Marcian lehnte an der Brüstung des Bergfrieds und blickte über die Stadt. Fast alles war an die Orks verlorengegangen. Nur die Bastionen um den Rondra-Tempel und das Quartier der Stadtwachen wurden noch verteidigt. Schon vor drei Tagen waren die meisten Bürger in die Garnison geflohen, doch obwohl die Festung des Markgrafen Shazar Platz für mehr als dreihundert Soldaten und Bedienstete bot, war sie jetzt hoffnungslos überbelegt. Mehr als tausend Männer und Frauen waren zwischen den Mauern eingepfercht. In der Stadt mochten vielleicht fünfhundert zurückgeblieben sein. Aber sie waren von der Garnison abgeschnitten. Lange würden sie den Orks nicht mehr standhalten.
Darrag führte das Kommando über die Kämpfer beim Rondra-Tempel.
Marcian versuchte zu erkennen, ob die Tempelmauern wieder bestürmt wurden. Doch schienen die Waffen im Moment noch zu ruhen.
Überhaupt war es heute ruhiger als in den letzten drei Tagen. Ganz so als bereiteten die Orks etwas vor. Aber was?
Der Inquisitor ging an den beiden Wachtposten vorbei, um den Fluß hinab zu blicken. Seit Wochen warteten sie auf die Entsatzflotte. Ihre Lebensmittel reichten noch für ein paar Tage. Was sollte er tun, wenn das letzte trockene Brot verteilt war? Einfach aufgeben? Den Bürgern erklären, daß all ihre Verwandten und Freunde vergebens ihr Leben geopfert hatten? Vielleicht würden die Orks Gnade walten lassen, wenn er sich mit den letzten noch lebenden Offizieren stellte.
Doch das war Unsinn. Er brauchte nur auf die Straßen vor dem Tor der Garnison zu blicken, um zu sehen, was mit denen geschah, die den Schwarzpelzen in die Hände fielen. Gepfählt hatten sie die wenigen Gefangenen, die den Kampf in den Straßen der Stadt überlebt hatten. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Sie machten keinen Unterschied mehr. Zu oft hatte er das Angebot abgelehnt, die Stadt zu übergeben. Jetzt würde es keinen ehrenhaften Abzug mehr geben, wie ihn Sharraz Garthai vor Monaten einmal angeboten hatte.
Die Orks wußten, daß sie gewinnen würden, und daß nur ein Wunder ihnen noch den Sieg nehmen konnte. Doch Wunder hatte es bislang für Greifenfurt nicht gegeben.
Mehr als eine Meile konnte er den Fluß hinab sehen, doch es tauchten keine Segel am Horizont auf.
Die Breite begann an den Ufern zuzufrieren. Jeden Tag wurde es kälter. Noch ein paar Frostnächte, und eines Morgens würde der Fluß ganz unter dem Eis verschwunden sein. Dann waren die Wassergräben kein Schutz mehr für die Garnison. Aber so lange würden sie ohnehin nicht mehr zu leben haben.
Marcian wandte sich um, öffnete die schwere Falltür und stieg die Wendeltreppe hinab, um Himgi zu besuchen. Die Therbuniten hatten sich an seinem Bein zu schaffen gemacht und noch ein Stück vom Knochen abgesägt. Danach hatte den Zwergenhauptmann ein schweres Fieber befallen.
Vielleicht sollte er Himgi seine Suppe schenken? Die Rationen der Kranken waren viel zu klein, um sie wieder auf die Beine zu bringen. Immer mehr starben jetzt schon an leichten Verletzungen. Der Hunger, die Krankheiten und dann auch noch eine Wunde, das war zuviel. Aber Himgi sollte leben!
»Warum wirst du mit deiner Arbeit nicht fertig, alter Mann?« Gamba spielte unruhig mit einem Lederriemen und beobachtete den Alchimisten, wie er Pulver mischte und dann in ein Faß mit einer übel stinkenden Flüssigkeit einrührte.
Angstvoll blickte der Alte zu ihm herüber. »Seit Sharraz verschwunden ist, hat niemand mehr mit ihm gesprochen.«
»Dafür bin ich jetzt hier, du feiger Hund. In Zukunft bekommst du deine Befehle von Uigar Kai und von mir. Wir brauchen deine Kunst noch heute nacht. Also, wann wirst du fertig sein?«
Der Mann begann zu zittern. Der Mörser, den er in der Hand gehalten hatte, fiel ihm zu Boden.
»Was ist mit dir?« Gamba verlor langsam die Geduld. Wäre er nicht so wichtig, würde er diesen Promos aus dem Lager jagen.
»Es ... Es ist unmöglich ...« stotterte der Mann. Gamba packte ihn am Kragen. »Warum?« »Ich ... Ich hatte Sharraz gebeten noch ... etwas zu ...«, der Alte begann schnaufend nach Luft zu ringen, und Gamba ließ ihn wieder los. Promos rieb sich den Hals.
»Es fehlt noch etwas. Sharraz wollte es besorgen lassen, aber es ist nie angekommen.«
»Reicht denn nicht, was du schon alles hier hast.« Gamba blickte sich in dem engen Zelt um. Überall stapelten sich Fäßchen mit seltsamen Schriftzeichen. Säcke mit Pulvern und Amphoren, denen ein eigenartiger Duft entstieg, machten es fast unmöglich sich hier noch zu bewegen. Allein der große Holztisch, an dem der Alte arbeitet und ein Lager aus Stroh und schmutzigen Decken waren nicht mit den merkwürdigen Zutaten zugestellt, die in den letzten Wochen aus allen Himmelsrichtungen im Lager eingetroffen waren.
