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Die schwache Morgensonne tauchte die Nebelschwaden über der Stadt in ein unheimliches, rötliches Licht.

Wie kalter Atem schlug Lysandra die feuchte Luft ins Gesicht. Unmittelbar vor ihr kauerte Himgi, der Zwergenhauptmann, und starrte angestrengt in den schier undurchdringlichen Dunst.

Die Schwaden waren so dicht, daß Lysandra, wenn sie an sich hinabblickte, kaum ihre eigenen Füße sehen konnte.

Der dumpfe Ton eines Hörnes klang von Osten her.

Ganz in der Nähe der Bresche, dachte die Amazone. Drei kurze Signaltöne. Das vereinbarte Alarmzeichen. Also waren sie auch an diesem Morgen wieder in die Stadt eingedrungen.

Die Amazone tastete nach ihrem Schwertknauf. Ob sie wohl bis zur Fuchshöhle vorstoßen würden? Gemeinsam mit Himgi hatte sie sich in den Ruinen der ausgebrannten Ställe am Fuß des Turmes versteckt. Eigentlich sollte sie im Purpurgewölbe Wache halten, doch sie hatte das Gefühl hier jetzt dringender gebraucht zu werden als in dem düsteren Gewölbe tief unter dem Bordell. Dort hatte sie ohnehin nur einen jahrhundertealten Runenstein zu bewachen.

Als vor dem Morgengrauen wieder dichter Nebel vom Fluß her in die Gassen der Stadt gezogen war, hatte sie kurzentschlossen fast alle Wachen von dort unten abgezogen und ihre Kämpferinnen rund um den Turm verteilt. Hier draußen war sie dann auf Himgi gestoßen.

Lysandra lächelte. Ja, gestoßen war buchstäblich das richtige Wort. Im dichten Nebel war sie regelrecht über den Zwerg gestolpert, als sie sich an der Wand des ausgebrannten Pferdestalls entlanggetastet hatte.

»Man sagt, daß die Geister unserer Ahnen uns an solch nebligen Tagen näher sind als sonst«, flüsterte Himgi leise, ohne sich zur Amazone umzuwenden. »Die Pforten zu Borons Reich sollen dann weit offen stehen, und wehe dem, der im Nebel seinen Weg verliert ...«

»Mir wäre es schon ganz recht, wenn sich ein paar Orks vor der Zeit zu Tairach verirren. Mehr als ein halbes Jahr kämpfen wir jetzt schon, und noch immer steht Sharraz Garthai mit seinen Scharen vor den Toren der Stadt. Manchmal glaube ich, der Prinz, das Reich und selbst die Götter haben uns schon lange vergessen ...«

»Hör auf mit deinen frevlerischen Reden!« Der Zwerg richtete sich auf und drehte sich zu der rothaarigen Kriegerin um. »Es steht Sterblichen nicht zu, mit den Göttern zu hadern.«

Fern im Nebel ertönte Waffenlärm und Geschrei.

»Ich glaube, sie sind schon bis zur Webergasse vorgestoßen«, wechselte Lysandra das Thema.

Der Zwerg nickte. »Weiter als gestern.«

Himgi drehte sich wieder um und versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen.

Der Kampflärm in der Ferne war verklungen.

Wer das Gefecht wohl gewonnen hatte, fragte sich die Amazone. Verfluchter Nebel. Ob er wohl das Werk des Ork-Schamanen war? Vor vier Tagen hatten die Schwarzpelze Verstärkung bekommen. Eine Kolonne von hundert oder mehr Kriegern war in das Hauptlager östlich der Stadtmauern einmarschiert.

Am selben Tag war auch das Wetter umgeschlagen. Der Schnee, der nach der Feuerbestattung Marrads gefallen war und sich wochenlang gehalten hatte, war in weniger als einem Nachmittag weggetaut.

Am nächsten Morgen waren sie von Alarmrufen und lautem Hörnerklang aus dem Schlaf gerissen worden. Dichter Nebel war vom Fluß her aufgezogen und einige Gruppen Orkkrieger hatten diese Gelegenheit genutzt, in die Stadt einzudringen.

Das war der erste richtige Angriff auf die Stadtmauern gewesen, seit der schrecklichen Schlacht, in der Zerwas, die Magier aus Bethana und so viele andere umgekommen waren.

Bislang hatte es allerdings den Anschein, als wollten die Schwarzpelze nur ihre Wachsamkeit prüfen. An den beiden vorangegangenen Tagen waren die Orks nicht weit vorgestoßen. Sie hatten sich damit begnügt, einige Häuser anzuzünden und einige unaufmerksame Wächter niederzumachen. Dann zogen sie sich schnell zurück.

