eine kurze Rast gönnen konnte. Natürlich konnte er sich irren, vielleicht war es wirklich nur ein ungewöhnliches Tief. Aber das Risiko durfte ich nicht eingehen. Ich stand auf, wandte mich dem hinteren Teil der Höhle zu und pfiff durch die Zähne.

Keine Antwort. Ich ging nach hinten und tastete herum.

»Ist etwas?«

»Mein Pferd ist fort.«

»Ist es vielleicht abgehauen?«

»Muß wohl. Ich hätte allerdings geglaubt, daß Star mehr Verstand besitzt, als sich in solches Wetter hinauszuwagen.«

Ich ging zum Höhleneingang, vermochte aber nichts zu erkennen. Sofort war ich durchnäßt. Ich kehrte an mein Lager vor der linken Felswand zurück.

»Scheint mir ein ganz normales Unwetter zu sein«, bemerkte ich. »Die fallen in den Bergen doch manchmal sehr heftig aus.«

»Vielleicht kennst du dieses Land besser als ich?«

»Nein. Ich bin nur ein Durchreisender und möchte meinen Ritt bald fortsetzen.«

Ich berührte das Juwel. Ich versetzte mich hinein, stieg hindurch, hinaus und hinauf. Ich spürte das Unwetter ringsum und schickte es fort, mit roten Pulsschlägen der Energie, die meinen Herzschlägen entsprachen. Dann lehnte ich mich zurück, holte ein neues Streichholz heraus und zündete meine Pfeife an. Die Kräfte, die ich in Gang gebracht hatte, würden eine Weile brauchen, um sich gegen eine Sturmfront dieser Größe durchzusetzen.

»Dauert nicht mehr lange«, stellte ich fest.

»Woher weißt du das?«

»Geheime Informationen.«

Er lachte leise.

»Manche behaupten, so würde es mit der Welt zu Ende gehen – beginnend mit einem seltsamen Unwetter aus dem Norden.«

»Stimmt genau«, sagte ich. »Es ist soweit. Allerdings brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Auf die eine oder andere Weise wird alles vorüber sein.«

»Der Stein, den du trägst . . . Er leuchtet.«

»Ja.«

»Was du da eben über das Ende der Welt gesagt hast, war doch nur ein Scherz, oder?«

»Nein.«

»Du erinnerst mich an den Spruch aus dem Heiligen Buch – Der Erzengel Corwin wird vor dem Sturm einherschreiten, einen Blitzstrahl auf der Brust . . . Du heißt nicht zufällig Corwin, wie?«

»Wie geht der Text weiter?«

». . . Auf die Frage hin, wohin er reise, wird er sagen: ›Ans Ende der Erde‹, und er begibt sich dorthin, ohne zu wissen, welcher Feind ihm gegen einen anderen Feind beistehen wird, oder wen das Horn berührt.«

»Das ist alles?«

»Jedenfalls über den Erzengel Corwin.«

»Mit den alten Schriften habe ich schon früher meine Probleme gehabt. Man erfährt darin so allerlei, das sich ganz interessant anhört, doch nie genug, um die Information wirklich sofort nutzen zu können. Es ist beinahe, als hätte der Autor Spaß daran, seine Leser zu quälen. Ein Feind gegen einen anderen? Das Horn? Verstehe ich nicht.«

»Wohin ziehst du denn?«

»Nicht mehr sehr weit, wenn ich mein Pferd nicht wiederfinde.«

Ich kehrte an den Höhleneingang zurück. Der Regen begann nachzulassen; hinter einigen Wolken hing ein Schimmer wie von einem Mond, und ein zweiter im Osten. Ich blickte den Pfad hinauf und hinab ins Tal. Nirgendwo waren Pferde zu sehen. Ich wandte mich wieder zur Höhle um. Im gleichen Augenblick jedoch hörte ich Stars Wiehern tief unter mir.

Ich rief dem Fremden in der Höhle zu: »Ich muß fort. Du kannst die Decke behalten.«

Ich weiß nicht, ob er mir antwortete, denn ich lief sofort in den Nieselregen hinein und tastete mich den Hang hinab. Von neuem machte ich einen Vorstoß durch das Juwel, und der Regen hörte ganz auf und wurde von Nebel abgelöst.