Gamba überlegte, wie er Uigar Kai am besten beibrachte, daß sie die Wunderwaffe noch nicht erhalten würden. Die Flotte der Kaiserlichen hatte es geschafft, die Sperren und Stellungen an der Mündung der Breite zu überwinden. Jetzt kämpften sich die Schiffe den Strom hinauf und waren weniger als einen Tag von der Stadt entfernt.
Greifenfurt war kurz davor zu fallen. Wahrscheinlich würde es schon genügen, wenn man die Ankunft der Flotte noch zwei oder drei Tage hinauszögerte. Aber das einzige Mittel, mit dem sie die Schiffe aufhalten konnten, war die wunderliche Tinktur an der der Alchimist arbeitete. »Was fehlt denn noch?«
»Ich brauche ungereinigtes Ammoniasal. Alles andere ist hier. In den Säkken lagert pulverisierter Schwefel, aus den Quellen bei Gratenfels. In den Fässern da vorne verbirgt sich Salpeter. Fügt man diesen Salzen Wasser hinzu, entsteht eine gefährliche Säure. Dort, in den rot beschrifteten Amphoren habe ich seltene Baumharze von den Waldinseln. In den anderen Amphoren, die trotz der Wachssiegel einen so unangenehmen Geruch verbreiten, ist Terpenoleum abgefüllt. Eine kostbare Substanz, die aus dem Harz von Schwarzkiefern gewonnen wird. Das Terpenoleum ist der Hauptbestandteil des Gemischs, das ich für euch in ungeheurer Menge herstellen soll. Draußen auf einem Karren lagern noch einmal hundert weitere Amphoren. Es ist mir unbegreiflich, wie Sharraz Garthai das Terpenoleum auftreiben und nach hier bringen konnte. Alle anderen Ingredienzien müssen in Öl gelöst werden. Salpeter, Harze und Schwefel. Und alles muß in der richtigen Menge hinzugegeben werden! Doch ohne das Ammoniasal waren all unsere Mühen vergebens.«
Gamba maß den Alten mit mißtrauischen Blicken. Er selber verstand nicht viel von Alchimie. Es würde Promos leichtfallen, ihn zu belügen. Vermutlich ahnte er, was sie mit der kostbaren Waffe, die er ihnen verschaffen sollte, tun würden. Vielleicht wollte er sie nur hinhalten?
»Wie schnell wirst du fertig sein, wenn ich dir dein Ammoniasal verschaffe?«
»Vergiß nicht, daß es eine ungeheure Menge anzumischen gilt. Allein dafür werde ich zwei Tage brauchen.«
Wieder musterte der Druide den Alchimisten. Wenn er lügen sollte, würde sich das bald zeigen. »In dieser Nacht wirst du dein Salz bekommen. Solltest du dann nicht in zwei Tagen deine Arbeit vollendet haben, wird dir Übles widerfahren.«
Gamba wußte nicht, womit der Mann erpreßt wurde, also blieb er mit seiner Drohung bewußt vage. Doch diese Rechnung schien aufzugehen, wie man unter Alchimisten und Astrologen sagte. Der Alte wirkte eingeschüchtert.
»Wir sehen uns diese Nacht!«
Gamba schlug die Plane des Lederzeltes zurück und trat ins Freie. Er brauchte nun Ruhe. Er würde in seinem Zelt versuchen, einen Dämon zu beschwören und ihm auftragen, das ungereinigte Ammoniasal zu beschaffen. Wäre er nur früher zu diesem Alchimisten gegangen! Jetzt wurde die Zeit knapp. Vielleicht sollte er auch noch einmal Arjunoor herbeirufen, damit der Achtgehörnte einen Sturm heraufbeschwor, der die Flotte zwingen würde auf dem Fluß zu ankern oder sogar die Schiffe ans Ufer zu ziehen.
Aber es war gefährlich, sich mit diesem mächtigen Wesen einzulassen. Nur zu gut wußte Gamba, was geschehen konnte, wenn ihm auch nur der kleinste Fehler unterlief. Es reichte schon aus ein einziges Wort in der Beschwörungsformel falsch zu betonen, und der schlangenförmige Dämon mit dem Widderkopf würde ihn vernichten.
Das war auch der Grund, warum er in den letzten Wochen nicht mehr seine besonderen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Dämonologie angewandt hatte. Es war einfach nicht wert gewesen, ein solches Risiko einzugehen, um Sharraz Garthai einen leichten Sieg zu verschaffen.
An diesem Morgen stand Marcian allein auf dem Bergfried. Er hatte die Wachen in den Turm geschickt und wollte seine Ruhe haben. Es war der zehnte Tag des Monats Firun. Ein Tag, der einmal in den Geschichtsbüchern des Kaiserreichs genannt werden würde. Die ganze Nacht über hatte er nicht schlafen können. Immer wieder hatte Marcian sich vorgeworfen, daß es seine Schuld sei, wenn diese Stadt zu Grunde ging. Daß er die Ursache für das hundertfache Sterben gewesen war. Gestern, als er Himgi besuchte, hatte der Zwerg es abgelehnt, von ihm die Suppe anzunehmen. Der Hauptmann war blaß und völlig ausgezehrt gewesen. Er hätte das warme Essen bitter nötig gehabt, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch der einzige Satz, den er in der Stunde gesprochen hatte, die Marcian an seinem Bett ausgeharrte, war: Von dir nehme ich nichts mehr, falscher Freund. Danach hatte sich der Zwerg umgedreht und nur noch die Wand hinter dem Bett angestarrt.