Gegen diese Art von Überfällen war die Stadt praktisch schutzlos. Selbst, wenn man alle Bürger unter Waffen auf den Mauern postierte, würde es nicht ausreichen, die Wälle lückenlos zu überwachen. Die Orks brauchten lediglich Seile und Wurfanker und konnten dann im Schutz des Nebels an beliebiger Stelle einen Angriff wagen. Solange man kaum weiter als einen oder zwei Schritt sehen konnte, gingen sie fast kein Risiko ein. Und sie? Lysandra ballte zornig die Rechte um ihren Schwertgriff, sie konnten fast nichts machen, außer im Nebel zu stehen, Wache zu halten und auf die Angriffe der Orks zu warten.

Die Amazone mußte an Alrik von Blautann denken. Wenn der Reiteroberst noch hier wäre, würde er wahrscheinlich vorschlagen, daß auch sie den Nebel nutzen sollten, um schlecht bemannte Vorposten der Orks zu überfallen.

Lysandra lächelte. Irgendwie fehlte ihr dieser größenwahnsinnige Draufgänger. Auch wenn sie sich meistens gestritten hatten, seinen aberwitzigen Plänen zuzuhören war doch immer erheiternd gewesen.

Hätte er die Stadt nicht verlassen, hätte es mit Sicherheit auch nicht diese dumme Rebellion gegeben. Man mochte über von Blautann denken, was man wollte, seine Leute hatte er immer im Griff gehabt. Auf sein Wort hätten sie mit Sicherheit ohne zu murren ihre Pferde geopfert.

Ob er wohl überhaupt noch lebte?

»Siehst du das?« Die Stimme des Zwergen schreckte Lysandra aus ihren Gedanken.

Der Nebel hatte sich immer noch nicht gelichtet. Angestrengt blickte sie in die wirbelnden Dunstschwaden, doch sie konnte nichts erkennen.

»Nicht dort hinten. Sieh dir mal die Pfütze vor deinen Füßen an!« Himgi klang ungeduldig. Aber was sollte es an einer Pfütze schon zu sehen geben? Lysandra kniete sich neben den Zwerg, der mit besorgtem Gesicht noch immer wie gebannt auf die schlammige Wasserlache starrte.

»Siehst du das denn nicht?«

Lysandra gab sich alle Mühe, doch sie konnte beim besten Willen nichts Besorgniserregendes erkennen. Oder wollte der Zwerg sie vielleicht auf den Arm nehmen.

»Da ist es schon wieder.«

Lysandra legte den Kopf schief. Die Pfütze vor ihren Füßen war einen Schritt breit und mochte an der tiefsten Stelle vielleicht bis zu ihrem Knöchel reichen. Was im Namen aller Götter fand Himgi nur daran?

»Da, es erzittert schon wieder!«

Jetzt konnte die Amazone es auch sehen. Ein leichtes Zittern lief über die Wasseroberfläche. Ganz so, als ob in der Nähe ein Fuhrwerk vorbeigefahren sei.

Sie lehnte sich zurück und lauschte.

Nein, es war beim besten Willen nichts Verdächtiges zu hören. Seit einer ganzen Weile war kein Alarmsignal mehr erklungen. Wahrscheinlich hatten die Orks sich schon wieder zurückgezogen.

»Bei Ingerimm! Wir schlagen uns hier mit ihren Plänklern herum, und die graben sich inzwischen unter unseren Füßen durch.« Der Zwerg war mittlerweile aufgesprungen und starrte sie an.

»Begreifst du denn nicht? Sie graben Tunnel. Und sie sind schon direkt unter uns. Durch die Tunnelarbeiten wird das Erdreich erschüttert. Zu wenig, als das man es eigentlich bemerken würde. Wahrscheinlich graben sie sehr tief, und Ingerimm allein weiß, wie nahe sie dem verschütteten Stollen der Kultanlage unter dem Platz der Sonne schon gekommen sind.«

»Glaubst du, sie werden uns zuvorkommen?«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall können sie wann immer sie wollen nach oben durchstoßen und mit Hilfe des Tunnels Truppen direkt ins Herz der Stadt bringen. Und vielleicht haben sie auch mehr als einen Tunnel gegraben ... Ich muß zu Marcian. Halte du solange die Stellung.«

Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, machte sich der Zwerg davon und war fast augenblicklich vom dichten Nebel verschluckt. Der Kerl glaubte doch nicht wirklich, daß sie hier tatenlos stehen blieb.

