8.

Die Kolonne bewegte sich langsam nach Osten. Skar hatte es aufgegeben, die Reiter zu zählen, die sich dem anfangs kaum mehr als fünfzig Personen zählenden Zug angeschlossen hatten. Es mochten fünfhundert sein, vielleicht mehr - Männer, Frauen und Greise, ja sogar Kinder, die zu zweien oder dreien auf Pferden und Mauleseln saßen und ihnen in stummen Fünferreihen folgten; ein mächtiger Heereszug, der sich trotz seiner Größe nahezu lautlos nach Osten bewegte. Skar hielt vergeblich nach Bewaffneten Ausschau. Offensichtlich vertrauten die Cearner darauf, daß allein die Größe des Zuges die Hoger von einem Angriff abhalten würde. Darauf - oder auf etwas anderes, das er nicht wußte und nach dem er auch nicht zu fragen wagte.

Sie ritten bis tief in die Nacht hinein nach Osten, ohne auch nur einmal anzuhalten oder die Richtung zu wechseln. Der Wald änderte allmählich seinen Charakter. Die Bäume standen nun weniger dicht und waren auch nicht mehr so hoch, die Kronen weniger verfilzt und ineinander verwachsen als in der unmittelbaren Umgebung Wents, und die einzelnen Stämme schienen allesamt jünger als bisher. Skar fiel auf, wie behutsam sich die Reiter ihren Weg suchten. Trotz der Größe ihres Zuges wurde entlang der Strecke, die sie nahmen, nicht ein Baum beschädigt, nicht ein tiefhängender Zweig oder Ast geknickt, und es war so leise, daß er selbst die regelmäßigen Atemzüge Coars, die neben ihm ritt, hören konnte.

Schließlich, lange nach Mitternacht, hob der Reiter an der Spitze die Hand und stieß einen halblauten Befehl aus. Die Kolonne kam zum Stehen und formierte sich neu, bis sie eine lange, weit auseinandergezogene Kette bildete, die sich in sanftem Bogen zum Waldrand hinschwang und dann in einer geraden, einer imaginären Linie folgenden Reihe zur Ruhe kam. Auch Skars Pferd setzte sich ohne sein Zutun in Bewegung, als wüßte es genau, welchen Platz es in der Gruppe einzunehmen hatte.

Der Wald endete vor ihnen. Skar brauchte einen Moment, um zu begreifen, daß sie das gegenüberliegende Ende Cearns erreicht hatten und die dunkle Linie vor ihnen nichts weiter als der Kamm einer befestigten Düne gleich der war, auf die sie beim Betreten Cearns gestoßen waren. Dahinter erstreckte sich das eintönige Auf und Ab der Wüste; sanft geschwungene Hügel und tiefe, von schwarzen Schatten erfüllte Täler, die im Sternenlicht ihre braungelbe Farbe verloren hatten und nun silbern schimmerten, als wären sie aus Stahl gegossen und sorgsam poliert worden. Skar suchte vergeblich nach einem Tempel oder irgend etwas anderem, das einer Beerdigungsstätte auch nur im entferntesten glich. Er wandte den Kopf und warf Coar einen fragenden Blick zu. Die junge Kommandantin legte den Zeigefinger über die Lippen. Skar nickte.

Lange Zeit geschah nichts. Die Reiter saßen einfach stumm da und blickten auf die Wüste hinaus, und selbst die Tiere schienen die sonderbare, gleichzeitig andächtige wie beklemmende Stimmung zu fühlen und gaben kaum einen Laut von sich - ein unterdrücktes Schnauben hier, ein leises Scharren dort, dann und wann ein helles Klatschen, wenn ein Pferdeschweif nach einer Mücke schlug. Dann, nach einer Ewigkeit, wie es Skar vorkam, begannen die Reiter wie auf ein stummes Kommando hin von ihren Tieren zu steigen. Die Bewegung begann an den beiden äußeren Enden der Reihe und pflanzte sich wie eine stumme optische Welle zur Mitte hin fort. Auch Skar stieg aus dem Sattel, als die Reihe an ihn kam, und trat neben Coar aus dem Wald hinaus. Ein warmer, böiger Wüstenwind schlug ihm ins Gesicht, als er zwischen den anderen den Hügel hinaufging und auf seiner Krone stehenblieb.