Es war zu Ende. Der Inquisitor blickte in den überfüllten Burghof. Überall brannten Feuer, auf denen armselige Wassersuppen köchelten. Die Leute wichen ihm aus, gleichgültig wohin er kam. Mehr als tausend Menschen umgaben ihn hier, und trotzdem war es, als wäre er allein. Cindira, für die er sein Leben geben würde, war mit Darrag, Gordonius und etlichen anderen in der Schanze beim Rondra-Tempel eingeschlossen.
Wie sehr hätte er in den letzten Stunden ihren Trost gebraucht! Ohne sie war er nicht mehr im Stande sich vorzustellen, was nach diesem Krieg sein würde.
Marcian stützte sich auf die Mauer und blickte im Licht den Fluß hinab. Der Himmel war grau wie geschmolzenes Blei. Unter dem frisch gefallenen Schnee sah die Ruine der Bastion auf der anderen Flußseite fast malerisch aus. Dort waren Rialla, Gernot und all die anderen Rebellen, die er eigentlich begnadigen wollte, direkt unter seinen Augen gestorben, ohne daß er auch nur das geringste hatte tun können, um es zu verhindern. Die Orks hatten erst gestern ihre Truppen dort abgezogen. Vermutlich weil sie jeden Krieger bei dem bevorstehenden Sturmangriff auf die isolierten Widerstandsnester in der Stadt brauchten.
Eine große Schlacht würde das sicherlich nicht geben. Die Schwarzpelze hatten sogar darauf verzichtet, ihre Kriegstrommeln zu schlagen. Wieder blickte Marcian nach Osten. Sein Entschluß stand fest. Sobald die Sonne aufging, würde er zum Lager der Orks gehen. Allein, ohne Begleitung. Er würde eine weiße Fahne tragen und verlangen, Sharraz Garthai zu sprechen.
Für einen Ork hatte er sich bisher ritterlich verhalten. Oft hatte Marcian in den letzten Tagen zu hören bekommen, wie gut es den Bürgern unter der Herrschaft des Generals ergangen war. Nun, sie sollten ihn wiederbekommen.
Marcian drehte sich um und schritt ans andere Ende der Turmplattform, um das Hauptlager der Schwarzröcke zu betrachten, aber durch den trüben Morgendunst konnte er nur das Glimmen einiger Wachfeuer erkennen. Quer durch die verwüstete Stadt mußte er gehen, um zum Zelt des Orkgenerals zu gelangen. Von den prächtigen Bürgerhäusern am Platz der Sonne waren nur noch rußgeschwärzte Ruinen übergeblieben. Allein das Haus, in dem er Lancorian einquartiert hatte, war unversehrt geblieben. Natürlich hatte es der Magier mit seinen exotischen Freunden längst verlassen müssen. Gemeinsam mit Odalbert, Riedmar und Yonsus pflegte er jetzt Verletzte und Kranke. Die bescheidenen magischen Kräfte, die sie besaßen, reichten nicht aus, um in dieser verzweifelten Lage eine Wende herbeizuführen. Sie konnten lediglich den Verwundeten Linderung verschaffen. Auch Lancorian hatte er als Freund verloren, dachte Marcian bitter. Es war an der Zeit allem ein Ende zu machen. Über dem Lager der Orks begann sich der Himmel rot zu färben. Der Inquisitor blickte zu der weißen Fahne, die an der Brustwehr des Turms lehnte. Ein abgebrochener Speerschaft, an den ein zerrissenes Bettuch geknotet war.
Vielleicht würde Sharraz sich damit zufriedengeben, wenn er ihn bekam. Welchen Nutzen brachte es dem Ork schon, alle Bürger umzubringen, die sich hinter die Mauern der Garnison zurückgezogen hatten?
Marcian zog an dem Lederriemen, den er um den Hals trug, und zerrte die Greifenfeder unter seinem Brustpanzer hervor, die ihm Baron Dexter Nemrod vor langen Monaten zum Abschied geschenkt hatte. Mattgoldene Einsprengsel schimmerten auf der braunen Flaumfeder. Dieser so unscheinbare Talisman hatte ihn vor den Angriffen des Vampirs gerettet. Doch auch diese kostbare Reliquie vermochte keine wunderbare Wendung herbeizuführen.
Der Greif war das Symbol der Macht des Kaiserreichs. Auch alle Inquisitoren trugen das Zeichen des Greifen auf ihren Siegelringen. Die mächtigen Fabeltiere standen für Gerechtigkeit und galten als Sendboten des Praios, doch wo waren sie jetzt? Sie würden den Untergang der Stadt bestimmt nicht verhindern. Vielleicht waren die Götter der Orks sogar mächtiger, als Praios und seine Brüder und Schwestern?
Wie konnte er es wagen so etwas zu denken? Das war Ketzerei! Ja, ein anderes Wort gab es dafür nicht. Marcian lächelte bitter. Ein Inquisitor, der sich der Ketzerei ergab. Wie weit war es mit ihm gekommen. Vielleicht war er ja der Grund dafür, daß keine Hilfe eintraf? Vielleicht strafte Praios ihn, weil er seinen Glauben verloren hatte?
Nun, es war vorbei. Er würde seinen Zweifeln und seinem Leben ein Ende setzen. Der Inquisitor griff nach der weißen Fahne und öffnete dann die Falltür, unter der die Treppe zum Turmplateau lag. Der Gedanke bald tot zu sein, war wie eine Befreiung. Alles erschien ihm plötzlich viel leichter. Der Morgenhimmel, die grauen Mauern des Bergfrieds, sogar die in Lumpen gehüllten Gestalten auf dem Hof, alles erstrahlte jetzt, wo er es ein letztes Mal betrachtete, in einer ganz eigenen, fast göttlichen Schönheit. Vom Arsenalturm erklang ein Horn.