Lysandra tastete nach der Holzwand des Pferdestalls. Wenn sie der Wand folgte, würde sie nach ein paar Schritten an der Außenmauer der Fuchshöhle stehen. Dort konnte sie sich bis zum Eingang des Bordells weitertasten.

Bei Rondra! Sie würde es den Schwarzpelzen schon noch zeigen. Viel zu lange hatte sie schon gewartet. Nun wurde es Zeit zu handeln. Das angstvolle Gezeter von Zauberern und Zwergen würde sie nicht mehr länger aufhalten.


»Hör auf damit, das kannst du nicht allein entscheiden!«

»Geh doch zu Marcian und mach Meldung.« Lysandra hatte für einen Augenblick die Spitzhacke abgesetzt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Hinter ihr hielten zwei Kriegerinnen Nyrilla fest.

»Du wirst uns alle ins Unglück stürzen!« Wieder bäumte sich die Elfe gegen ihre beiden Wächterinnen auf, doch die Frauen waren stärker.

»Wenn ich nichts tue, wird das unser Unglück sein. Ich hab dir doch gesagt, daß die Orks Tunnel unter die Stadt treiben. Wenn sie vor uns zur verschütteten Kultstätte kommen und den Streitkolben finden, dann ist wirklich alles verloren. Noch haben wir das Schicksal selber in der Hand.«

Lysandra schwang erneut die schwere Hacke gegen den zugemauerten Tunneleingang. Dabei gab sie sorgsam darauf acht, nicht aus Versehen den großen Runenstein zu treffen, der in die Mitte der zugemauerten Toröffnung eingesetzt worden war.

»Denk an die Dämonenrune auf dem Stein. Die Gestalt mit den ausgerissenen Herzen.« Nyrilla hatte es aufgegeben, gegen ihre Bewacherinnen anzukämpfen. Ihre Stimme klang jetzt ruhig.

»Du glaubst wohl, Tairach persönlich wartet hinter dieser Mauer auf mich«, höhnte die Amazone.

Die Elfe antwortete ihr nicht mehr.

Nach etlichen Schlägen war endlich der erste Stein aus der Mauer gebrochen. Lysandra befahl ihren Kämpferinnen, Brechstangen zu nehmen, um damit das Loch zu vergrößern.

Vor Anstrengung schnaufend setzte sie sich neben die Elfe. Ausgenommen von Nyrilla, die auf Marcians Vorschlag zur Wache im Purpurgewölbe eingeteilt worden war, konnte sie allen Frauen hier unten trauen. Die meisten kämpften schon seit Beginn des Orkkrieges an ihrer Seite, die übrigen hatten sich als Unterführerinnen in der Bürgerwehr der Stadt hervorgetan. Jede von ihnen würde ihr bis in die Niederhöllen folgen, dessen war Lysandra sich sicher.

Außer Nyrilla. Nun, dann würden sie die Elfe einfach mitnehmen, wenn sie in den Gang eindrangen. Vielleicht mochte sie sogar von Nutzen sein. Schließlich konnten Elfen zaubern.

Die Amazone betrachtete Nyrilla verstohlen aus den Augenwinkeln. Wenn es hart auf hart kommen sollte, würde das Langohr schon ihren Befehlen folgen, dessen war sie sich ganz sicher.

»Wir haben es geschafft!« Arka, eine stämmige Frau mit kurzgeschorenen, blonden Haaren schwang triumphierend ihr Brecheisen.

In der Wand klaffte ein Loch, das gerade groß genug war, daß ein Mensch sich hindurchzwängen konnte.

»Zurück mit euch!« Lysandra stand auf und nahm einer der Kriegerinnen die Fackel aus der Hand.

Vorsichtig näherte sie sich dem Durchbruch und leuchtete in den Tunnel, der dahinter lag. Im flackernden Feuerschein konnte sie einen Erdgang erkennen, dessen Boden mit bleichen Knochen übersät war.

Hier und dort schimmerte grünlich angelaufenes Messing von zerschlagenen Helmen und Rüstungen zwischen dem Gebein, und auch verrostete Waffen waren zu erkennen. Langsam, jeden Augenblick zum Rückzug bereit, steckte die Amazone ihren Kopf durch die Öffnung, um besser sehen zu können.

Die Flamme der Fackel brannte unstet in der verbrauchten Luft des Tunnels. Es roch nach Staub und Moder. Und noch ein anderer Geruch lag in der Luft. Etwas, das Lysandra nicht einzuordnen vermochte.