Die Felsen waren glatt, doch ich legte die Hälfte der Strecke zurück, ohne ins Stolpern zu kommen. Dann hielt ich inne, um wieder zu Atem zu kommen und mich zu orientieren. Von dieser Stelle vermochte ich nicht genau zu sagen, aus welcher Richtung Stars Wiehern gekommen war. Das Mondlicht war allerdings ein wenig kräftiger, man konnte weiter schauen, doch im Panorama vor mir tat sich nichts. Mehrere Minuten lang lauschte ich in die Nacht.

Dann hörte ich das Wiehern erneut – von links unten, nahe einem dunklen Felsen – Hügelgrab oder aufragende Klippe. In den Schatten an seinem Fuß schien sich etwas zu bewegen. So schnell ich es wagte, begab ich mich in diese Richtung.

Ich erreichte ebenen Grund und eilte auf den Schauplatz der Ereignisse zu; dabei durchquerte ich Formationen von Bodennebel, die von einer Brise aus dem Westen bewegt wurden und silbrig meine Knöchel umspielten. Ich hörte ein Knirschen und Quietschen, als würde etwas Schweres über eine Steinfläche geschoben oder gerollt. Dann bemerkte ich einen Lichtstrahl unten an der dunklen Masse, der ich mich näherte.

Im Näherkommen erblickte ich kleine menschenähnliche Gestalten als Umrisse in einem Lichtrechteck, damit beschäftigt, eine große Felsplatte zu bewegen. Aus ihrer Richtung tönten die schwachen Echos von Hufschlägen und neuerlichem Wiehern herüber. Dann begann sich der Stein zu bewegen, begann zuzuschwingen wie eine Tür, die er vermutlich darstellte. Das beleuchtete Feld wurde kleiner, verengte sich zu einem Spalt und verschwand mit einem Dröhnen. Die sich abmühenden Gestalten waren zuvor im Innern verschwunden.

Als ich die Felsmasse endlich erreichte, war alles wieder friedlich und still. Ich legte das Ohr an das Gestein, hörte aber nichts. Wer immer diese Wesen waren – sie hatten mir mein Pferd weggenommen! Für Pferdediebe hatte ich noch nie etwas übriggehabt und hatte in der Vergangenheit so manchen aus dem Leben befördert. Außerdem brauchte ich Star in diesem Augenblick wie selten zuvor ein Pferd. Ich begann also auf der Suche nach den Spalten des Felsentors herumzutasten.

Es war nicht sonderlich schwer, den Umriß mit den Fingerspitzen zu ertasten. Vermutlich fand ich es schneller als bei Tageslicht, wenn alles optisch verschmolzen wäre und sich das Auge eher getäuscht hätte. Nachdem ich die Lage des Durchgangs erkundet hatte, suchte ich nach einer Art Griff, mit dem er geöffnet werden konnte. Da mir die Kerle ziemlich klein vorgekommen waren, suchte ich tief unten.

Schließlich machte ich etwas ausfindig, das der Öffnungsmechanismus sein mochte, und umfaßte ihn. Ich zerrte daran, aber das Ding setzte mir Widerstand entgegen. Entweder waren diese Leute ungewöhnlich kräftig, oder die Bedienung setzte einen Trick voraus, den ich noch nicht kannte.

Egal. Es gibt eine Zeit für Vorsicht und Zurückhaltung und eine Zeit für brutale Gewalt. Ich war zornig und hatte es eilig, und das erleichterte mir die Entscheidung.

Wieder zerrte ich an der Felsplatte, die Muskeln meiner Arme, meiner Schultern und meines Rückens anspannend, und wünschte mir, ich hätte Gérard zu Hilfe rufen können. Die Tür ächzte. Ich zog weiter. Sie bewegte sich ein wenig – etwa einen Zoll breit – und saß dann fest. Ich ließ in meiner Anstrengung nicht nach, sondern verstärkte den Zug noch mehr. Wieder knirschte die Tür.

Ich lehnte mich zurück, verlagerte mein Gewicht und stemmte den linken Fuß neben dem Portal gegen die Felswand. Im Ziehen versuchte ich zugleich das Bein durchzudrücken. Und wieder knirschte und mahlte es, und die Tür bewegte sich wieder einen Zoll heraus. Aber dann war es mit der Bewegung vorbei, und ich bekam sie nicht mehr von der Stelle. Ich ließ los und betrachtete den Durchgang, während ich zur Entspannung die Arme bewegte. Als nächstes stemmte ich die Schulter dagegen und drückte die Tür wieder ganz zu. Tief atmete ich ein und griff erneut danach.

