6.

Wurme hüllte ihn ein, als er erwachte. Er blinzelte, öffnete für einen Moment die Augen und ließ die Lider darin wieder zurücksinken. Er hatte Schwierigkeiten, in die Realität zurückzufinden, wenigstens für einen Augenblick. Auf der einen Seite war er hellwach, wie immer, wenn er geruht hatte, aber ein Teil seines Bewußtseins schien noch in der Umarmung des Schlafes gefangen zu sein. Er fühlte sich benommen und matt, als hätte er Drogen genommen oder zuviel getrunken. Er setzte sich auf, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und gähnte ungeniert. Seine Glieder fühlten sich seltsam an - taub und gleichzeitig leicht und matt, und es fiel ihm schwer, seine Bewegungen zu koordinieren. Er ballte prüfend die Fäuste, aber die Bewegung war ohne Kraft; vielleicht eine Nachwirkung des Trankes, den ihm Thoranda eingeflößt hatte. Er würde die Heilerin danach fragen.

Durch die dünnen geflochtenen Wände drangen gedämpfte Geräusche zu ihm herauf; Stimmen, Gelächter und das harte Stampfen von Pferdehufen, und das schmale Fenster direkt über dem Kopfende seines Lagers war von flirrendem Sonnenlicht erfüllt. Er setzte sich vollends auf und blieb so lange reglos sitzen, bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachließ. Danach vermied er rasche Bewegungen, so gut es ging.

Der Ausblick aus dem Fenster war faszinierend, aber nicht sonderlich aufschlußreich. Seine Kammer mußte sich in der obersten Etage des Baumhauses befinden - direkt unter der Stelle, an der sich der mächtige Stamm gabelte und allmählich in das dichte Blätterdach Wents überging. Eine schmale, geländerlose Brücke führte fast auf Armeslänge am Fenster vorbei, und tief unter sich am Boden erkannte er winzige, braun und grün gekleidete Menschen, die mit der Emsigkeit von Ameisen hin- und herzueilen schienen. Skar wandte sich enttäuscht vom Fenster weg und bückte sich nach seinen Kleidern. Er konnte sich nicht erinnern, sie ausgezogen zu haben. Trotzdem war er nackt gewesen, als er aufgewacht war. Aber er hatte ohnehin nur Lendenschurz, Sandalen und Waffengurt getragen. Er band Schurz und Waffengurt um, schnürte mit zitternden Fingern seine Sandalen und wog die leere Schwertscheide sekundenlang unentschlossen in der Hand, ehe er sie mit einem Achselzucken am Gürtel befestigte. Bevor er die Kammer verließ, trat er noch einmal zum Fenster und blickte in den Himmel hinauf. Die Sonne stand nahezu im Zenit. Mittag. Er hatte also nicht allzulange geschlafen. Trotzdem hatte die Ruhe seinem Körper sichtlich wohlgetan. Trotz der Mattigkeit, die noch immer von seinen Gliedern Besitz hatte, fühlte er sich frisch und ausgeruht. Er wandte sich um, trat mit gesenktem Kopf auf den Gang hinaus und wandte sich nach rechts, um auf dem gleichen Weg wieder hinunterzugehen, auf dem er heraufgekommen war.

Das Haus schien verlassen. Der große Raum, an dem er am Morgen Larynn und die Heilerin getroffen hatte, war leer, und als er stehenblieb und lauschte, hörte er nicht das geringste Geräusch, sah er von seinen eigenen Atemzügen und dem leisen Wispern und Knacken des Gebäudes ab. Er drehte sich noch einmal um seine Achse und besah sich die Einrichtung des Raumes genauer. Das Zimmer war leer bis auf einige niedrige Bänke an den Wänden und eine schwere Truhe mit eisernen Beschlägen. Skar ging zum Ausgang, lugte den Gang hinunter und lauschte wieder. Das Gebäude schien tatsächlich verlassen zu sein; etwas, das ihm - trotz der freundlichen Art, in der man Del und ihn aufgenommen hatte - doch recht verwunderlich erschien.

Skar schob den Gedanken mit einem Achselzucken beiseite und ging mit raschen Schritten auf den Ausgang zu. Niemand hatte ihm verboten, das Haus zu verlassen, und er gewann nichts, wenn er hier herumstand und tatenlos wartete, daß irgend etwas geschah.