Dann war noch ein zweites Horn zu hören und laute Rufe.
Marcian ließ die Falltür wieder los und ging zur Brustwehr. Unten im Hof drängten die Menschen zu den Treppen, die zur Flußmauer führten. Überall auf den Zinnen standen Bürger und Soldaten, die ihre Mützen und Hüte schwenkten und dabei immer ausgelassener schrien.
Die aufgehende Sonne hatte die Dunstschwaden über dem Fluß in ein zartes Licht getaucht, und aus diesem Leuchten aus Rot und Gold tauchten Segel auf. Erst eines, dann zwei und dann waren mehr als ein Dutzend zu sehen.
Der Prinz hatte doch noch Wort gehalten. Der Entsatz rückte an. Es war geschafft! Die Belagerung war zu Ende.
Marcian fiel auf die Knie und betete zu Praios. Der Gott hatte ihn in der Stunde der größten Verzweiflung erhört! Es konnte kein Zufall sein, daß die Schiffe genau in diesem Augenblick erschienen waren. Jetzt, wo die Morgensonne das Land in die Farben des Praios tauchte. Fast konnte man meinen, die Flußkähne kämen direkt aus himmlischen Sphären, bemannt mit Sendboten des Gottes, um die finsteren Scharen des Sharraz Garthai zu vertreiben.
Im Burghof hatten einzelne Soldaten angefangen den Choral »O Praios, du Licht der Gerechtigkeit« zu singen. Immer mehr Menschen fielen ein, und immer lauter erklang der Lobgesang zum Himmel.
Marcian hatte sich wieder erhoben und blickte vom Turm herab. Was für ein Bild. Hunderte von Soldaten und Bürger drängten sich jetzt auf den Zinnen. Fast alle waren in schmutzige Lumpen gekleidet und von der monatelangen Belagerung ausgezehrt. Viele mußten einander stützen, weil sie zu schwach waren, sich noch aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten, und doch wirkten sie im Morgenlicht feierlicher, als selbst die prächtige Tempelgarde in der Stadt des Lichtes.
Marcian hob die weiße Fahne auf und schleuderte sie in weitem Bogen in den Fluß. Endlich, endlich war alles vorbei.
Die Orks hatten gar nicht erst versucht, ihre Stellungen in der Stadt gegen die frischen Truppen zu verteidigen, die mit der Flotte gekommen waren. Kampflos zogen sie in ihre Lager zurück, und in Greifenfurt begann ein dreitägiges Fest. Überall wurde Fleisch auf den Straßen gebraten, und wohin man auch kam, roch es nach frischem Brot. Zum ersten Mal seit mehr als anderthalb Jahren waren auch wieder Priester in der Stadt. In Scharen strömten die Menschen in die Tempel, um den Göttern zu danken und den Worten der Geweihten zu lauschen.
Überall auf den Stadtmauern waren bunte Fahnen aufgesteckt worden. In den Straßen drängten sich Hunderte neuer Soldaten, ganze Regimenter aus dem Süden des Kaiserreichs, die noch in keiner Schlacht gegen die Schwarzpelze gestanden hatten, aber auch zusammengewürfelte Haufen aus Abenteurern, die dem Ruf zur Befreiung Greifenfurts gefolgt und aus allen Himmelsrichtungen nach Ferdok gekommen waren, um sich der Armee des Prinzen anzuschließen.
Die Flotte war viel zu groß gewesen, um im Hafen der Stadt Platz zu finden. Etliche Schiffe waren unter den Mauern der Garnison vertäut worden oder hatten in der Mitte des Flusses Anker geworfen. Überall waren Bordwachen zurückgelassen, und die Hornissen, mit denen man selbst den kleinsten Kahn der Flotte bestückt hatte, waren drohend auf die Stellungen der Orks gerichtet.
Doch die Schwarzröcke verhielten sich ruhig. Am Morgen des dritten Tages konnte man sogar beobachten, wie Wagen mit Fässern und Säcken das Hauptlager östlich der Stadt verließen und gen Norden fuhren. Manche sahen darin das erste Zeichen zur Aufgabe. Nicht mehr die Menschen waren es, die nun einen Angriff fürchten mußten. Mit Hilfe der frischen Truppen mochte es vielleicht gelingen, die Orks aus ihren Stellungen zu vertreiben. Trotz all dieser guten Aussichten herrschte unter den Offizieren, und den neuen Hochgeweihten der Tempel, die sich am späten Nachmittag desselben Tages im großen Saal des Palas versammelt hatten, eine gedrückte Stimmung.
»Wir werden spätestens übermorgen die Stadt verlassen müssen. Länger kann der Prinz mit den Truppen, die er zurückbehalten hat, die Landzunge an der Mündung der Breite nicht verteidigen. Vermutlich haben die Orks eine erdrückende Übermacht, und wenn es ihnen gelingt, den Fluß zu überschreiten, sitzen der Prinz und seine Ritter in der Falle.« Admiral Sanin war noch immer von seinen Verletzungen geschwächt und hatte sich, während er sprach, nicht von seinem Platz erhoben.
Eigens für diese Versammlung waren entlang der Wände des Ratssaals Stühle aufgestellt worden.