Vor ihnen erstreckte sich die Unendlichkeit der Nonakesh, ein gigantisches sandiges Meer, in dem Cearn nicht mehr als eine winzige verlorene Insel war. Zum ersten Mal, seit er die Nonakesh betreten hatte, glaubte er zu begreifen, wie gewaltig diese Einöde aus erstarrtem Schweigen und schwarzen Schatten wirklich sein mußte. Mit einemmal brachte er der Wüste eine völlig neue Art von Empfindung entgegen. Er hatte geglaubt, allen Arten von Gefühlen nacheinander durchgestanden zu haben - Wut, Haß, Verachtung, aber jetzt empfand er nur noch Ehrfurcht. Plötzlich begriff er, daß selbst die Nonakesh ihren festen Platz in der Schöpfung hatte, daß ihr Vorhandensein nicht Zufall, sondern geplant war. Wenn es so etwas wie einen Gott, eine übergeordnete Macht, die die Geschicke dieser Welt und der Menschen lenkte, die auf ihr lebten, wirklich gab, so hatte sie die Nonakesh mit Bedacht erschaffen. Ihre Bestimmung war Einsamkeit, Einsamkeit und Schweigen, ein gigantischer Hort der Leere, einzig dazu bestimmt, groß zu sein.

Coar berührte sanft seine Hand und deutete auf eine zweite, höhere Düne, die weit vor ihnen durch die Wüste schnitt, ein dunkler Schatten, der sich von den Dünen dahinter einzig durch seine Regelmäßigkeit unterschied und sich rechts und links, einer sanften Krümmung folgend, in der Nacht verlor. Er sah genauer hin und erkannte jetzt, daß das Gelände dazwischen nicht eigentlich Wüste war. Der Boden war mit Staub und Flugsand bedeckt, aber dazwischen ragten dünne, dunkle Stöcke in die Luft. Im ersten Moment mußte er an den abgestorbenen Wald denken, den sie auf der anderen Seite Cearns gefunden hatten, aber er erkannte rasch, daß er es mit dem genauen Gegenteil zu tun hatte. Die Bäume hier waren nicht tot, sondern jung. Ein raffiniertes System von Bewässerungskanälen durchbrach die Düne und überzog den Boden vor ihnen mit einem Labyrinth dunkler, glitzender Linien, die - obwohl es angesichts der Zahl der Setzlinge unmöglich schien - jeden einzelnen Baum erreichten und mit dem lebensnotwendigen Wasser versorgten. Die Anzahl der Bäume mochte in die Tausende gehen, allein auf dem Stück, das er übersehen konnte, und doch war jeder einzelne sorgsam mit Netzen und kleinen Erdwällen gegen Sand und Hitze geschützt. Und langsam, ganz langsam nur, begann Skar zu begreifen, was er hier sah.

Der Wald wuchs. Nicht nur in Höhe und Dichte, sondern auch in seiner Ausdehnung. So, wie die Wüste am entgegengesetzten Ende Cearns ein Stück des verlorenen Bodens zurückerobert hatte, so hatte hier der Wald, unterstützt von den Menschen, denen er Heimstatt und Feste zugleich war, einen schmalen Streifen Wüstenbodens an sich gerissen und begann ihn langsam zu verändern. Und plötzlich begriff er auch, was Coar vorhin gemeint hatte, als sie sagte, Cearn hätte damals noch nicht existiert: nicht an diesem Ort und nicht in dieser Form. Dieser Wald war nicht statisch. Die Cearner hatten ihn verändert, hatten die einzige Möglichkeit erkannt, die tödlichen Weiten der Nonakesh zu durchqueren. Wo die Umwelt ein normales Überleben nicht gestattete, mußte man sie verändern oder - wo dies nicht ging - ein Stück seiner normalen Welt mitnehmen. Und so war Cearn zu einer gigantischen, wandernden Insel geworden, einer riesigen Oase, die sich mit dem von der Natur vorgegebenen Tempo ihres Wachstumes durch die Wüste vorwärts bewegte, hundert Meter in zehn Jahren, eine Meile in zwei Generationen. Mit einemmal ergab alles einen Sinn - der tote Wald, ein Stück Gelände, das der Wüste zurückgegeben worden war, um durch einen ebenso breiten Streifen diesseits Cearns ersetzt zu werden, die Schneisen, die sich in regelmäßigen Abständen durch den Wald zogen, die Orte markierend, an denen vorher die Dünen den Ansturm der Wüste gebremst hatten, der seltsam regelmäßige und manchmal parkähnliche Charakter des Waldes.