Eine Gruppe von Reitern bewegte sich unter ihm auf das Tor zu. Sie waren nicht gepanzert wie Coars oder Bernecs Leute, sondern in fließende grüne und braune Gewänder gehüllt, und die Packtaschen ihrer Pferde quollen über von Werkzeug und etwas, das auf die Entfernung wie dürres Reisig aussah. Skar versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen, aber er war zu weit entfernt und die Reiter zu schnell fort.

Eine gebückte, in ein knöchellanges graues Gewand gekleidete Gestalt kam ihm entgegen, als er aus der Tür trat und die schräge Rampe hinunterzugehen begann. Er blieb stehen, rieb sich verlegen das Kinn und lächelte schuldbewußt, als er den vorwurfsvollen Ausdruck auf Thorandas Gesicht gewahrte. »Ich ...«, begann er unsicher, »bin aufgewacht, und es war niemand da, und ...«

»Du solltest noch nicht aufstehen«, unterbrach ihn die Heilerin kopfschüttelnd. »Du brauchst noch Ruhe. Ruhe und Schlaf.«

Skar machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es geht mir gut«, sagte er. »Die Wunde schmerzt nicht mehr, und ich fühle mich kräftig und ausgeruht. Es ist nicht meine Art, tatenlos herumzuliegen.«

Thoranda seufzte in einer Art, als hätte sie es mit einem störrischen Kind zu tun, schüttelte erneut den Kopf und griff dann sanft und gleichzeitig energisch nach seinem Arm. »Es ist nicht allein die Wunde, Skar. Ich glaube gern, daß du schon schlimmere Verletzungen überstanden hast. Aber du hast große Entbehrungen hinter dir, und auch ein Held braucht von Zeit zu Zeit Schlaf und Entspannung, das solltest du wissen.«

Skar starrte Thoranda sekundenlang verwirrt an, aber er vermochte nicht zu sagen, ob ihre Worte ernst oder spöttisch gemeint waren. Wahrscheinlich beides. Thoranda führte ihn ins Haus zurück und wies mit einer Kopfbewegung auf die hölzerne Bank neben der Tür. »Setz dich dorthin und warte. Ich bin gleich zurück.«

Skar gehorchte achselzuckend. An einem anderen Ort und bei anderer Gelegenheit hätte ihn ein Verhalten wie das Thorandas vielleicht in Rage versetzt, aber im Moment amüsierte es ihn beinahe.

Die Heilerin schlurfte mit hängenden Schultern durch den Raum, machte sich eine Weile an einer Truhe zu schaffen und kam dann, leise vor sich hinmurmelnd, zurück. Sie erschien Skar plötzlich älter und gebrechlicher als noch am Morgen. »Laß die Wunde sehen«, verlangte sie.

Skar hob gehorsam den Arm, und Thoranda löste den Verband von seiner Brust. Skar fuhr verblüfft zusammen, als er die dünne rote Linie über seinen Rippen gewahrte. Die Wunde war nicht wirklich gefährlich gewesen, aber tief und schmerzhaft, und nun war nicht viel mehr zurückgeblieben als eine kaum sichtbare Narbe, die Monate alt schien statt weniger Stunden.

»Deine Heilkraft«, sagte er unsicher, »muß wirklich gewaltig sein. Die Wunde ist fast verheilt.«

Thoranda fuhr mit dem Fingernagel über seine Rippen. »Fühlst du das?«

»Nein«, antwortete Skar. »Nicht, wenn du meinst, ob es schmerzt. Ich spüre die Berührung, aber ...«

»Das wollte ich wissen«, nickte Thoranda. »Ich denke, wir können den Verband weglassen. Der Rest wird auch so heilen. Aber schone dich noch ein paar Tage, und versuche, die Seite nicht mehr als notwendig zu belasten.«

Skar grinste. »Ich werde versuchen, für die nächste Zeit die Gesellschaft von Hogern und anderen Ungeheuern zu meiden.«

Ein Schatten flog über Thorandas Züge, und Skar senkte verlegen den Blick. Er hatte geglaubt, die Situation durch einen Scherz entspannen zu können, aber er schien, als hätte er kaum etwas Falscheres sagen können. Vielleicht hatte dieses Volk schon zuviel unter den Hogern gelitten, um auch nur noch so etwas wie Galgenhumor zu besitzen.