»Ich plädiere dafür, alle Verwundeten sowie Kinder und Greise aus der Stadt schaffen zu lassen. Wir wissen nicht, ob wir in den nächsten Tagen den Ring der Belagerung brechen können. Bislang gibt es jedenfalls keine sichere Versorgungslinie bis zum befreiten Reichsgebiet. Das heißt, es mag noch eine Weile dauern, bis die Belagerung tatsächlich zu Ende ist. Solange können wir es uns nicht leisten, unnütze Esser zu unterhalten. Um die Kranken und Schwachen kann man sich ohnehin besser in Ferdok kümmern.«
Die Rede des Hochgeweihten Anshelm wurde mit zustimmendem Raunen quittiert. Der kleine, untersetzte Mann hatte sich, nachdem der Flotte der Durchbruch durch die Flußsperre gelungen war, gemeinsam mit einigen anderen Geweihten und Offizieren in einem kleinen Ruderboot zu den gepanzerten Schiffen bringen lassen, die die Nachhut des Konvois bildeten. Marcian paßte diese Wendung der Dinge gar nicht. Jedermann in der Stadt glaubte, der Krieg sei endlich vorbei und es könne nicht mehr lange dauern, bis die Orks ihr Lager aufgaben. Cindira, die neben ihm saß, flüsterte, daß er es nicht zulassen dürfe, daß die Bürger, die so lange tapfer gekämpft hatten, nun von den Soldaten des Prinzen aus ihrer Stadt vertrieben wurden. Anshelm redete noch immer, doch Marcian hörte ihm nicht mehr zu. Mit dem Eintreffen der Flotte hatten sich die Machtverhältnisse in der Stadt verändert. Wenn Großadmiral Rateral Sanin, Markgraf zu Windhag, anführte, auf direkten Befehl des Prinzen zu handeln, dann durfte der Inquisitor ihm nicht widersprechen, auch wenn er durch eine kaiserliche Urkunde zum Befehlshaber Greifenfurts bis zur Befreiung bestimmt war. Würde man diese Formulierung spitzfindig auslegen, konnte man ihm schon jetzt die Befehlsgewalt streitig machen. Schließlich hatten sich die Orks zurückgezogen, und es sah nicht so aus, als würden sie noch einmal zu einer ernsthaften Gefahr werden.
Viel bedrohlicher erschien Marcian dieser Anshelm, der das Amt eines Hochgeweihten in Greifenfurt bekleiden sollte. Damit wäre Anshelm ihm an Macht gleichgestellt, ja, mochte ihn vielleicht sogar übertreffen, wenn er geschickt genug war. Sollte der Hochgeweihte intelligent genug sein, in der Stadt Erkundigungen über die vergangenen Monate einzuziehen, dann hätte Marcian wohl mit einem Inquisitionsprozeß zu rechnen, bei dem er der Ketzerei angeklagt würde.
Zum Glück wissen nur seine Agenten um die wirkliche Natur von Zerwas, dachte der Inquisitor. In der Stadt galt dieser Dämon noch immer als heldenhafter Verteidiger und vor allem als Sterblicher. Wenn Anshelm allerdings jemals herausfand, daß er gezwungen war, einen Pakt mit einem Vampir einzugehen, dann war sein Schicksal der Scheiterhaufen.
Marcian stützte sein Kinn auf die Hand und brütete finster vor sich hin. Er mußte die Wünsche der neuen Machthaber erfüllen. So mochte er vielleicht hinauszögern, daß sie nach Möglichkeiten suchten, ihn gänzlich aus seinen Ämtern zu entheben. Am liebsten würde er mit Cindira auf einem der Flußschiffe die Stadt verlassen. Doch er konnte nicht gehen. Er mußte darauf warten, daß er offiziell von seinen Aufgaben entbunden wurde. Sollte er von sich aus die Macht abgeben, würde man Nachforschungen anstellen. Niemand gab ohne Grund eine Machtposition auf!
Hoffentlich war der Krieg schnell zu Ende. Er war es müde, harte Entscheidungen zu treffen, und je länger er in der Nähe von Anshelm blieb, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, daß ihn ein übles Schicksal ereilte. Fast war es lächerlich. Eine Komödie wie von einem dieser überdrehten Theaterleute aus dem Lieblichen Feld.
Er, Marcian, hatte seine erste Liebe geopfert, um der Inquisition treu zu dienen. Und nun war er selber auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Er hatte sein Schicksal nur um einige Jahre verzögert. Hätte er sich für Jorinde entschieden, hätte er schon damals auf den Scheiterhaufen steigen müssen. Vielleicht wäre das der bessere Weg gewesen? Zumindest hätte er ehrlicher gehandelt. Und war das nicht eine der obersten Verpflichtungen eines Inquisitors? Ehrlichkeit. Doch das Leben war zu kompliziert, um immer den graden Weg zu gehen. Es zwang einen zu Kompromissen und ...
»Wie steht Ihr dazu?« Anshelm blickte Marcian erwartungsvoll an, und auch alle anderen Augen ruhten auf ihm.
»Er will, daß du den Befehl zur Evakuierung gibst«, flüsterte Cindira ihm zu. »Sie möchten aus der Stadt eine große Garnison machen, bis der Krieg entschieden ist, und beharren darauf, daß alle Bürger gehen müssen, die nicht mehr zur Verteidigung beitragen können.«
»Mir scheint, der Herr Kommandant und Inquisitor war ein wenig abwesend.« Anshelm betrachtete ihn lauernd. Im Saal wurde es lauter. Die Bürger, die militärische Ämter bekleideten, begannen aufgeregt miteinander zu tuscheln.
»Oh, sollte ich hier etwa ein Geheimnis aufgedeckt haben? War denn nicht bekannt, daß Marcian nicht allein in Diensten des Prinzen steht, sondern auch das Amt eines Inquisitors bekleidet und zu den Vertrauten des Barons Dexter Nemrod zählt?« Der Hochgeweihte verbeugte sich tief. »Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich hier unwissentlich ein Geheimnis enthüllt habe.«
Marcian schäumte innerlich vor Wut. Hätte er nur schon früher eingelenkt! Was mochte wohl noch alles kommen? Er mußte diesem hinterhältigen Spiel ein Ende setzen, und dazu gab es nur einen Weg.