Ihr Götter!dachte er. Dieserganze Wald bewegt sich! Cearn ist keine Oase, sondern ein ungeheuerliches, lebendes Wesen, das sich durch diese Wüste bewegt und seine Bewohner zurückbringt, wo sie einst hergekommen sind! Ein tiefes, vibrierendes Summen begann sich plötzlich aus der Reihe der Cearner zu erheben, ein Ton, der auf eigentümliche Weise zu der stummen Majestät der Wüste vor ihnen paßte, ihr Schweigen bestätigte, statt es zu durchbrechen, nicht Protest, sondern Huldigung, die Huldigung einer Macht, gegen die man zwar kämpfen, aber niemals siegen konnte. Der Ton wurde lauter, schwoll zu einem mächtigen, dröhnenden Rauschen an und verklang, um wenige Augenblicke später erneut einzusetzen.

Dann begann der Gesang.

Zuerst waren es nur wenige Stimmen, die sich in das dumpfe Raunen und Summen mischten und eine schwermütige, dunkle Melodie dazu sangen, dann mehr und mehr und immer mehr, bis der Wald und die Wüste widerhallten vom kräftigen Gesang aus fünfhundert Kehlen, von dunklen Worten voller Trauer, Worte, die Skar nicht verstand, deren Klang aber irgend etwas in ihm anzurühren schien, obwohl oder vielleicht gerade weil er sie nicht verstand. Es war ein Trauergesang, aber ein Trauergesang, der nicht resignierend, sondern trotz allem optimistisch war, in dem die Cearner ihren Toten Hoffnung statt Verzweiflung mit auf den Weg gaben, der aussagte, daß für diese Menschen der Tod eine völlig andere Bedeutung hatte als für ihn: nicht Ende, sondern vielmehr Anfang, der der erste Schritt in eine bessere, andere Welt war, eine Welt ohne Angst und Schmerzen, ohne Haß und Kampf. Er erinnerte sich wieder, daß Coar auf jener Lichtung nicht von Tod, sondern von Erwachen gesprochen hatte, und jetzt begriff er auch, warum.

Der Gesang brach ab, und für Sekunden legte sich eine große, schwere Stille über die Wüste. Dann glomm ein heller, im dunklen Schwarz der Nacht beinahe schmerzhaft greller Funke auf und wuchs zum prasselnden Flammenspiel einer Fackel heran, der rasch eine zweite, dritte, vierte und fünfte folgten. Skar bemerkte, wie Coar sich bewegte, und wandte verstohlen den Blick.

Coar war einen halben Schritt vorgetreten und verharrte nun mit gesenktem Kopf und unter dem Kinn gefalteten Händen. Ihre Augen waren geschlossen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck angespannter Konzentration. Ihre Lippen formten lautlose Worte.

Der Mann zu seiner Rechten trat beiseite und berührte ihn sanft an der Schulter. Skar trat ebenfalls zurück und blieb stehen, als der Cearner ihn ein zweites Mal anstieß. Wieder erhob sich Gesang aus zahlreichen Kehlen, aber es war ein anderes Lied diesmal, eine schwermütige, getragene, auf- und abschwellende Melodie, die Skar, je länger er lauschte, mehr und mehr an das regelmäßige Schlagen eines gigantischen ruhigen Herzens erinnerte. Die Fackelträger traten nun vor und bildeten ein stummes Spalier zu beiden Seiten der Kommandantin. Ihre Schritte lagen genau im Rhythmus des Gesanges, und selbst das Flackern der Flammen schien sich dem sanften Auf und Ab des Singsanges anzupassen. Coar hob in einer langsamen, betenden Geste die Hände zum Himmel. Zwischen ihren Fingern schimmerte ein kleiner silberner Gegenstand.