»Wie hast du es fertiggebracht, die Wunde so rasch zu heilen?« fragte er, weniger aus wirklichem Interesse als aus dem Bemühen, das Thema zu wechseln. »Heute morgen noch ...«

»Du hast drei Tage geschlafen«, unterbrach ihn Thoranda, »nicht einen. Du hattest Fieber, und dein Körper hat das meiste von dem, was zu tun war, selbst getan. Unser Wissen über den menschlichen Körper ist sehr alt, Skar, und wir haben schon vor langer Zeit erkannt, wie widerstandsfähig ein Mensch ist. Ich habe nur die Kräfte geweckt, die in dir waren.«

Skar erschrak. »Drei Tage?« wiederholte er ungläubig.

»Drei Tage und drei Nächte. Der Trank, den ich dir gab, versetzte dich in tiefen Schlaf.« Thoranda lächelte flüchtig. »Zürne mir nicht, Skar. Nach allem, was ich über dich gehört - und selbst gesehen - habe, war es die einzige Möglichkeit, dir die Ruhe zu geben, die du brauchtest.«

Skar seufzte. Es war kein Wunder, daß er sich so frisch und ausgeruht fühlte. Drei Tage ... Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange ununterbrochen auch nur im Bett gelegen, geschweige denn geschlafen zu haben. Für einen Moment stieg ein leises Gefühl der Verärgerung in ihm empor, aber dann lächelte er, schob Thorandas Hand beiseite und stand auf. »Danke«, murmelte er, bewußt und vielleicht übertrieben freundlich. »Du hast ein wahres Wunder vollbracht, Thoranda. Ich fühle mich wie neugeboren.«

Thoranda winkte ab. »Bei dir war es leicht, Skar. Bei deinem Freund Del dagegen ...«

Skar zuckte sichtlich zusammen. Er hatte, wie ihm mit einem plötzlichen Gefühl der Schuld bewußt wurde, nicht an Del gedacht, seit er aufgewacht war. »Was ist mit ihm?« fragte er hastig.

»Er lebt.« Thoranda machte eine besänftigende Handbewegung, als sie das Erschrecken auf seinen Zügen sah. »Und er wird auch wieder gesund werden. Aber es stand auf des Messers Schneide. Del ist stark, doch seine Verletzung war schwer, und das Wundgift war bereits tief in seinen Körper eingedrungen. Ihr hättet keine Stunde später kommen dürfen, Skar. Sein ... Geist hatte die Grenze zum Jenseits schon halb überschritten. Ich konnte ihn zurückholen, doch es wird lange dauern, bis er wieder ganz gesund ist. Du mußt dich gedulden.«

Skar bemerkte das unmerkliche Zögern in ihren Worten, aber er ging nicht darauf ein. Thoranda schien müde, unendlich müde; ein Mensch, der sein Äußerstes gegeben und nun ausgelaugt und leer war. Es schien eine Müdigkeit zu sein, die weit über das Maß des rein Körperlichen hinausging, eine Erschöpfung der Seele, die nicht allein mit Schlaf und ein paar Stunden der Ruhe zu beseitigen war. Vielleicht lag es daran, daß sie ihm plötzlich älter erschien, so alt, wie sie wirklich sein mochte. Ihr Gesicht hatte sich nicht verändert, aber die Spannung war daraus gewichen, und die Aura jugendlicher Kraft, die sie umgeben hatte, als er sie das erste Mal gesehen hatte, war fast vollkommen erloschen. Welcher Art, dachte er mit einem leisen Anflug von Schaudern, fast Erschrekken, war Thorandas Heilkraft wirklich? Er getraute sich nicht, die Heilerin danach zu fragen, aber er hatte plötzlich das sichere Gefühl, das sich ihre Kunst nicht allein auf die Anwendung von Kräutern und Medizin beschränkte.