Den linken Fuß stellte ich wieder an die alte Stelle. Diesmal kein allmähliches Anziehen. Ich zerrte und stemmte gleichzeitig.

Ein Knacken und Klappern ertönte aus dem Inneren, die Tür ruckte knirschend etwa fünfzehn Zentimeter. Sie kam mir schon etwas gelockert vor. Ich stellte mich hin, drehte mich mit dem Rücken zur Wand und fand ausreichend Halt, um die Felsplatte auswärts zu stemmen.

Sie bewegte sich schon leichter, doch ich konnte nicht widerstehen, meinen Fuß dagegenzustemmen, als sie bereits aufschwang, und so kräftig wie möglich dagegenzutreten. Sie klappte um hundertachtzig Grad, knallte mit gewaltigem Dröhnen gegen das Gestein auf der anderen Seite und zersplitterte an mehreren Stellen. Sie schwang zurück, fiel nach vorn und prallte mit ohrenbetäubendem Krachen zu Boden, der zu erbeben schien. Weitere Stücke platzten von der Tür ab.

Noch ehe die Platte zur Ruhe gekommen war, hatte ich Grayswandir gezogen und in Kampfstellung einen vorsichtigen Blick um die Ecke geworfen.

Lichter . . . Das Innere war beleuchtet . . . von kleinen Lampen, die an Wandhaken hingen . . . Neben der Treppe . . . Hinab . . . An einen Ort, der noch heller war und von dem Geräusche herauftönten . . . Und Musik.

Niemand war zu sehen. Ich hatte mir eigentlich vorgestellt, daß der ungeheure Lärm, den ich gemacht hatte, jemanden an den Schauplatz des Geschehens rufen würde, aber die Musik ging weiter. Entweder hatten sich die Geräusche – aus irgendeinem Grund – nicht fortgepflanzt, oder es war den Leuten egal. Wie dem auch sein mochte . . .

Ich richtete mich auf und schritt über die Schwelle. Mein Fuß berührte einen metallischen Gegenstand. Ich hob ihn auf und untersuchte ihn. Ein verdrehter Riegel. Sie hatten die Tür hinter sich verriegelt. Ich warf das Ding über die Schulter und ging die Treppe hinab.

Die Musik – Geigen und Flöten – wurde lauter. Der Einfall des Lichts verriet mir, daß rechts vom Fuß der Treppe ein Saal liegen mußte. Es waren kleine Stufen, aber sehr zahlreich. Ich gab mir keine Mühe, leise aufzutreten, sondern eilte zum Treppenabsatz hinab.

Als ich kehrtmachte und in den Saal blickte, sah ich mich einer Szene gegenüber, wie sie ein betrunkener Ire nicht verrückter hätte träumen können. In einem von Fackeln erleuchteten, verqualmten Saal hielt sich eine ganze Horde von Wesen auf, die nur etwa einen Meter groß waren, rotgesichtig und grüngekleidet: sie tanzten zur Musik oder hoben große Krüge – war Bier darin? – an die Lippen, während sie mit den Füßen aufstampften, auf die Tische hämmerten oder einander auf die Schultern klopften, während sie grinsten, lachten und brüllten. Riesige Fässer waren an einer Wand aufgereiht, und etliche Festteilnehmer standen Schlange vor dem gerade angezapften Panzen. Ein riesiges Feuer flackerte in einer Feuerstelle am anderen Ende des Raums; sein Rauch wurde durch einen Spalt im Gestein über zwei Höhlenmündungen abgezogen. Neben der Feuerstelle war Star an einem Ring im Fels festgemacht, und ein stämmiger kleiner Mann mit Lederschürze schärfte einige verdächtig aussehende Instrumente.

Mehrere Gesichter wandten sich in meine Richtung, es gab Geschrei, und plötzlich hörte die Musik auf. Das Schweigen war absolut.

Ich hob die Klinge in eine Habacht-Stellung und deutete quer durch den Saal auf Star. Inzwischen starrten mich alle Anwesenden an.