Wieder brach der Gesang ab, aber dafür begann im Wald hinter ihnen eine Trommel einen dumpfen, gleichmäßigen Rhythmus zu schlagen. Coar senkte die Arme und sah sekundenlang reglos zu Boden. Dann begann sie den jenseitigen Hang hinunterzugehen, begleitet von den Fackelträgern und dem Rhythmus der Trommeln, der nun lauter, fordernder zu werden schien.

Coar kniete nieder. Der sanfte Schimmer der Fackeln bildete einen weiten, nach der Wüste hin offenen Kreis um sie herum und vertrieb Kälte und Dunkelheit aus ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie verharrte einen Moment reglos, beugte sich vor und begann mit bloßen Händen im Boden zu graben, eine Arbeit, die in dem schweren und feuchten Sand sicher anstrengend und schmerzhaft war. Ihre Bewegungen waren langsam und zielsicher, als folge sie dabei einem genau vorgegebenen Muster. Sie grub etwa einen halben Meter tief, richtete sich auf und säuberte die Hände mit einem Tuch, das ihr einer der Fackelträger reichte. Die Trommelschläge verstummten. Für die Dauer von zehn, fünfzehn Atemzügen saß die junge Kommandantin vollkommen reglos da, eine filigran gearbeitete Statue, die von silbernem Sternenlicht übergossen wurde. Ihre Hände ruhten auf dem kleinen silbernen Gegenstand, den Skar schon zuvor bemerkt hatte. Er erkannte ihn jetzt wieder - es war das Kästchen, das ihm bereits bei der verwirrenden Zeremonie auf der Waldlichtung aufgefallen war. Coar klappte den Deckel auf, griff hinein und nahm ein winziges rundes Korn heraus. Ihre Hand senkte sich in die Grube, die sie gegraben hatte, verharrte einen Moment reglos und zog sich dann leer wieder zurück. Erneut blieb sie sekundenlang bewegungslos und mit geschlossenen Augen sitzen, dann begann sie, wieder mit bloßen Händen und langsamen, zeremoniellen Bewegungen, die Grube wieder zuzuschaufeln. Ein Mann brachte ihr eine flache Schale mit Wasser. Sie trank einen winzigen Schluck davon, hob die Schale dann hoch vor das Gesicht und drehte sie mit einem Ruck um. Das Wasser floß heraus und versickerte fast augenblicklich im Boden. Ein tiefer, erleichterter Seufzer lief durch die Reihen der gebannt dastehenden Cearner. Coar erhob sich, verneigte sich tief in Richtung Wüste und ging dann rückwärts davon. Ihre Hände umklammerten das kleine Silberkästchen, als enthielte es etwas ungeheuer Kostbares.