»Nun, Erhabener, Ihr habt nur meinen eigenen Absichten vorausgegriffen, was die Aufdeckung dieses Amtes angeht. Da die Stadt offensichtlich friedlicheren Zeiten entgegengeht, ist eine Geheimhaltung meiner Ämter nicht mehr notwendig. Was aber die Evakuierung angeht, so bin ich nach reiflicher Überlegung Eurer Ansicht. Wenn es den Orks tatsächlich auch weiterhin gelingen sollte, die Belagerung aufrecht zu halten, dann ist es besser, wenn alle Schwachen und Verwundeten sich an einem sicheren Ort von den Strapazen der letzten Monate erholen können. Mir ist nur noch nicht ganz klar, wann es am geschicktesten ist, die Bürger darüber in Kenntnis zu setzen.«
»Natürlich umgehend!« Sanin spielte nervös mit den Fingern an den Armlehnen seines Stuhles. »Es wird mit jedem Tag kälter. Vielleicht friert der Fluß zu. Wenn die Flotte dann immer noch vor der Stadt liegt, brauchen die verdammten Schwarzpelze nur über das Eis spazieren, um sich ein Schiff nach dem anderen zu nehmen. Man stelle sich das einmal vor! Eine Flotte von Infanteristen überrannt! Ich möchte am liebsten schon morgen die Anker lichten. Alle Ladung ist gelöscht, und so schwer kann es ja nicht sein, ein paar Zivilisten einzuschiffen.«
»Gut, ich werde alles in die Wege leiten. Ich denke, damit ist es dann auch an der Zeit auseinanderzugehen.« Marcian blickte in die Runde. Einige der Männer und Frauen musterten ihn auf unangenehme Weise. Das war wirklich geschickt von Anshelm gewesen, ihn als Inquisitor zu entlarven. Die Bürger würden sich jetzt vielleicht auf Seiten des Geweihten schlagen. Aber woher konnte dieser kleine, so harmlos aussehende Mann wissen, daß er ein Inquisitor war? Käme Anshelm im Auftrag des Barons Dexter Nemrod, hätte er ihn mit Sicherheit nicht auf diese Weise entlarvt. Zumindest stand jetzt fest, daß es zwischen ihnen beiden zu einem Machtkampf kommen würde.
Marcian war allein in seinem Turmgemach. Cindira besuchte die kleine Tochter von Darrag, um sich von ihr zu. verabschieden. Sie würde morgen zusammen mit allen anderen Kindern die Stadt verlassen.
Der Beschluß zur Evakuierung hatte für einigen Ärger gesorgt, ganz wie er es vorausgesehen hatte. Die Greifenfurter mochten nicht einsehen, warum sie nun in der Stunde der Rettung gehen sollten. Wieder einmal verfluchten sie ihn. Marcian, der grausame Tyrann, hieß es überall. Auch daß er Inquisitor war, schien schon die Runde gemacht zu haben. Nur darüber, daß er zunächst gegen die Ausweisung gewesen war, darüber sprach keiner. So war das Leben. Die Menschen kannten keine Gerechtigkeit. Allein Praios wußte um das, was in ihm vorging und was eigentlich seine Absicht war. Doch vielleicht hatte der Gott sich schon lange von ihm abgewandt? Verwunderlich wäre es nicht. Kannte Praios jede Intrige und jeden Verrat. Marcian ließ den Kopf sinken. Er hatte immer nur das Beste gewollt, und doch verstrickte er sich immer tiefer in eine Schuld, die er nicht tragen mochte. Jetzt hatte er auch noch die Evakuierung aller Kranken, Gebrechlichen und Kinder angeordnet. Müttern stand es frei, ebenfalls zu gehen, um bei ihren Kindern zu sein. Doch jedem Mann, der noch eine Waffe tragen konnte, war es verboten, die Stadt zu verlassen.
Vielleicht rettete er so auch viele Leben. Das war der einzige Gedanke, der ihm im Augenblick Trost spendete. Sollten die Kämpfe um Greifenfurt noch einmal aufflammen, dann wären zumindest alle in Sicherheit, die morgen die Stadt verlassen würden.
Es klopfte. Marcian setzte sich aufrecht in den hohen Lehnstuhl und wartete. Zu seiner Überraschung trat Anshelm ein, der Mann, den er am wenigsten zu sehen wünschte.
»Was wollt Ihr, Erhabener?«
»Es ist mir unangenehm, Euch bei Eurer wohl verdienten Ruhe zu stören, nachdem Ihr eine so harte Maßnahme durchführen mußtet, aber ich habe ein sehr dringliches Anliegen.« Die Ironie in Anshelms Worten war unüberhörbar.
»Sprecht«, entgegnete Marcian kurz angebunden.
»Mir sind Dinge über Eure Gefährtin zu Ohren gekommen, die ich einfach nicht glauben kann. Da sie neben Euch an erhöhter Stelle sitzt, muß sie doch wohl von Adel sein, auch wenn sie nur eine Südländerin ist. Doch wißt Ihr, was man sich unter den Bürgern über sie erzählt? Ich vermag es kaum über mich zu bringen, diese verleumderischen Worte in den Mund zu nehmen.«
Marcian war sich nicht sicher, ob das nur ein Spiel des Hochgeweihten war oder ob er ernsthaft meinte, was er sagte.
