13

Arthag hatte den ganzen Abend getrunken. Er verstand nicht, was in der Stadt vor sich ging. Warum wurden die Bürger gegen ihren Willen fortgebracht? Warum riß man Familien auseinander?

Überall hörte er, wie Marcians Name verflucht wurde. Warum mußte das geschehen? Hatten sie denn nicht gewonnen? Die Orks hatten sich doch aus der eroberten Stadt zurückgezogen, ohne daß es auch nur einen Schwertstreichs bedurft hätte. Was konnte denn dieser jämmerliche Haufen vor den Stadttoren noch tun?

Arthag wollte Antwort auf diese Fragen, und er wußte auch, wo er sie bekommen würde. Seit der Nacht vor Nyrillas Tod war er nicht mehr bei ihm gewesen. Als der Platz in der Burg so knapp wurde, daß man selbst in den Kerkern Flüchtlinge untergebracht hatte, war Uriens in eine kleine Kammer im Frauenturm geschafft worden. Angeblich schlief er tagelang, um in wachem Zustand zu schreien, als seien ihm Dämonen auf den Fersen.

Der Zwerg blieb stehen und lauschte. Nichts rührte sich auf der Treppe im Turm. Die Kammer, in der Uriens gefangen war, hatte man mit einem schweren Balken verriegelt. Dafür gab es kein Schloß. Niemand war so verrückt, sich freiwillig mit dem Wahnsinnigen einzulassen. Wozu hätte man da ein Schloß gebraucht?

Arthag kam das sehr entgegen. Mühelos stemmte er den schweren Schließbalken beiseite. Dann hob er den tönernen Krug auf, den er mitgebracht hatte. Seit die Befreier in der Stadt waren, gab es wenigstens wieder etwas zu trinken. Der starke Wein würde ihm jetzt zugute kommen. So wollte er die Zunge des Propheten lösen. Arthag horchte. Aber es war nicht das geringste in der Turmkammer zu hören. Dann öffnete er die Tür einen Spalt breit und schlüpfte hinein.

Uriens lag zusammengekauert in einem kleinen Bett. Es stank. In der Ecke stand ein Kübel, auf dem er wohl erst vor kurzem seine Notdurft verrichtet hatte.

Arthag trat vor und schüttelte den Wahnsinnigen sanft.

Uriens stöhnte. Dann drehte er sich um und blickte den Zwerge mit leeren Augen an.

»Was ...« murmelte er leise.

»Trink!« Arthag drückte dem Verrückten den Weinkrug in die Hände. Ohne weitere Fragen setzte er den Krug an die Lippen und nahm einen langen Zug. Dann gab er ihn dem Zwerg zurück.

»Na, das war doch wohl noch nicht alles«, brummte Arthag.

»Nicht trinken ... Will nichts sehen ...« Uriens streckte seine Hände weit von sich und zog eine Grimasse.

»Du bist doch ein Mann, oder? So’n guter Wein hat noch keinem geschadet.« Der Zwerg kletterte auf das Bett und packte den Uriens.

»Böse Bilder ... jagen mich ... machen mich tot.« Uriens begann mit Händen und Füßen zu strampeln, und es kostete Arthag alle Kraft, ihn festzuhalten und ihm den Krug wieder an den Mund zu setzen.

»Nicht ...« Die Stimme des Irren klang halb erstickt. »Bitte ...«

»Unsinn. Das tut doch nicht weh.« Arthag war ein wenig schwindelig. Er hatte an diesem Abend mehr als nur einen Krug Wein getrunken, und jetzt wollte er wissen, was die Zukunft brachte. Wollte wissen, was in dieser Stadt vor sich ging und warum man sich trotz des eindeutigen Sieges so verhielt, als sei jede Stunde mit einem neuen Angriff der Orks zu rechnen. Ihm reichte dieser Krieg. Er hatte ihn schon zu viel gekostet. Arthag wollte nur noch, daß ihm jemand sagte, daß Frieden sei. Dann würde er den verdammten Greifenring zurückgeben und nie mehr etwas mit Menschen zu schaffen haben.