Und das tat es wohl auch, dachte Skar, halb betäubt vor Überraschung und ehrfürchtigem Staunen. Er hatte gewußt, daß dieses Volk ein intensives Verhältnis zur Natur und dem Wald hatte, aber erst jetzt begriff er wirklich, wie stark das Band war, wie sehr diese Menschen mit Cearn und Cearn mit ihnen verbunden sein mußten. Coar bewegte sich, flankiert von den Fackelträgern und begleitet von dumpfem, auf- und abschwellendem Gesang und dem pochenden Rhythmus der unsichtbaren Trommeln, wenige Schritte nach Norden und kniete erneut nieder. Wieder bildeten die Fackelträger einen weiten, nach einer Seite hin offenen Kreis um sie herum, und wieder begann sie mit bloßen Fingern im Boden zu graben, um die Zeremonie zu wiederholen, die Seele des zweiten Mädchens dem Boden und dem Wald anheimzugeben. Sie bettete den Samen, den sie dem Körper des getöteten Mädchens entnommen hatte, im Boden, goß Wasser darüber und stand auf, um mit raschem Schritt zu ihrem Platz auf dem Hügelkamm zurückzugehen. Die Fackeln erloschen. Noch einmal erhob sich Gesang, leiser und andächtiger diesmal, ein letzter Abschied, die letzte Ehrung, die die Cearner ihren gefallenen Kriegern zollten, dann wandten sie sich wie auf ein unhörbares Kommando hin um und gingen, jeder für sich und keinem geordneten Plan folgend, zu den wartenden Pferden zurück. Die Feier war vorüber. Sie war kurz gewesen, viel kürzer und einfacher als manch andere, der Skar beigewohnt hatte, aber trotzdem hatte sie ihn mehr berührt als jemals ein ähnliches Ereignis zuvor.

Skar stieg schweigend in den Sattel und drängte sein Tier mit sanftem Schenkeldruck herum. Das Pferd schnaubte, warf nervös den Kopf in den Nacken und scharrte mit den Vorderhufen im weichen Boden. Skar blinzelte unwillkürlich nach oben, aber der Himmel über dem Wald war leer.

Die Prozession begann auf dem gleichen Weg zurückzureiten, den sie gekommen war. Skar nahm wieder seine Position neben Coar ein, aber die Kommandantin wirkte seltsam ruhig und abweisend, so daß er nicht versuchte, ein Gespräch anzufangen.

Ein einzelner Reiter löste sich vom hinteren Ende der Kolonne und sprengte auf sie zu. Bernec. Skar erkannte ihn sofort wieder, obwohl er seine Rüstung abgelegt hatte und nur mehr ein einfaches, von einem schmalen silbernen Gürtel zusammengehaltenes Gewand und knielange Stiefel trug. Seltsamerweise wirkte er ohne seine martialische Aufmachung beinahe eindrucksvoller als zuvor. Er war nur wenig älter als Coar, aber größer und breitschultriger, und die Art, in der er auf seinem Pferd saß, ließ in Skar fast so etwas wie Neid aufkommen. Er zügelte sein Tier dicht neben ihnen, musterte Skar mit einem Blick, in dem angefangen von Mißtrauen über Verlegenheit und widerwillige Bewunderung bis hin zu beinahe kindlichem Trotz alle nur denkbaren Empfindungen vertreten zu sein schienen, und sagte dann ein paar Worte zu Coar.

Die Kommandantin antwortete nach kurzem Zögern. Ihre Worte klangen scharf, aber auf ihren Zügen lag ein verzeihendes Lächeln. Sie deutete ein paarmal auf Skar, dann auf sich und dann noch einmal auf Skar und unterstrich die Bewegung mit einem knappen befehlenden Wort. Bernec starrte sie wütend an, machte ein unwilliges Geräusch und grinste abfällig und in einer Art, in der man nur lacht, wenn man jemanden verletzen will.

Skar schwieg beharrlich, obwohl er genau spürte, daß Bernec auf irgendeine Äußerung von ihm wartete. Seine offen zur Schau getragene Ruhe schien Bernec noch mehr zu reizen. Er starrte ihn sekundenlang wütend an, stieß ein abgehacktes Wort hervor und riß sein Pferd brutal an den Zügeln herum.

Coar blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Verzeih ihm, Skar«, sagte sie leise. »Er ist manchmal sehr aufbrausend, aber er meint es nicht so.«

Skar lächelte säuerlich. »Ich habe sowieso nichts verstanden«, bekannte er. »Und was ich nicht verstehe, kann mich auch nicht beleidigen. Außerdem beginne ich mich langsam daran zu gewöhnen, daß man über mich redet. Auch«, fügte er spitz hinzu, »wenn ich zufälligerweise dabei bin.«

Coar lachte leise. »Bernec spricht deine Sprache besser als ich«, sagte sie amüsiert. »Aber ich sehe, daß er sein Ziel erreicht hat, als er Cerano sprach. Er wollte dich verletzen.«