Ein würziger Duft, der in ihr die Erinnerung an seltsame Kulthandlungen im schwachen Schein schwelender Rauschkrautbündel weckte. Für einen Moment stand ihr mit quälender Deutlichkeit noch einmal die Szene vor Augen, mit der ihr Rachefeldzug gegen die Schwarzpelze begonnen hatte. Die Netze, die scheinbar aus dem Himmel auf sie und ihre Gefährtinnen herabgestürzt waren ... Das Stöhnen und die Schreie ihrer Schwertschwestern, während sie sich totgestellt hatte und so dem Schlimmsten entging. Lysandra biß auf ihre Unterlippe, bis der Schmerz die Erinnerung vertrieb. Dann zog sie sich zurück.

Erwartungsvoll blickte sie die anderen Frauen an.

Die Amazone schlug sich mit der Faust gegen den Brustpanzer. »Na, was starrt ihr so? Wie ihr seht, bin ich noch immer aus Fleisch und Blut. Keine Geister und Dämonen sind über mich hergefallen. Hinter dieser Mauer liegt nichts, wovor man Angst haben müßte. - Es sei denn, man fürchtet sich vor ein paar morschen Knochen«, fügte sie mit einem verächtlichen Blick zur Elfe hinzu.

Nyrillas Augen schienen schier zu glühen. Lysandra hatte den Eindruck, daß eine seltsame Kraft in der Art lag, wie die Elfe sie ansah, und es fiel der Amazone schwer, sich von diesen leuchtenden Augen wieder loszureißen.

Ob Nyrilla wohl versuchte, einen Zauber auf sie zu legen?

Lysandra hatte schon die unglaublichsten Geschichten über die Magie der Elfen gehört.

»Los, nehmt alle Fackeln von den Wänden und folgt mir«, befahl sie mit schroffer Stimme. »Und vergeßt mir unsere Elfe nicht. Soll die Kleine mal zeigen, ob sie Mumm hat.«

Lysandra wußte, daß sie sich nicht noch einmal zu der Elfe umdrehen durfte. In der Rechten das Schwert, in der Linken eine Fackel, stieg sie durch die Öffnung in der Wand.

Einige lose Steine polterten hinter ihr in den Gang.

Vorsichtig sah sie sich um. Ob es hier wohl Fallen geben mochte? Besser nicht daran denken! Sie würde vorsichtig sein. Vielleicht sollte sie einfach die Elfe vorgehen lassen?

Nein! Wie konnte sie nur so etwas denken? Sie führte hier das Kommando, und sie würde auch ihre Schar anführen! Vorsichtig tastete Lysandra sich voran. War sie vielleicht schon so verweichlicht wie jene feigen kaiserlichen Marschälle, die ihre Truppen aus der Sicherheit eines Feldherrenhügels weit hinter der Kampflinie kommandierten?

Ihre Leute hielten zu ihr, weil sie immer in vorderster Linie gestanden hatte. Niemals hatte sie von jemandem etwas verlangt, wozu ihr selber der Mut gefehlt hätte. Das sollte sich auch jetzt nicht ändern.

Bei jedem ihrer Schritte ertönte das leise Knirschen von Knochen, die so dicht auf dem Boden des Ganges lagen, daß es unmöglich war, sich vorwärtszubewegen, ohne sie zu zertreten.

In die Wände des Tunnels, die aus lehmigem Erdreich waren, hatten die Orks Hunderte von Totenschädeln gedrückt, die mit bizarren Runen in roter Farbe bemalt waren.

Wieder ließ Lysandra den Blick über den Boden schweifen. Das unstete Licht der Fackeln warf sich ständig verändernde Schatten auf Wände und Boden. Immer wieder hatte die Amazone den Eindruck, daß sich außerhalb ihres Gesichtsfeldes etwas im Dunkeln verbarg. Doch sie konnte es nicht fassen. Wenn sie ruckartig den Kopf drehte war das, was sie zu sehen geglaubt hatte, immer verschwunden.

Bald schrieb die Amazone dieses Phänomen ihrer überreizten Phantasie zu. Oder sollte es gar ein subtiler Elfenzauber sein, mit dem Nyrilla versuchte, ihr Angst zu machen? Nein, sie würde sich jetzt nicht zu der Elfe umdrehen. Lysandra wußte, daß dieses Luder nur darauf wartete, daß sie sie anblickte. Nyrilla würde keine Gelegenheit bekommen, sie durch einen Beherrschungszauber zur Umkehr zu zwingen.

Die Amazone spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Diese verfluchte Elfe, dachte sie. Sie beunruhigte sie mehr als der Tunnel mit all seinen hohläugigen Totenschädeln.

Lysandra versuchte sich auf die verrotteten Knochen am Boden zu konzentrieren. Sie mußte sich von dem ganzen Unsinn, den sie dachte, ablenken.