»Ich würde gern mit Coar reden«, sagte er. »Weißt du, wo ich sie finde?«

»Sie ist nicht in der Stadt. Die Garde ist schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen und wird kaum vor dem späten Nachmittag zurückkehren. Aber Larynn und ein paar der anderen sind zurückgeblieben. Wenn du willst, bringe ich dich zu ihnen.«

»Das ist nicht nötig. Zeige mir den Weg, und -«

»Du würdest dich nur verlaufen«, behauptete Thoranda. »Außerdem tut es mir sicher gut, ein paar Schritte zu laufen. Alte Knochen müssen ständig in Bewegung gehalten werden, damit sie nicht einrosten«, fügte sie mit einem flüchtigen Lächeln hinzu. Sie stand auf, schlurfte zur Tür und winkte Skar, ihr zu folgen.

Skar blinzelte, als er ins helle Sonnenlicht hinaustrat. Es war warm, und über der Stadt lag ein schwerer, durchdringender Duft nach Blumen und Moos und Bäumen und frischem Gras, der ihm für einen Moment fast den Atem nahm. In den Zweigen über seinem Kopf zwitscherten Vögel, und als er die sanft geneigte Rampe zum Erdboden hinunterging, glaubte er einen schlanken braunen Schatten wie von einem Reh oder Hirsch zwischen den Stämmen hindurchhuschen zu sehen, eine Vorstellung, die ihm mit einem Male gar nicht mehr so abwegig erschien. Erst jetzt, gestärkt von drei Tagen Schlaf und Thorandas Pflege, wurde ihm klar, wie müde er beim Betreten Wents wirklich gewesen war, wie wenig er doch von der Stadt wahrgenommen hatte. Die wirkliche Schönheit Wents war ihm vollkommen verborgen geblieben.

Went war mehr als eine Stadt; das begriff er plötzlich. Es war kein Zufall, daß die einzelnen Gebäude wie hineingewachsen in den Wald wirkten. Vielleicht war es nicht einmal eine Stadt in dem Sinne, in dem er das Wort bisher gebraucht hatte; eher ein beinahe zufällig abgegrenztes Gebiet des Waldes, in dem Menschen lebten - so wenig verändert wie möglich und so viel wie unumgänglich nötig. Er erkannte jetzt, daß, was ihm am Morgen wie ein willkürliches und ungeplantes Bauen und Wuchern vorgekommen war, sich in Wirklichkeit perfekt in das von der Natur und dem natürlichen Wuchs des Waldes vorgegebene Muster einpaßte. Nicht ein einziges Gebäude, kein Steg und keine Straße störten den natürlichen Rhythmus des Waldes, nichts schien gewaltsam aufgesetzt. Es gab keine Breschen, die in den Wald geschlagen worden wären, um Platz für Häuser und Menschen zu schaffen, keine willkürlichen Veränderungen. Der Mensch hatte hier nicht zerstört, sondern geschaffen, die Natur nicht verändert, sondern vervollkommnet, hier und da ein wenig hinzugefügt, dort vorsichtig gerodet, Kanten und Ecken geglättet und vielleicht dort, wo die Natur selbst das Maß des Perfekten noch nicht erreicht hatte, behutsam eingegriffen. Went war keine Stadt, sondern eine Symbiose zwischen dem Schaffen der Natur und dem des Menschen, ein Ort, an dem sich göttliche und menschliche Fügung getroffen und auf vielleicht einmalige Weise vereint hatten. Selbst die wehrhaften Verteidigungsanlagen - der zweifach gestaffelte Ring der Dornenhecken, die Türme, das breite, deckungslose Gelände dazwischen, die Fallgruben - alles fügte sich perfekt in dieses riesige, auf seine ungeplante Art schon beinahe wieder symmetrisch und gewollt erscheinende System ein. Von hier aus betrachtet wirkte selbst der Zaun nicht mehr wie eine Grenze, sondern wie eine natürliche Ergänzung der Stadt, ein Teil eines gewaltigen Musters, das so und nicht anders sein konnte.

Sie erreichten den Fuß der Rampe und wandten sich nach rechts, tiefer in den Wald hinein. Zwischen den weit auseinanderstehenden Stämmen herrschte reges Leben, wie schon am Tage zuvor, und wie beim ersten Mal konnte sich Skar des unangenehmen Gefühles, angestarrt zu werden, nicht erwehren. Natürlich - er war ein Fremder, und zwischen den kleinwüchsigen Bewohnern Wents mußte seine breitschultrige und muskulöse Gestalt erst recht auffallen, aber es war doch ein unangenehmes Gefühl, aus Hunderten von neugierigen Augenpaaren angestarrt zu werden. Zumal, da er immer noch nicht wußte, ob diese Augen nun wirklich nur neugierig oder aber feindlich auf ihn hinabsahen.