»Ihr werdet Euch wohl Gewalt antun müssen und mir genauer erklären, was Ihr meint.«
»Nun ...« Anshelm zögerte einen Moment. »Die Bürger behaupten, Cindira sei eine Hure. Man sagt, sie habe sich für Geld in dem Etablissement eines gewissen Lancorian hingegeben, und angeblich hat sie sogar Unzucht mit den orkischen Besatzern getrieben. Wie kommt es, daß man so übel von ihr spricht? Und warum duldet Ihr das? Schließlich wird damit auch Euer Ansehen beschmutzt.«
»Es steht mir nicht zu, gegen die Wahrheit anzureden. Cindira hat tatsächlich in der Fuchshöhle gearbeitet.«
Für einen Moment schien Anshelm fassungslos. Dann brach es aus ihm heraus. »Wie ist es möglich, daß sich ein Mann Eures Ansehens mit einer Dirne abgibt. Ihr beschmutzt damit nicht nur Euch selber, sondern die ganze Geweihtenschaft. Nun wundert es mich nicht mehr, wenn Praios sein Antlitz von Greifenfurt abgewandt hat. Wie konntet Ihr so etwas tun? Wie kann man so pflichtvergessen sein?«
Der Geweihte steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein. »Am liebsten würde ich Euch auf der Stelle verhaften lassen, Marcian. Wenn diese Schande ruchbar wird, wird man Euch in Gareth den Prozeß machen. Meiner Meinung nach gehört Ihr für den Rest Eures Lebens in eine Gebetzelle gesperrt, damit Ihr Zeit habt, über Gottesfurcht nachzudenken. Ist Euch denn niemals bewußt gewesen, was Ihr da tut?«
»Ich liebe Cindira und handelte nach meinem Gefühl. Für mich ist es nicht ehrenrührig, mit der Frau zu leben, der mein Herz gehört.«
»Ihr sprecht mit der Zunge von Dämonen, Bruder Marcian. Ihr wißt nicht, was Ihr da sagt. Natürlich ist gegen die Liebe im Grunde nichts einzuwenden, auch wenn es mir fraglich erscheint, ob die Liebe zu Praios es erlaubt, mit einer Sterblichen geteilt zu werden. Sollte doch alle Hingabe des Geweihten seinem Amt dienen.«
»In diesem Punkt laßt Euch belehren, Anshelm. Auch wenn ich Inquisitor bin, so habe ich doch niemals das Amt eines Geweihten bekleidet.«
»Sehr ungewöhnlich ...« Der Hochgeweihte hatte den Kopf leicht schief gelegt und musterte Marcian. »Trotzdem halte ich es für schädlich, wenn Ihr bei einer Frau liegt, die sich diesen Tieren hingegeben hat. Findet Ihr das nicht auch abstoßend? Allein die Vorstellung, daß sich eine Frau freiwillig mit einem Ork einlassen könnte, erscheint mir ungeheuerlich.«
»Es sind noch weitaus ungeheuerlichere Dinge in dieser Stadt geschehen...«
»Lenkt nicht ab, Marcian. Ich muß Euch sagen, daß ich über diese Enthüllungen zutiefst erschüttert bin. Meine Pflicht als Hochgeweihter der Stadt ist es, alle Verstöße gegen Sitte oder Natur strengstens zu ahnden. Nur so läßt sich die Moral der Bürger wieder herstellen. Wäre Frieden, würde ich Euch von meinen Tempelgardisten verhaften lassen und gemeinsam mit Eurer Buhle in Ketten nach Gareth schaffen, doch in Anbetracht Eurer besonderen Lage werde ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Sorgt dafür, daß diese Cindira die Stadt verläßt, und wir werden diese Angelegenheit zumindest so lange ruhen lassen, bis Frieden herrscht.«
Einen Moment lang war Marcian versucht, nach seinem Schwert zu greifen. Was bildete sich dieser feiste, kleine Mann eigentlich ein? Was wußte er schon vom Krieg? Wahrscheinlich hatte dieser Anshelm bislang kaum die schützenden Mauern seines Tempels verlassen. Warum sollte er sich ihm fügen?
Doch wer würde ihm folgen, wenn er gegen den neuen Hochgeweihten aufbegehrte? Die Truppen, die mit den Schiffen gekommen waren, bestimmt nicht, und auch die Städter würden nicht auf seiner Seite stehen.
»Begreift Ihr nicht, was für ein großmütiges Angebot ich Euch mache?«
Anshelm stand jetzt unmittelbar vor ihm. Kleine Tröpfchen Speichel trafen den Inquisitor ins Gesicht, während sich der Hochgeweihte ereiferte. »Schickt sie fort! Nur dann kann ich Euch beiden den Prozeß ersparen. Wenn sie nicht mehr aufzufinden ist, könnt nur Ihr ganz allein angeklagt werden, Marcian. Ich respektiere, was Ihr hierin den vergangenen Monaten geleistet habt. Kaum ein anderer hätte die Stadt so lange gegen die Orks halten können. Aber jetzt seid klug! Wenn Ihr diese Frau tatsächlich so sehr liebt, wie Ihr sagt, dann schickt sie fort. Nur so könnt Ihr wenigstens sie retten.«
Es war, als sei alle Kraft aus seinen Gliedern gewichen. Marcian konnte nicht mehr kämpfen. Anshelm hatte recht! Wenn der Hochgeweihte wirklich die Verbindung zwischen ihm und Cindira in Gareth zur Anklage bringen würde, dann stand das Urteil schon jetzt fest. Er mußte sich fügen. Seine Geliebte zu retten war der letzte Sieg, den er in diesem Krieg noch erringen konnte.