»Ich bin gekommen, um mein Pferd zu holen!« rief ich. »Entweder bringt ihr es mir, oder ich hole es. Wenn ich es holen muß, wird mehr Blut fließen!«

Rechts von mir räusperte sich einer der Männer, der größer und grauhaariger war als die meisten anderen.

»Verzeih«, sagte er. »Aber wie bist du hier hereingekommen?«

»Ihr werdet euch eine neue Tür machen müssen«, sagte ich. »Geht hinauf und schaut es euch an, wenn es einen Unterschied macht – und das mag durchaus sein. Ich warte.«

Ich trat zur Seite, die Felswand im Rücken.

Er nickte.

»Das werde ich tun.«

Er drückte sich an mir vorbei.

Ich spürte, wie meine aus dem Zorn geborene Kraft in das Juwel flutete und wieder zurück. Ein Teil von mir wollte sich quer durch den Saal hauen und stechen, ein anderer wünschte sich eine humanere Regelung mit Leuten, die soviel kleiner waren als ich; und eine dritte und vielleicht klügere Stimme unterstellte, daß die kleinen Burschen vielleicht nicht ganz so leicht zu handhaben sein würden. Ich wartete also ab, um zu sehen, wie sehr sich ihr Sprecher von meiner Öffnung der Tür beeindrucken ließ.

Sekunden später kehrte er zurück, wobei er einen großen Bogen um mich machte.

»Gebt dem Mann sein Pferd!« sagte er.

Stimmengemurmel lief durch den Saal. Ich senkte die Klinge.

»Ich entschuldige mich«, sagte der Mann, der den Befehl gegeben hatte. »Wir möchten mit deinesgleichen keinen Ärger haben. Wir sehen uns anderweitig nach Fleisch um. Du bist uns hoffentlich nicht gram.«

Der Mann mit der Lederschürze hatte Star losgebunden und setzte sich in meine Richtung in Bewegung. Die Festteilnehmer machten ihm Platz.

Ich seufzte.

»Die Sache soll erledigt und vergessen sein«, sagte ich.

Der kleine Mann nahm von einem benachbarten Tisch einen Humpen und reichte ihn mir. Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, trank er zunächst selbst daraus.

»Trink noch einen mit uns.«

»Warum nicht?« fragte ich, ergriff den Humpen und setzte ihn an die Lippen, während er einen anderen leerte.

Er rülpste leise und grinste mich an.

»Ein verflixt kleiner Schluck für einen Mann deiner Größe«, sagte er dann. »Ich hol dir noch einen Krug – für den Weg.«

Das Bier schmeckte recht gut, und meine Anstrengungen hatten mir Durst gemacht.

»Also gut«, sagte ich.

Er bestellte Nachschub; im gleichen Augenblick wurde Star mir übergeben.

»Du kannst die Zügel dort um den Haken winden«, sagte er und deutete auf einen niederen Vorsprung nahe der Tür. »Dann ist das Tier aus dem Weg.«

Ich nickte und kam seiner Aufforderung nach. Der Schlachter zog sich wieder zurück. Niemand zeigte noch großes Interesse an mir. Frisch gefüllte Humpen wurden gebracht. Einer der Geiger stimmte in ein neues Lied ein. Sekunden später fiel ein zweiter ein.

»Setz dich ein Weilchen her«, sagte mein Gastgeber und schob mir mit dem Fuß eine Bank zu. »Du kannst die Felswand weiter als Deckung benutzen. Es wird dir nichts geschehen.«

Ich tat, was er mir vorschlug, und er kam um den Tisch herum und setzte sich mir gegenüber, und die Bierkrüge standen zwischen uns. Es tat gut, ein paar Minuten zu sitzen, die Gedanken eine Weile von der vor mir liegenden Reise zu lösen, das dunkle Bier zu trinken und der lebhaften Musik zuzuhören.

»Ich will mich nicht noch einmal entschuldigen«, sagte mein Gegenüber, »und auch keine Erklärungen anbieten. Wir beide wissen, daß hier kein Mißverständnis vorliegt. Aber du hast das Recht auf deiner Seite, das liegt auf der Hand.« Er grinste und blinzelte mir zu. »Ich bin also auch dafür, die Sache zu begraben. Wir werden nicht hungern. Es gibt eben heute abend keine Mahlzeit. Du trägst da einen hübschen Edelstein. Erzählst du mir davon?«

»Ein Stein, weiter nichts«, sagte ich.