Thoranda blieb plötzlich stehen und deutete auf eine Gruppe jüngerer Frauen, die wenige Schritte abseits des Weges standen, miteinander redeten und ab und zu einen neugierigen Blick in seine Richtung warfen. »Warte einen Moment, Skar«, sagte sie. »Ich habe etwas mit ihnen zu besprechen. Es dauert nicht lange. Geh nicht weg.«

Skar nickte gehorsam, wenn es ihm auch immer schwerer fiel, nicht zu widersprechen. Er begann sich allmählich wie ein Kind zu fühlen, das an einem unsichtbaren Gängelband herumgeführt wurde und dem jeder sagen zu müssen glaubte, was es zu tun oder zu lassen hatte, und er war sich mit einemmal sicher, daß ihn Thoranda nicht allein aus Furcht, daß er sich verirren könnte, begleitete. Trotzdem war es sicher besser, sich nach ihren Anordnungen zu richten. Zumindest, dachte er spöttisch, war die Heilerin als Wächter so manch anderem, den er kennengelernt hatte, vorzuziehen.

Eine Gruppe Berittener preschte so dicht an ihm vorüber, daß er unwillkürlich den Kopf einzog und einen Schritt zur Seite wich - sieben, acht Mann auf stämmigen Pferden, in wuchtige Panzer gehüllt und mit Schilden und übermäßig langen, biegsamen Spießen bewaffnet. Skar blickte ihnen nach, bis sie durch die Öffnung in der äußeren Dornenhecke verschwunden waren. Ein Trompetensignal erscholl von einem der Wachtürme und wurde wenig später von irgendwo jenseits der Hecke erwidert. Die Reiter schienen ihre Tiere rücksichtslos durch das Unterholz zu treiben, denn Skar konnte das gedämpfte Brechen und Bersten noch lange Zeit hören, nachdem sie durch das Tor verschwunden waren. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zum Himmel hinauf. Die Sonne brannte noch immer als grellroter Feuerball an einem strahlend blauen, wolkenlosen Firmament, und die Hitze stieg hier, wo die Bäume nur wenig Schutz gegen ihre unbarmherzigen Strahlen boten, merklich an. Weit im Westen glaubte er eine Anzahl winziger schwarzer Punkte über dem Wald auszumachen, und für einen Moment mußte er wieder an die Hoger denken. Aber es mochten auch normale Vögel sein; sicher sogar. Skar konnte sich nicht vorstellen, daß die Bestien auch am Tage auf Beutejagd gingen. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht einmal die Hoger wirklich vorstellen. Die dünne rote Narbe an seiner Seite und der pochende Schmerz, der entgegen all seiner Beteuerungen noch immer in seinen Rippen wühlte, bewiesen ihm jedoch, daß er alles wirklich erlebt und nicht bloß geträumt hatte. Und doch erschienen ihm der Kampf auf der Lichtung und der Tod der beiden jungen Mädchen mehr und mehr wie ein bizarrer Alpdruck. Irgend etwas daran kam ihm falsch und irreal vor, schon während des Kampfes und jetzt, aus der Distanz von mehreren Tagen betrachtet, noch stärker. Es war nicht einmal die Größe der Gefahr gewesen - Del und er hatten schon gegen schlimmere Bestien bestehen müssen -, sondern die Art der Bedrohung. Er kannte alle Monster, die Enwor zu bieten hatte, und es waren Scheußlichkeiten darunter, gegen die selbst die Hoger wie harmlose Vögel erschienen, und doch war da etwas, irgend etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte und das doch wie ein bizarrer Alp hinter seinen Gedanken lauerte - das ihn schaudern ließ. Die Hoger erschienen ihm (er wußte, daß das Wort nichts erklärte und im Gegenteil noch mehr Fragen aufwarf, und doch war es das einzig Zutreffende) falsch. Er hatte es gespürt, als er ihnen gegenübergestanden hatte, und das Gefühl war seither nicht schwächer geworden. Als er in die gräßliche Visage des Untieres gesehen hatte, hatte er für einen winzigen, schrecklichen Augenblick das Gefühl gehabt, einen Blick in eine feindselige, unsagbar fremde Welt zu tun. Ein Wesen wie ein Hoger durfte einfach nicht existieren, weder hier noch sonst irgendwo auf Enwor. Für einen Augenblick fragte er sich ernsthaft, ob die Hoger wirklich existierten, lebten. Aber wenn sie es taten, dann auf eine ganz, ganz andere Art als alles, dem er bisher begegnet war. Ein zaghaftes Zupfen am Arm riß ihn aus seinen Überlegungen. Skar drehte sich herum und erkannte einen vielleicht zehnjährigen Jungen, der sich ihm von hinten genähert hatte und nun aus eng zusammengekniffenen Augen zu ihm emporstarrte, den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände in die Seiten gestemmt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er hatte Angst, das war deutlich zu erkennen, aber er schien auch Neugierde zu verspüren, und sein Wissensdurst war - zumindest im Moment noch - größer als die Furcht.