»Und warum?« fragte Skar. »Ich meine ... so dann und wann interessiert es mich, wenigstens zu wissen, warum man mich haßt.«

»Bernec haßt dich nicht, Skar. Ich glaube nicht, daß er überhaupt fähig ist, jemanden wirklich zu hassen. Er ist verstimmt, das ist alles.«

»Wegen der Szene am Tor?«

Coar verneinte. »Um es mit deinen Worten auszudrücken«, antwortete sie nach kurzem Überlegen, »lauft ihr ihm den Rang ab. Del und du stehlt ihm die Schau. Bernec galt bisher als unser größter Krieger, und ich glaube, er war es wohl auch. Keiner kann so reiten und fechten und Bogen schießen wie er. Viele von uns - gerade die Jüngeren - sehen ihn ihm so eine Art Held, und ich fürchte fast, daß er sich in dieser Rolle gefallen hat. Er ist zu stolz, um es offen zuzugeben, aber es wird wohl so sein, daß er schlicht und einfach eifersüchtig auf euch ist.«

»Blödsinn«, sagte Skar impulsiv. »Nichts liegt mir ferner, als ihm den Rang streitig zu machen.«

»Ich weiß«, nickte Coar, »und Bernec weiß es auch. Aber manchmal läßt sich das, was man weiß, nicht mit dem, was man fühlt, in Einklang bringen. Er wird darüber hinwegkommen, früher oder später. Vielleicht«, sagte sie nachdenklich, »könnt ihr sogar Freunde werden, irgendwann. Warte, bis du ihn richtig kennst. Er wird dir gefallen. Ihr ähnelt euch in vielem.«

Skar bezweifelte das, zog es aber vor zu schweigen. Neid und Eifersucht waren Wesenszüge, die ihm fremd waren. Er hatte viele Männer getroffen, die ihm auf die eine oder andere Weise überlegen gewesen waren, aber er hatte selten deswegen so etwas wie Mißgunst in sich verspürt, und wenn doch, so hatte er das Gefühl stets mit aller Macht bekämpft.

»Du kennst ihn gut?« fragte er.

Coar zögerte merklich. »Ja«, sagte sie dann. »Went ist nicht groß. Wir kennen uns alle untereinander. In deiner Heimat mag das anders sein. Die Städte sind dort sicher so groß, daß man unmöglich alle Bewohner kennen kann.«

»Manche sicher«, sagte Skar. »Aber in vielen Städten kennen die Menschen nicht einmal ihre direkten Nachbarn. Es ist ... nicht überall auf Enwor so wie hier bei euch.«

Coar sah ihn verblüfft an. »Aber wie kann das angehen?« fragte sie. »Ein Mensch, der seinen Nachbarn nicht kennt?«

Skar lachte leise, aber es klang unecht und bitter. »Enwor ist nicht Went«, wiederholte er. Er zügelte sein Pferd, sah Coar lange und nachdenklich an und fügte, leiser und sanfter, hinzu: »Ich habe auf dem Weg hierher über die Geschichte, die du mir erzählt hast, nachgedacht. Vorhin habe ich darüber gelacht, aber jetzt glaube ich fast, daß sie stimmt. Ich habe niemals Menschen getroffen, die so sanft und friedvoll sind wie ihr.«

Coar schien verwirrt, und auch Skar fragte sich unwillkürlich, warum er diese Worte überhaupt ausgesprochen hatte. Trotzdem spürte er, daß es die Wahrheit war. Er hatte nicht viel mehr als einen Tag bei Bewußtsein hier verbracht, aber er spürte schon jetzt, daß er niemals zuvor einem friedliebenderen und sanfteren Volk begegnet war. Es war eine Erkenntnis, die nicht vieler Worte oder langer Beobachtungen bedurfte. Selbst Logar und Bernec mit ihrer absichtlichen Ablehnung waren im Grunde gütige und weiche Menschen. Hier, isoliert von der Welt mit all ihren Kriegen und Fehden, schien sich ein winziger Rest jener alten Zeit erhalten zu haben, von der Legenden und Mythen berichteten, ein Artefakt aus einer Epoche, in der Frieden und Menschlichkeit regiert hatten statt Gewalt und Haß. Aus einer Epoche, fügte er in Gedanken hinzu, die vielleicht niemals existiert hatte.