Oder war das alles der Einfluß der Höhle? Lysandra konnte hören, wie auch ihre Kriegerinnen leise tuschelten. Der Gang, dem sie folgten, verlief völlig anders, als sie erwartet hatte. Lysandra war der Überzeugung gewesen, daß hinter der vermauerten Wand ein Tunnel direkt unter den Platz der Sonne führte. Doch weit gefehlt. Der Gang beschrieb einen weiten Bogen und führte eher vom Platz weg als auf ihn zu.

Sie hatten schon mehr als dreißig Schritt zurückgelegt, als sie eine Stelle erreichten, wo ein Teil der Tunneldecke eingestürzt war. Aufrecht zu gehen war hier nicht mehr möglich. Man mußte auf die Knie und mochte vielleicht kriechend weiterkommen.

»Ihr bleibt hier, ich versuche, ob es hier ein Durchkommen gibt. Bin ich nach einer Stunde nicht zurück, dann kehrt um und benachrichtigt Marcian.«

Lysandra stieß ihre Fackel ins Erdreich, das den Tunnel blockierte. Wenn sie kriechen mußte, würde die Fackel sie mehr behindern, als daß sie Nutzen bringen würde.

»Ich wünsche dir Glück«, erklang Nyrillas Stimme.

Einen Augenblick zögerte die Amazone und überlegte sich, sich zum Abschied noch einmal umzudrehen. Doch mochte auch das eine Falle sein. Ein subtiler letzter Versuch, sie doch noch durch die Macht ihrer Elfenaugen in einen Bann zu schlagen. Nein, sie würde darauf nicht hereinfallen! Vorsichtig kroch Lysandra in den engen Schacht. Erdmassen und herabgestürzte Felsbrocken hatten den ursprünglichen Gang fast völlig verschüttet. Nur ein enger gewundener Weg war übriggeblieben.

Bald mußte sich die Amazone flach auf den Bauch pressen, um noch weiter zu kommen. Ihre Hände und ihr Gesicht waren bald völlig verschmutzt. Lysandra grinste vor sich hin. Wie ein Maulwurf würde sie aussehen, wenn sie hier wieder herauskam. Wenigstens hatte sie bisher Glück, und der Durchgang war nicht plötzlich völlig verschüttet.

Unermüdlich kroch sie weiter durch die Finsternis. Die Dunkelheit war so absolut, daß sie kaum ihre eigenen Hände sehen konnte. Wenn nur das Erdreich nicht nachgab! Schon eine leichte Erschütterung mochte ausreichen, um den kleinen Durchgang einstürzen zu lassen. Sie erschauderte. Es wäre unmöglich, ihr dann noch rechtzeitig zu Hilfe zu kommen. In aller Deutlichkeit stand ihr vor Augen, was für ein Ende sie in diesem Fall nehmen würde. Die Erde würde sie ersticken. Wenn sie Glück hatte, würde herabstürzendes Gestein sie zerquetschen, oder Staub und Dreck würden ihr in den Mund gepreßt, so daß sie daran erstickte.

Sie mußte an etwas anderes denken! Kalter Schweiß rann ihr über den Rükken. Lysandra versuchte schneller vorwärtszukommen. In der Dunkelheit stieß sie sich das Bein auf. Es mußte ein tiefer Schnitt sein, doch es war zu eng, um sich aufzurichten und die Wunde zu versorgen.

Weniger denn je, verstand sie in dieser Lage, wie es ganze Völker geben konnte, die freiwillig unter der Erde lebten. Was mochte die Zwerge nur dazu bewegen, sich in Sumus Leib zu graben und ein Leben in Finsternis zu führen?

Endlich wurde der Gang ein wenig breiter! Lysandra konnte sich jetzt auf allen vieren vorwärtsbewegen. Schließlich konnte sie wieder aufrecht stehen. Doch es war immer noch unmöglich, etwas zu erkennen. Es war, als habe man ihr ein Tuch vor die Augen gebunden. Lysandra tastete nach den Wänden des Tunnels. Hier schien der Gang wieder von der selben Beschaffenheit wie vor der Einsturzstelle zu sein.

Was war das?

Angespannt lauschte sie in die Finsternis. Hatte sie nicht ein Geräusch gehört? Ein Kratzen oder Schaben ... Ob es hier Ratten gab?

Die Amazone hielt den Atem an. Da war es wieder ...

Es schien links von ihr durch die Erdwand zu kommen. Sie preßte das Ohr an den feuchten Lehm. Jetzt hörte es sich fast wie dumpfe Schläge an. Wieder fielen ihr Himgis Worte ein.