Skar lächelte unsicher. Er hatte nie viel für Kinder übrig gehabt - nicht daß er sie nicht mochte oder gar haßte, aber er konnte nichts mit ihnen anfangen, und ihre Gegenwart machte ihn unsicher, und wenn er ihnen überhaupt Empfindungen entgegenbrachte, dann höchstens die, daß sie ihm lästig waren oder schlicht auf die Nerven gingen -, aber irgendwie gefiel ihm der Kleine. Er ging in die Hocke, streckte den Arm aus und strich dem Knaben zögernd über den Kopf; eine Art der Zärtlichkeit, die gerade jungen in diesem Alter zuwider war, wie er genau wußte, aber es war die einzige Art, Zuneigung auszudrücken, zu der er überhaupt fähig war. Der Knabe wich hastig einen Schritt zurück und blieb abermals stehen. Seine dunklen, wachen Augen glitten an Skars Körper herab und musterten ihn unverhohlen, und seine Haltung war ganz so, als erwarte er eine bestimmte Reaktion.

»Hallo«, sagte Skar unbeholfen. »Wie ... wie heißt du, Kleiner?«

Sicher verstand der Junge nicht, was Skar sagte, aber er schien zumindest den ruhigen Klang seiner Stimme richtig zu deuten. Skar lächelte erneut, legte die Hand auf die Brust und sagte laut und mit deutlicher Betonung: »Skar.« Dann deutete er mit fragendem Gesichtsausdruck auf den Jungen.

Der Knirps überlegte einen Moment. »Cornec«, sagte er triumphierend.

»Dein Name ist Cornec?« wiederholte Skar.

Der Knabe nickte. »Cornec.« Er kam wieder einen Schritt näher, deutete auf Skar, auf sich und die umliegenden Bäume. »Cornec, Skar; Went«, sagte er. »Cearn!« Skar sah auf, als ein Schatten zwischen ihn und den Jungen fiel. Thoranda hatte ihr Gespräch beendet und war unbemerkt zurückgekommen. Sie lächelte sanft, sagte etwas in ihrer raschen, dunklen Sprache zu dem jungen und deutete mit einer Kopfbewegung auf Skar. Der Junge nickte, antwortete ebenso rasch und ging dann mit schnellen Schritten davon.

»Ich hoffe, du hast ihn nicht gescholten, daß er mit mir geredet hat«, sagte Skar, als er aufstand. In Wirklichkeit war er froh, daß der Junge gegangen war, aber er hatte das Gefühl, daß es im Moment besser war, seine wirklichen Empfindungen zu verbergen. Es war manchmal sehr leicht, die Gefühle dieser Menschen zu verletzen, das hatte er bereits gelernt.

»Natürlich nicht«, antwortete Thoranda. »Wir verbieten unseren Kindern nichts, Skar.« Sie schüttelte den Kopf, als hätte er etwas ungemein Dummes gesagt. »Ich habe ihm nur erklärt, daß er sich noch ein wenig gedulden muß, mit dir zu reden.« Sie lachte leise. »Er streicht seit Tagen um das Haus herum und versucht, einen Blick auf die beiden Helden zu erhaschen, die Coar mitgebracht hat. Und nicht nur er. Dein Freund und du seid bereits zu Idolen geworden, Skar. Wenigstens«, fügte sie lächelnd hinzu, »bei unseren Kindern. Heldentaten sprechen sich rasch herum.«

»Helden?« machte Skar zweifelnd.