»Trink.«

Uriens leistete fast keinen Widerstand mehr. Der schwere Wein floß aus den Mundwinkeln in Sturzbächen über seine Brust. Erst als der Krug geleert war, gab sich Arthag zufrieden. Er ließ den Propheten los, der kraftlos zurücksank. Unartikulierte Laute kamen über seine Lippen. Ein Flüstern, wie von weit her.

Der Zwerg hatte das unbestimmte Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Es schien kälter zu werden in der kleinen Kammer. Am liebsten würde er weglaufen, doch seine kurzen Beine gehorchten ihm nicht mehr.

Nein, er mußte nun durchstehen, was er begonnen hatte. »Was wird die Zukunft bringen?« fragte er mit zitternder Stimme. »Wann wird Frieden sein?«

Es war totenstill in der Kammer. Nur das Heulen des Windes um die Turmspitzen der Garnison war zu hören. Und dann mischte sich langsam ein anderer Ton dazu. Wie fernes Donnern. Ja, es klang wie Schnee, der von den Bergen stürzt und alles zerschmettert.

Unruhig blickte sich Arthag um. Was mochte der Quell dieses unheimlichen Geräuschs sein? Er war ganz allein mit Uriens. Der Irre hatte den Mund weit aufgerissen und verharrte bewegungslos auf seinem Bett. Sollte es der Rausch sein, der ihn narrte? Hatte er zuviel getrunken? Arthag fühlte sich immer unwohler.

»Vor dem Eis kommt das Feuer

und wird des Schiffers Heuer.«

Uriens hatte gesprochen, ohne die Lippen zu bewegen. Dem Zwerg kam es fast so vor, als sei der weit geöffnete Mund des verstümmelten Mannes wie der Eingang einer Grotte, aus deren Tiefe eine Stimme erklang. War es vielleicht gar Satinav selbst, der zu ihm sprach? Der verfluchte Frevler und Herr der Zeit.

»Was wird mit uns geschehen? Wann kehre ich in die Koschberge zurück? Wann wird endlich wieder Frieden sein?«

Statt einer Antwort wurde das Donnergrollen lauter. Er mußte der Ungewißheit entrinnen, oder er würde wahnsinnig werden!

Arthag packte den blinden Propheten am Kragen und schüttelte ihn. »Sprich! Antworte mir. Du weißt, was sein wird. Öffne dein inneres Auge, sieh in die Zukunft. Führe mich ...«

Ein Zittern durchlief Uriens. Mit einer Kraft, die er dem gebrechlichen Mann nicht zugetraut hätte, stieß er den Zwerg vom Bett. Dann umklammerte der Prophet mit beiden Händen seinen Kopf.

»Nein ...« Der Schrei ließ die Kammer erbeben. Das Gesicht des Wahnsinnigen war zu einer Grimasse des Schreckens geworden. Wieder schrie er mit gellender Stimme. »Weicht von mir! Ich will nicht sehen ... Geh weg, Verdammter.«

Dann änderte die Stimme des Propheten ihre Tonlage, und wieder klang es, als spräche jemand in weiter Ferne. Arthag hatte die Vision einer lichtlosen, riesigen Grotte, tief in Sumus Leib. Das Bild eines Schiffes verschwamm mit dem Dunkel der Höhle.

»Sieh die Zeichen, dessen, der kommt von Osten!

Wehe, wenn das Vergangene nach der Zukunft greift,

denn höre, finster ist das, was im Finstren reift.

Und ...«

Die Stimme war immer lauter geworden, wie das Tosen eines Sturmwindes klang sie jetzt in Arthags Ohren, um plötzlich abzubrechen, so, als habe jemand die Pforten geschlossen, aus denen ein Wissen emporquoll, das noch hinter den Schleiern der Zukunft verborgen bleiben sollte. Statt dessen tanzten nun Runen vor Arthags Augen. Verschlungene Schriftzeichen, an die er sich vage erinnerte. Er hatte sie in Xorlosch gesehen. Es waren Runen, deren Bedeutung er nicht verstanden hatte.