Der Zwerg hatte unrecht gehabt. Die Orks waren nicht unter ihren Füßen... Sie waren schon viel weiter! Das waren Geräusche von Spitzhacken, die in weiches Erdreich schlugen.

Wie weit sie wohl noch entfernt waren? Zwei oder drei Schritte? Oder ein Dutzend Schritte? Sie mußte Himgi holen. Er würde das besser abschätzen können.

Lysandra drehte sich um und suchte tastend nach dem Einstieg in den halbverschütteten Tunnel. Einen Moment zögerte sie. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sich noch einmal wie ein Wurm durch’s Erdreich zu winden.

»Rondra schütze mich, und schenke mir einen Tod auf dem Schlachtfeld, so daß ich mich würdig erweisen kann, dereinst an deiner Ehrentafel zu sitzen«, betete die Amazone leise. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und zwängte sich wieder in den engen Durchgang.


»Du hast was?« Marcian war außer sich vor Wut, als Himgi ihm von seiner Entdeckung berichtet hatte. »Wie konntest du nur Lysandra sagen, was du gesehen hast? Was glaubst du wohl, wo sie jetzt ist? Sie hatte von Anfang an keine Angst vor dem Runenstein, und du hast ihr jetzt einen Grund geliefert, ihn aus der Mauer zu brechen.« Himgi blickte verlegen zu Boden und schwieg.

»Los, hol zehn deiner Leute und komm so schnell wie möglich ins Purpurgewölbe.«

»Jawohl, Kommandant!« Der Zwergenhauptmann salutierte und verließ im Laufschritt das große Turmzimmer, in dem Marcian sein Quartier genommen hatte.

Hastig zerrte der Inquisitor den schweren, schwarzen Wollumhang vom Haken neben dem Kamin. So hatte es ja kommen müssen ...

Im Grunde hatte Lysandra recht mit dem, was sie tat. Viel zu lange hatten sie schon gezögert, den Stein aus der Wand zu brechen. Wahrscheinlich lag dahinter nichts anderes als ein Labyrinth halbverschütterter Gänge. Er hätte Himgi nicht so anschreien sollen. Im Grunde war es nicht sein Fehler. Er, Marcian, hätte wissen müssen, daß es auf Dauer nicht gutgehen konnte, wenn er die heißblütige Lysandra den vermauerten Eingang bewachen ließ.

Ärgerlich warf der Inquisitor die Tür zum Turmzimmer hinter sich ins Schloß und stieg die lange Wendeltreppe hinab. Er würde jetzt Lancorian holen. Auf alle Fälle wäre es besser einen Magier dabei zu haben. Vielleicht würde der Zauberer spüren, wenn sich nach dem Durchbruch durch die Mauer etwas verändert hatte.

Und wenn Lysandra nun nicht gegen seinen Befehl verstoßen hatte? Was machte ihn so sicher, daß sie in den Tunnel eingedrungen war? Vielleicht hielt sie immer noch ihre Wache? Dann wäre es an ihm, den Stein aus der Mauer zu lösen. Von seinen Leuten würde er das nicht verlangen.

Marcian erreichte den Hof der Garnison und blickte zum Himmel. Blaß schimmerte das Praiosgestirn zwischen den Wolken. Sein Gott würde ihn schützen. Schließlich war er Inquisitor! Er verkörperte die Gerechtigkeit des Praios unter den Menschen. Tief atmete er die kalte Winterluft ein. Ja, er würde es tun! Und sollte ihm etwas passieren, dann war das die gerechte Buße für seine Verfehlungen in den letzten Wochen.

Wie konnte er nur so dumm sein und glauben, die Orks würden es dabei bewenden lassen, tatenlos vor den Mauern der Stadt zu lagern und darauf zu warten, daß schließlich der Hunger die Bürger zur Übergabe Greifenfurts treiben würde.

Er hätte vorhersehen müssen, daß sie sich damit nicht begnügen würden. Er war der Kommandant, und er allein trug die Verantwortung.

Wütend schritt er aus und passierte das obere Burgtor. Was wohl aus Cindira werden würde, wenn er jetzt den Tod fand? Er versuchte nicht mehr an ihr feingeschnittenes Gesicht zu denken. Ihre seidige Haut. Ihre zärtliche Stimme und die Geborgenheit, die er in ihren Armen fand.

Leise begann er die Ordensregeln der Praios-Geweihten vor sich her zu murmeln, die auch er hatte erlernen müssen, bevor er das Amt eines Inquisitors bekleiden durfte. Doch das Bild Cindiras konnte er damit nicht aus seinem Geist bannen. Vielleicht war das einer der Gründe, warum man ihn nie in die Geweihtenschaft aufgenommen hatte. Er konnte sich nie nur den göttlichen Dingen widmen.