»Es sind Kinder, Skar«, sagte Thoranda, als wäre dies Erklärung genug für alles. »Coars Bericht hat großes Aufsehen hervorgerufen. Man spricht viel über euch, vor allem über dich. Aber ich fürchte«, wechselte sie übergangslos das Thema, »du wirst deinen Besuch bei Larynn noch ein wenig verschieben müssen. Logar verlangt nach dir. Eines der Mädchen, mit denen ich sprach, war gerade auf dem Weg zu uns, um dich zu rufen.« Sie stockte, blieb mitten im Schritt stehen und sah Skar einen Herzschlag lang nachdenklich an. »Wenn du willst, lasse ich ihm ausrichten, daß du noch nicht kräftig genug dazu bist«, sagte sie.

Skar lehnte das überraschende Angebot mit einem dankbaren Kopfschütteln ab. »Danke, Thoranda. Aber ... ich bin froh, mit ihm reden zu können. Mein erstes Treffen mit ihm war nicht sehr aufschlußreich. Ich hätte sowieso darum gebeten, zu ihm gebracht zu werden. Ich muß endlich wissen, woran ich bin.«

Thoranda nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Dann laß uns gehen.« Er hatte unbewußt damit gerechnet, daß Thoranda ihn wieder zu jenem steinernen Gebäude zurückführen würde, in dem er Logar das erste Mal begegnet war, aber die Heilerin wandte sich nach Westen und geleitete ihn durch die Randbezirke der Stadt zu einer Stelle, an der in einer Lichtung ein flacher, annähernd runder See unter der Sonne glänzte. Im ersten Augenblick glaubte er, es mit einem stehenden Gewässer zu tun zu haben, da er weder Zu- noch Abfluß entdecken konnte, aber das Wasser war zu klar dafür, und nach wenigen Augenblicken entdeckte er am jenseitigen Ufer einen winzigen sprudelnden Katarakt, dessen beständiges Plätschern und Rauschen sich wie eine murmelnde zweite Stimme in das Raunen des Blätterdaches mischte. Thoranda deutete auf eine schlanke, dunkelhaarige Gestalt, die auf einer steinernen Bank saß, und blieb stehen. »Er erwartet dich.«

»Du kommst nicht mit?« fragte Skar enttäuscht. Ohne daß er es sich selbst gegenüber bisher eingestanden hatte, erfüllte ihn Thorandas Gegenwart mit einem wahrscheinlich unbegründeten, aber trotzdem beruhigenden Gefühl der Sicherheit. Obwohl sie nicht mehr als eine alte Frau war, war ihm der Gedanke, auf den Schutz ihrer Anwesenheit verzichten zu sollen, unangenehm.

Thoranda verneinte. »Meine Aufgabe ist das Heilen«, sagte sie sanft, aber auch ein wenig tadelnd, »nicht das Reden. Aber du brauchst keine Furcht zu haben. Logar wird dir nichts tun.« Jetzt sprach sie wirklich wie eine Mutter mit ihm, dachte er, eine Mutter, die einem verängstigten Kind Mut zusprach. Aber genau so fühlte er sich im Moment auch - nicht verängstigt, aber verunsichert und verwirrt in einem Maße wie selten zuvor in seinem Leben.

Erfuhr mit einem Ruck herum und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf die Bank zu, auf der Logar ihn erwartete. »Du wolltest mich sprechen.«

Logar sah auf. Für einen Moment schien er verwirrt, dann lächelte er in einer sanften, ehrlichen Art, die Skar in diesem Augenblick am allerwenigsten erwartet hätte. »Wie geht es dir?« fragte er anstelle einer direkten Antwort. Er rutschte ein Stück zur Seite und machte eine einladende Geste, die Skar absichtlich übersah. Plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, ärgerte ihn Logars Verhalten. Jedermann in dieser Stadt schien bemüht, ihn freundlich und zuvorkommend zu behandeln, aber gerade das ärgerte ihn noch mehr.