Jetzt schienen sie ihm mit einem unheimlichen Leben erfüllt zu sein. Wie kleine Dämonen tanzten sie vor seinen Augen, versuchten seinen Verstand auf einen Weg zu locken, den er nicht beschreiten durfte. Dazwischen erschien unscharf das Bild von Uriens, der immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlug.

»Laß mich nicht sehen! Verschließe das Auge ...« rief der Prophet, und seine Stimme verklang zu schrillem Geschrei.

Und wieder tanzten die Runen vor Arthags Augen. Diesmal schien sie eine kleine Gestalt anzuführen. Eine Figur, die ihre Hände hoch über den Kopf erhoben hatte und in blutroter Farbe gemalt war. Er mußte sie fangen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.


Alrik blickte gedankenverloren auf die Schiffe, die sich unter ihm sanft in der Strömung der Breite wiegten. Andra lag in seiner Kammer und schlief, doch er konnte in dieser Nacht keine Ruhe finden. Was war nur mit der Stadt geschehen? Ihm schien es, als habe ein unseliger Geist von Greifenfurt Besitz ergriffen. Ob das damit zusammenhängen mochte, daß Marcian die versiegelte Kultkammer tief unter der Stadt hatte öffnen lassen? Der Anblick der Bürger, die jetzt Glombo Brohm folgten, hatte den jungen Offizier erschreckt. Selbst jetzt, wo wieder reichlich Lebensmittel vorhanden waren, lehnten sie es ab, mehr als nur das Nötigste zu essen. Und statt Wein tranken sie das eisige Wasser des Flusses. Noch immer zogen sie Tag für Tag in nie enden wollender Prozession durch die Stadt und riefen den Namen des Praios. Ihre nackten Rücken waren zerfurcht von den Wunden, die sie sich selbst geschlagen hatten, und ihre Kleider waren klebrig vom Blut. Waren sie in den Händen von Tairach? Hatte der Blutgott sie zu dieser bizarren Form von Frömmigkeit verführt?

Ein Schrei schreckte Alrik aus seinen Gedanken auf. Unten im Hof konnte er Wachen auf einen der Ecktürme zurennen sehen. Ein Überfall?

Alrik riß sein Schwert aus der Scheide und rannte die steile Treppe hinab, die vom Wehrgang zum Hof führte.

Als er endlich den Turm erreichte, bildeten die Männer und Frauen der Nachtwache wortlos eine Gasse, um ihn durchzulassen. Durch die weit geöffnete Tür konnte er in jene Turmkammer blicken, in der man Uriens eingekerkert hatte.

Über seinem Bett war ein großer Blutfleck an der grauen Wand. Der Irre lag mit zerschmettertem Schädel zwischen den zerwühlten Decken seines Nachtlagers. Und vor dem Bett hockte sein Mörder.

Arthag!

Doch der Zwerg schien sie nicht zu sehen. Angespannt verfolgte er etwas Unsichtbares in der Luft. Warf seinen Kopf hin und her, wie eine junge Katze, die eine Fliege jagt. Dann schnappte er mit der Faust in die Luft und murmelte: »Du entkommst mir nicht. Ich werde dich vernichten.«

Alrik fröstelte es. Es war offensichtlich, daß der Wahnsinn Greifenfurt regierte. Das mußte auch der Grund sein, warum die Orks sich zurückgezogen hatten. Es wäre nicht mehr nötig, Krieg zu führen. Die Stadt und ihre Bürger würden sich selber vernichten, so wie Arthag den Propheten in seinem Wahn ermordet hatte, würden sich über kurz oder lang alle gegenseitig an die Kehle gehen.

Aber er würde dagegen angehen. Er durfte sich nur nicht treiben lassen. Er durfte sich nicht aufgeben!

Der junge Oberst versuchte sich gegen das abzuschirmen, was er sah. Pflichterfüllung, das sollte sein Schild sein. Er würde sich dem Wahnsinn um ihn herum nicht öffnen.

»Schafft den Toten aus der Kammer!« befahl er mit gepreßter Stimme.

»Dann entwaffnet den Zwerg und sperrt ihn an Stelle von Uriens hier ein.«

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