»Aber das ist ... unmöglich«, sagte Coar nach einer Weile »Du ... du meinst, dort draußen herrsche ununterbrochen ...?«

»Krieg«, nickte Skar. »Vielleicht nicht ununterbrochen, aber oft unterscheidet sich der Frieden nicht sehr von dem, was ihr unter Krieg verstehen mögt. Es ... es tut mir leid, wenn ich deine Illusion zerstören muß, Coar, aber die Welt dort draußen ist nicht schön. Enwor ist hart. Hart und grausam.«

»Aber ...«, stotterte Coar verwirrt, »du ... du und Del ...«

»Ich und Del wurden so, wie wir sind, weil die Welt so ist, wie sie ist«, fuhr Skar ruhig fort. »Dort draußen herrscht Gewalt, Coar, Gewalt und das älteste Recht der Welt, das des Stärkeren. Nur die Stärksten überleben, und selbst sie nicht immer. Enwor würde dir nicht gefallen. Ein Volk wie das eure könnte dort nicht überleben, Coar.« Er brach erschöpft ab. Die wenigen Worte schienen seine gesamte Kraft aufgebraucht zu haben, und er spürte erst jetzt so richtig, wie sehr ihn die Erlebnisse der letzten Tage aufgewühlt hatten. »Nun habe ich dir eine Geschichte erzählt«, sagte er abschließend, »aber ich fürchte, sie war nicht so schön wie deine.«

Coar sah verwirrt weg. »Das ... macht nichts«, sagte sie stokkend. »Vielleicht ist die Welt dort draußen wirklich so, wie du sie geschildert hast, vielleicht auch nicht. Es bleibt sich gleich. Ich werde sie nie kennenlernen, und du bist ihr entronnen. Du wirst hier Frieden finden.«

»Aber wir können nicht bleiben«, sagte er sanft.

»Ihr werdet einen Platz finden, an dem ihr leben könnt«, wiederholte sie, seine Worte ignorierend. »Du kannst Kommandant der Garde werden, oder du kannst nach Ipcearn gehen und dich in den Dienst der Könige stellen. Für einen Mann wie dich ...«

»Es ist sinnlos«, unterbrach sie Skar sanft. »Du solltest dir nicht selbst etwas vormachen. Wir bleiben, bis Del sich vollkommen erholt hat. Vielleicht warten wir auch den Winter ab, doch wir können nicht auf ewig hierbleiben. Weder ich noch Del.«

»Und warum nicht?« fragte Coar. Ihre Hände spielten nervös am Sattelknauf, und ihre Stimme bebte. »Du hast mir erzählt, wie es dort draußen ist. Krieg, Gewalt und Tod. Was reizt dich an einer solchen Welt? Was ist besser daran als an Went, an Cearn? Was lockt dich an diesem Leben?«

Skar lächelte traurig. Die Stille des Waldes schien sich plötzlich in seiner Umgebung zu verdichten, und für einen Moment fühlte er sich trotz all der Menschen um sich herum unendlich einsam und isoliert, eingesponnen in einen dichten, unsichtbaren Kokon aus Schwärze und Alleinsein.

»Vielleicht«, sagte er nach einer Weile, »weil es mein Leben ist, Coar. Ich gebe zu, daß Went ein Paradies ist, trotz der Hoger, aber ...«

»Dann bleib hier!« sagte Coar flehend. »Du ... du bist erst seit wenigen Tagen hier. Wie willst du wissen, ob es dir hier gefällt oder nicht? Du wirst hier alles finden, was du dir wünschst. Du wirst Ruhm erlangen, Macht, Reichtum -«

»Aber Enwor ist meine Heimat«, führte Skar den begonnenen Satz zu Ende. Diesmal schwieg Coar.

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