»Warum kämpfst du nicht um mich? Ich hatte gedacht, daß du mich liebst.«
Cindira standen die Tränen in den Augen. Sie konnte kaum fassen, was er ihr gesagt hatte.
»Ich muß dich opfern, weil ich dich liebe, begreifst du das denn nicht?«
Wie sollte er sie mit Argumenten überzeugen, die für ihn selber schal klangen? Marcian war verzweifelt. Ohne Cindira wollte er nicht mehr leben. Aber es ging nicht allein um ihn. Er durfte nicht auch noch sie ins Unglück stürzen.
»Was ist so falsch daran, wenn ein Inquisitor eine Frau liebt? Verlangt es dein Amt, daß du keine Liebe kennst?«
»Das ist nicht verboten, aber ...« Marcian wußte nicht, wie er ihr erklären sollte, was Anshelm ihm vorgehalten hatte, ohne sie zutiefst zu verletzen.
»Bin ich denn eine schlechtere Frau als irgendein Bürgermädchen?«
»Nein ... Bitte, glaube nicht, daß ich das denke, aber ...«
»Wie kannst du dann zulassen, daß dieser Hochgeweihte mich aus der Stadt treibt?«
»Wenn du nicht gehst, wird er dich in Ketten legen lassen. Was glaubst du denn, was er mit dir machen läßt? Sobald Frieden ist, wird er dich nach Gareth schaffen lassen. Dort habe ich viele Feinde, die nur auf eine solche Gelegenheit warten. Wenn man dich erst einmal der hochnotpeinlichen Befragung unterzieht, wirst du denen alles erzählen, was sie hören wollen.«
»Du meinst, ich werde gefoltert? Warum?«
»Weil sie dich zu dem Werkzeug machen wollen, mit dem sie mich vernichten. Selbst wenn das nicht in der Absicht von Anshelm liegt. Bist du erst einmal in den Verliesen der Inquisition, ist unser beider Schicksal besiegelt.«
Cindira blickte ihn fassungslos an. »Ich kann verstehen, daß man dich aus den Reihen der Inquisition verstoßen wird, weil dein Umgang mit mir nicht dem Bild eines Inquisitors entspricht. Aber was habe ich getan, daß man uns beide mit dem Tod bedroht?«
Marcian nahm sie in die Arme und streichelte ihr sanft durchs Haar. Nur mühsam gelang es ihm die Fassung zu bewahren. »Gar nichts hast du getan. Aber man wird dir vorwerfen, daß du dich mit den Orks eingelassen hast. Sie werden behaupten, daß du eine Spionin der Schwarzpelze seist. Vielleicht wird man auch sagen, daß du vom Liebesdämon Laraan besessen bist, weil keine menschliche Frau sich freiwillig einem Ork hingeben würde. Auch in diesem Fall wird unser beider Urteil der Tod sein, denn ein Inquisitor, der sich einer von Dämonen Besessenen hingegeben hat, ist untragbar.«
»Aber das ist doch alles nicht wahr. Das weißt du doch!« Cindira klammerte sich an ihn.
»Natürlich weiß ich das ... Aber sie werden dich mißbrauchen, um mich zu vernichten. Glaub mir!«
»Und wenn ich stark bleibe und alles leugne. Müssen sie mich dann nicht gehen lassen?«
Marcian lächelte zynisch. »Nein. Dann werden sie sagen, daß nur eine Besessene so stark sein kann, der Folter zu widerstehen, und du wirst dennoch sterben.«
Cindira begann zu schluchzen. »Ich will dich nicht verlieren ...« Ihre Hände verkrampften sich.
»Du wirst mich nicht verlieren! Verlaß die Stadt und geh nach Süden. Ich werde dich wiederfinden, wenn das hier alles vorbei ist. Man hat mich gelehrt, Leute und Dinge zu finden, die nicht gefunden werden wollen. Wie leicht wird es mir dann erst fallen, die Spur meiner Geliebten aufzunehmen.«
»Ich habe Angst. Ich will dich nicht verlassen. Ich habe das Gefühl, daß wir beide uns nie Wiedersehen werden, wenn ich der Stadt den Rücken kehre.«
»Du brauchst dich nicht zu fürchten.« Marcians Hände glitten über ihre langen Haare. »Ich werde meinen Dienst bei der Inquisition aufgeben.«
»Du lügst!« Cindira stieß ihn von sich.
»Nein! Glaub mir. Ich werde den Greifenring ablegen und nur noch für dich da sein.«
»Du weißt, daß sie dich nicht gehen lassen. Wenn sie deinen Kopf fallen sehen wollen, dann wirst du ihnen nicht entkommen. Du lügst, damit ich mich rette.«
»Vertrau mir ...« Marcian hatte ihre Hand gegriffen. »Ich schwöre dir bei Praios, daß ich für dich zum Verräter werde. Bevor nicht die letzte Schlacht geschlagen ist, wird man mir nichts tun. Ich werde im Schlachtgetümmel fliehen. Man wird mich dann für tot halten ...«
»Wirklich?« Cindira standen noch immer Tränen in den Augen.
Statt einer Antwort küßte er sie. »Laß uns diese Nacht nicht streiten. Wir werden uns so lange nicht mehr sehen.«
»Mach das Feuer im Kamin an. Mir ist kalt, ganz so, als spürte ich den eisigen Atem Borons.«
»Was redest du für einen Unsinn!« Marcian warf einige Scheite in die Glut, doch wurde es kaum wärmer in dem großen Turmzimmer.
Als er sich umdrehte, konnte er sehen wie Cindira betete. Sie bemerkte seinen Blick, erhob sich und schaute ihn traurig an. Dann ließ sie ihr Kleid zu Boden gleiten und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm!«