Das Tanzen ging weiter. Die Stimmen wurden lauter. Ich leerte meinen Krug, und er schenkte nach. Das Feuer zuckte. Die nächtliche Kälte wich aus meinen Knochen.

»Gemütliches Plätzchen habt ihr hier«, bemerkte ich.

»Das kann man wohl sagen. Dient uns seit undenklichen Zeiten. Sollen wir dich mal herumführen?«

»Vielen Dank, nein.«

»Das dachte ich mir, doch es war meine Pflicht als Gastgeber, dir das Angebot zu machen. Wenn du willst, kannst du auch gern mittanzen.«

Ich schüttelte den Kopf und lachte. Der Gedanke, mich an diesem Ort zu vergnügen, brachte mir Szenen aus Swift´schen Erzählungen in Erinnerung.

»Trotzdem vielen Dank.«

Er zog eine Tonpfeife aus der Tasche und begann sie zu stopfen. Ich säuberte mein Rauchutensil und tat es ihm nach. Ich hatte das Gefühl, daß die Gefahr vorüber war. Er war ein freundlicher kleiner Bursche, und die anderen kamen mir mit ihrer Musik und ihrem Gehopse recht harmlos vor.

Und dort . . . ich kannte die Geschichten von einem anderen Ort, weit, weit von hier . . . das Erwachen am Morgen, nackt auf einem Feld, dieser Saal spurlos verschwunden . . . ich wußte davon . . . Trotzdem . . .

Ein paar Schlucke Bier kamen mir ungefährlich vor. Der Alkohol begann mich zu wärmen, und nach den lähmenden Strapazen des Höllenritts klang das Fiepen der Flöten und das Klagen der Geigen sehr angenehm. Ich lehnte mich zurück und blies Rauch in die Höhe. Ich beobachtete die Tanzenden.

Der kleine Mann redete unentwegt. Alle übrigen beachteten mich nicht. Gut. Ich hörte phantastische Geschichten über Ritter und Kriege und Schätze. Obwohl ich nur mit halbem Ohr hinhörte, zog mich die Geschichte in ihren Bann, entlockte mir sogar einige Lacher. In mir aber warnte mich mein klügeres, unangenehmeres zweites Ich: Los, Corwin, du hast genug gehabt. Es wird Zeit, daß du verschwindest . . .

Doch auf wundersame Weise schien sich mein Krug wieder gefüllt zu haben, und ich ergriff ihn und trank daraus. Noch ein Krug – ein letzter – kann nicht schaden.

Nein, sagte mein anderes Ich, er überzieht dich mit einem Zauber. Spürst du das nicht?

Ich nahm nicht an, daß irgendein hergelaufener Zwerg mich unter den Tisch trinken konnte, aber ich war müde und hatte nicht viel gegessen. Vielleicht wäre es ratsam . . .

Ich spürte, wie mir der Kopf auf die Brust sank. Ich legte meine Pfeife auf den Tisch. Mit jedem Lidschlag schien es länger zu dauern, bis ich die Augen wieder öffnen konnte. Es war mir angenehm warm, und in meinen erschöpften Muskeln machte sich ein Hauch köstlicher Betäubung breit.

Zweimal erwischte ich mich dabei, wie mir der Kopf herabsank. Ich versuchte, an meine Mission zu denken, an meine persönliche Sicherheit, an Star . . . Ich murmelte etwas, hinter geschlossenen Lidern noch vage bei Bewußtsein. Es wäre so angenehm, noch eine halbe Minute länger in diesem Zustand zu verweilen . . .

Die melodische Stimme des kleinen Mannes bekam etwas Monotones, sank zu einem Säuseln herab. Es kam gar nicht mehr darauf an, was er eigentlich sag. . .

Star wieherte.

Ich fuhr kerzengerade hoch und riß die Augen auf: die Szene vor mir vertrieb meine Müdigkeit sofort.

Die Musiker spielten weiter, doch inzwischen tanzte niemand mehr. Alle Festteilnehmer näherten sich lautlos. Jeder hielt etwas in der Hand – Flasche, Knüppel oder Klinge. Der Mann mit der Lederschürze schwenkte seine Schlächteraxt. Mein Gastgeber hatte soeben einen kräftigen Stab ergriffen, der unweit an der Wand gelehnt hatte. Mehrere der Burschen hielten kleine Möbelstücke in den Händen. Aus den Höhlen nahe der Feuerstelle waren weitere Gestalten aufgetaucht, mit Steinen und Knüppeln bewaffnet. Die Atmosphäre der Fröhlichkeit war verflogen, die Gesichter waren entweder ausdruckslos, voller Haß oder zu einem unangenehmen Lächeln verzerrt.