Als Lysandra aus dem halb eingestürzten Abschnitt des Tunnels hervorgekrochen kam, war sie so sehr von Schmutz bedeckt, daß selbst das leuchtende Rot ihrer langen Haare nur noch zu erahnen war.

Noch immer hielt sie dem stechenden Blick Marcians stand. Er hatte sie vor ihren Kriegerinnen mit scharfen Worten zur Rechenschaft gezogen. Doch die Amazone legte nur trotzig den Kopf in den Nacken und starrte ihn an.

»Hätte ich die Wand nicht aufbrechen lassen und wäre durch den verschütteten Tunnel gekrochen, dann wüßten wir jetzt nicht, wie nahe die Orks ihrem Ziel sind.«

»So, du weißt wie nahe die Orks dem Ziel sind?« Marcians Stimme klang kalt und zynisch. »Hast du ihn denn gesehen, den erschlagenen Greifen und den Streitkolben des Tairach?«

»Nein.« Die Amazone schien nicht im mindesten beeindruckt zu sein. »Ich habe nur gehört, wie sie sich durch die Erde arbeiteten. Doch sobald sie den Durchbruch geschafft haben, werden sie uns voraus sein. Ein einziger Krieger von ihnen, der den Ausgang des halbverschütteten Tunnels bewacht, den ich erkundet habe, wird dann ausreichen, um uns aufzuhalten. Ich brauche dir ja wohl nicht zu erklären, wie leicht es ist, jemanden zu erschlagen, der vor einem auf dem Boden kriecht. Entweder wir halten die Orks auf, sobald sie den Durchbruch bis zum Tunnel geschafft haben, oder wir können aufgeben.«

Als die Amazone geendet hatte, war es eine Weile still. Es war einfach nicht von der Hand zu weisen, daß sie recht hatte.

»Dann müssen wir eben verhindern, daß die Orks durchbrechen. Wir werden sie dort erwarten und bis zurück in ihr Lager prügeln. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß wir sie besiegen.«

»Nur daß uns diesmal kein Zerwas mehr zur Seite steht«, erklang es hinter Marcian.

Der Inquisitor drehte sich um. Lancorian kam gemessenen Schrittes den Gang herab. Der Magier war außer Marcian und seinen Vertrauten der einzige, der wußte, warum der Vampir nicht mehr in die Stadt zurückgekehrt war. Seit der Inquisitor Lancorian die Fuchshöhle genommen hatte, hatte es kein freundschaftliches Wort mehr zwischen ihnen gegeben. Selbst wenn er ihm den Turm auf der Stelle zurückgeben würde, könnte es niemals mehr so wie früher zwischen ihnen sein.

»Entschuldigt, wenn ich mich ungefragt zu Wort melde.« Der Zwerg Arthag hatte sich zwischen die beiden gestellt. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden, das uns weiterhilft. Folgt mir!«

Marcian war dankbar für die Unterbrechung. Er war kurz davor gewesen, sich mit Lancorian vor allen anderen anzulegen. Solche Fehler durfte er sich nicht leisten! Er mußte dafür sorgen, daß kein Streit ausbrach! Jede Fehde schwächte die Verteidigungskraft der Stadt.

Eine Fackel in der Rechten führte Arthag sie durch den Tunnel zurück, bis kurz vor die eingeschlagene Mauer, hinter der das Purpurgewölbe lag.

»Seht ihr das?« Der Zwerg beleuchtete eine Stelle, wo die Seitenwand des Tunnels nachgegeben hatte und Geröll in den Gang gestürzt war.

»Das hier ist die Lösung unserer Probleme!« Triumphierend blickte er in die Runde, doch die anderen schienen nicht zu begreifen, was er meinte.

»In den Inschriften, die ich in Xorlosch studiert habe, hieß es: Lang und gewunden ist der Weg, den Krieger und Häuptlinge gehen, doch gerade und kurz die Strecke, die den Priester zum Blutgott führt. Nun seht euch den Gang an, durch den wir zurückgekommen sind! Statt gerade unter den Hügel zu führen, beschreibt er einen weiten Bogen. Ja, es sieht sogar ganz so aus, als würde er sich vom Platz der Sonne entfernen. Bis heute waren mir die verschlüsselten Zeilen, die meine Vorfahren niedergeschrieben haben, unklar, doch jetzt begreife ich endlich, was sie damit meinten. Es gibt zwei Wege zu dem verborgenen Kultplatz. Der Text ist keine Metapher auf das Leben, sondern eine konkrete Beschreibung dieser Tunnelanlage. Lang und gewunden, damit ist der Weg gemeint, den wir soeben beschritten haben. Entweder beschreibt dieser Tunnel einen großen Kreis und trifft schließlich auf den Kultplatz, oder er bildet sogar mehrere konzentrische Spiralen. Der zweite Gang aber führt auf kürzestem Wege zum Ziel. Und genau vor diesem Gang stehen wir jetzt. Ich bin sicher, wenn wir das Geröll hier beiseite geräumt haben, finden wir dahinter einen weiteren Tunnel.«