Mein Zorn kehrte zurück, doch es war nicht das rotglühende Aufbrausen, das mich vorhin durchfahren hatte. Ein Blick auf die Horde genügte: mit den Burschen wollte ich mich nicht einlassen. Vorsicht dämpfte meine Reaktion. Ich hatte eine Mission. Ich durfte mich hier nicht in Gefahr bringen, wenn mir ein anderer Ausweg einfiel. Auf keinen Fall kam ich hier aber nur mit Worten heraus.

Ich atmete tief ein. Offenbar machte man Anstalten, auf mich loszustürmen, und ich dachte plötzlich an Brand und Benedict in Tir-ne Nog´th, und Brand war nicht einmal voll auf das Juwel eingestimmt. Wieder schenkte mir der feurige Stein neue Kräfte, ich hielt mich bereit, um mich zu schlagen, sollte es dazu kommen. Doch zuerst wollte ich sehen, wie es um die Nerven dieser tückischen Burschen bestellt war.

Da ich nicht genau wußte, wie Brand es gemacht hatte, griff ich lediglich durch das Juwel hindurch, wie ich es tat, wenn ich das Wetter manipulierte. Seltsamerweise spielte die Musik noch, als sei das Vorhaben der kleinen Leute lediglich eine grausige Fortsetzung ihres Tanzes.

»Steht still!« sagte ich laut und ließ diesem Befehl meinen Willen folgen. Gleichzeitig richtete ich mich auf. »Erstarrt! Werdet zu Statuen. Ihr alle!«

In und auf meiner Brust spürte ich ein heftiges Pulsieren. Ich fühlte, wie die roten Kräfte auswärts wogten, genau wie bei den früheren Gelegenheiten, da ich das Juwel einsetzte.

Meine kleinwüchsigen Angreifer verharrten. Die vordersten standen stocksteif, während es bei den Leuten weiter hinten noch geringfügige Bewegungen gab. Dann stießen die Flöten einen schrillen Mißton aus, und die Geigen schwiegen. Noch immer wußte ich nicht, ob ich durchgekommen war oder ob sie aus eigener Entscheidung innehielten, weil ich aufgestanden war.

Dann spürte ich die mächtigen Wogen der Kraft, die mir entströmten und die die gesamte Versammlung in eine enger werdende Matrix hüllten. Ich spürte, daß sie alle in diesem Ausdruck meines Willens gefangen waren, und hob die Hand und löste Stars Zügel.

Ich hielt die Männer mit einer Konzentration von einer Reinheit, wie ich sie auch bei meinen Reisen durch die Schatten anwandte, und führte Star zur Tür. Einen letzten Blick warf ich auf die erstarrte Gruppe und stemmte dann Star vor mir her die Treppe hoch. Ihm folgend, lauschte ich, doch von unten war von aufflackernder Aktivität nichts zu hören.

Als wir ins Freie kamen, malte sich im Osten bereits die bleiche Dämmerung. In den Sattel steigend, hörte ich zu meiner Verblüffung das ferne Fiedeln von Geigen. Sekunden später fielen die Flöten in das Lied ein. Anscheinend war es für diese Leute ohne Belang, ob sie ihren Plan gegen mich ausführen konnten oder nicht; auf jeden Fall ging das Fest weiter.

Ich zog Star nach Süden herum. In diesem Augenblick rief mich eine Gestalt aus dem Eingang an, den ich eben verlassen hatte. Es war der Anführer, mit dem ich getrunken hatte. Ich zog die Zügel an, um ihn besser zu verstehen.

»Und wohin reitest du?« rief er mir nach.

Warum nicht?

»Ans Ende der Erde!« rief ich zurück.

Er begann auf der zerschmetterten Tür zu tanzen.

»Leb wohl, Corwin!« rief er.

Ich winkte ihm zu. Warum auch nicht? Manchmal fällt es verdammt schwer, den Tänzer vom Tanz zu unterscheiden.

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