»Bringt mehr Fackeln«, befahl Marcian. Auch wenn die Worte des Zwergs schlüssig klangen, konnte er beim besten Willen kein Anzeichen dafür ausmachen, daß sich hinter dem Geröll ein Tunnel verbarg.

Arthag hob seine Fackel in die Höhe und beleuchtete die gewölbte Decke des Tunnels. Ein großer, grauer Stein ragte dort aus dem Erdreich.

»Seht nur«, rief er aufgeregt. »Dort, die Rune! Das Zeichen des Tairach. Der Dämon mit den zwei ausgerissenen Herzen! Dieselbe Rune war auch auf der Inschriftensäule in Xorlosch eingemeißelt. Und genau darunter ist der Einsturz. Gebt mir eine Hacke!«

Marcian machte dem Zwerg Platz. Auch Himgi und seine Leute eilten Arthag zu Hilfe. Eifrig schafften sie Steine und Erde beiseite.

Nach mehr als einer halben Stunde Arbeit war deutlich zu sehen, daß an dieser Stelle ein Tunnel vom Hauptgang abzweigte, doch schien er vollständig mit Geröll angefüllt zu sein.

Fluchend warf Arthag seine Schaufel beiseite.

»Nun«, Marcian blickte ihn fragend an.

»Wir sind auf dem richtigen Weg, Kommandant. Doch Ingerimms Zorn hat diesen Tunnel gründlich zerstört. Wir brauchen Holz, um den Gang neu zu verschalen und Balken, um die Decke abzustützen, sonst werden wir nicht weiterkommen. Soviel wir auch graben, es rutscht ständig neues Geröll nach ... Mich tröstet nur, daß es die Orks mit Sicherheit auch nicht leicht haben werden. Wir konnten ja selber schon sehen, daß auch vom Hauptgang, auf den die Schwarzröcke sicher bald treffen werden, weite Strecken verschüttet sind.«

»Wie lange werdet ihr brauchen, um diesen Tunnel wieder begehbar zu machen?«

Der Zwerg zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ist nur ein Teil des Tunnels eingestürzt, sind wir vielleicht schon heute abend im Allerheiligsten. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, dann kann es auch noch einige Tage dauern.«

»Nun gut«, brummte Marcian. Dann blickte er in die Runde. »Keiner von euch wird ein Wort darüber verlieren, was hier unten geschieht. Wenn in der Stadt bekannt wird, daß die Orks einen Tunnel unter den Mauern hindurchgetrieben haben und daß unter dem Platz der Sonne ein Heiligtum des Tairach liegt, dann bricht eine Panik aus.«

»Was ist, wenn die Orks mehr als nur einen Tunnel gegraben haben?« Lancorian stellte die Frage, und Marcian hatte fast den Eindruck, als würde der Magier ihn lauernd ansehen.

»Wenn das der Fall ist und die Schwarzpelze dem Heiligtum schon näher sind, als wir vermuten, dann haben uns die Götter verlassen.«

»Welch pathetische Worte.« Lancorian warf Marcian einen vieldeutigen Blick zu. »Was mich angeht, so hast du mein Wort, daß niemand in der Stadt erfahren wird, was hier vor sich geht.« Damit wandte sich der Zauberer um und stieg durch die eingeschlagene Mauer ins Purpurgewölbe zurück, daß einst der exotische Mittelpunkt seines Freudenhauses gewesen war.

Marcian blickte ihm nachdenklich hinterher. Der Tonfall, mit dem der Zauberer die letzten Worte ausgesprochen hatte, verwirrte ihn. War das nur eine Anspielung auf das hinterhältige Versprechen, daß er selber vor Wochen Zerwas gegeben hatte, oder bedeuteten die Worte mehr?

»Noch etwas.« Lancorian hatte seinen Kopf noch einmal durch die Maueröffnung gesteckt. »Diesen Runenstein könnt ihr nun ruhig beiseite räumen. Der Schutzzauber, der einmal auf den Gängen der Orks gelegen hat, ist nun gebrochen. Was immer man damit gefangen halten wollte, kann diese Gewölbe nun verlassen.«

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