»Ich fühle mich gut«, antwortete er gereizt. »Du hättest dir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, mir die Kehle durchzuschneiden.«

Zwischen Logars Brauen erschien eine steile Falte, aber seltsamerweise wirkte sein Gesicht dadurch eher noch jünger und verwundbarer. »Du bist verärgert«, sagte er. »Und ich kann deinen Ärger verstehen. Ein Mann wie du ist es sicher gewohnt, anders empfangen zu werden.«

Skar lauschte vergeblich nach einem Unterton von Ironie oder gar Spott in Logars Stimme. Der Stadtkommandant schien das, was er sagte, durchaus ernst zu meinen.

»Ein Mann wie ich«, sagte er, bewußt Logars Wortwahl übernehmend, »ist es gewohnt zu wissen, woran er ist. Ich bin jetzt mehr als drei Tage in eurer Stadt, und wie es aussieht, ist unser Schicksal längst entschieden. Wahrscheinlich bin ich der einzige, der noch nicht weiß, was mit Del und mir geschehen wird. Aber wozu auch? Schließlich geht es ja nur um unser Leben.« Er schnaubte ärgerlich, schürzte die Lippen und nahm nun doch neben Logar Platz. Natürlich wußte er, daß er sich ungerecht und obendrein dumm benahm. Logar hatte - selbst wenn er gewollt hätte - weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, mit ihm zu reden. Aber er mußte seinem Ärger einfach Luft machen, und Logar erschien ihm im Moment das passende Ventil dafür. »Ich warte«, fuhr er, ein wenig sanfter gestimmt, aber immer noch gereizt, fort.

Logar sah ihn eine Zeitlang schweigend an und beugte sich dann vor, um ein paar kleine Steine vom Boden aufzuheben. »Niemand entscheidet über das Schicksal eines anderen«, sagte er, aber die Worte schienen kaum für Skars Ohren gedacht zu sein. Er lehnte sich zurück, spielte einen Moment gedankenverloren mit den Steinen, die er vom Boden aufgelesen hatte, und warf sie dann, einen nach dem anderen und jeden etwas weiter, ins flache Wasser des Sees. »Ich habe Reiter hinaus in die Wüste geschickt, um nach euren Spuren zu suchen«, begann er, ohne Skar anzusehen. Er zögerte erneut, lächelte und nahm einen größeren Stein auf. Es platschte hörbar, als er ihn ins Wasser warf, und unter der spiegelnden Oberfläche des Sees schoß ein länglicher, dunkler Schatten auf und verschwand im tieferen Wasser. »Wir fanden eure Pferde. Sie waren tot. Und wir fanden auch die Gasse, die ihr euch durch den abgestorbenen Wald gehauen habt. Natürlich ist dies kein Beweis, daß du die Wahrheit sprichst. Aber ich denke, den brauchen wir auch nicht.«

»So?« machte Skar gereizt.

Logar stand auf, trat einen Schritt auf den See zu und blieb stehen, als das Wasser seine nackten Zehen umspülte. »Ihr seid frei.«

»Frei?« echote Skar verblüfft. »Was ... was heißt das?«

Logar zuckte mit den Schultern. »So frei wie wir«, erklärte er. »Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt. Aber ihr könnt auch bleiben. So wie es im Moment aussieht, wirst du sowieso noch eine Weile abwarten müssen, bevor Del sich weit genug erholt hat. Ihr seid unsere Gäste, so lange ihr wollt. Hier in Went, in Ipcearn - das Gebiet von Cearn ist groß, und ihr werdet einen Ort finden, an dem ihr leben könnt. Wenn ihr euch entschließt zu bleiben.«

»Aber wir können auch ... weggehen?« fragte Skar mißtrauisch.

»Natürlich. Wir stehen in deiner Schuld, Skar. Wenn ihr kräftig genug seid und wirklich gehen wollt, werden wir euch geben, was immer ihr braucht, um die Wüste lebend zu überwinden. Wenn ihr das wirklich wollt.«

»Du zweifelst daran?«

Logar lächelte auf eine Art, die sowohl Zustimmung als auch schlichtes Resignieren bedeuten konnte. »Ihr habt es einmal geschafft«, murmelte er, »doch das muß nicht bedeuten, daß es euch auch ein zweites Mal gelingt. Nicht jeder Weg«, fuhr er geheimnisvoll fort, »ist in jeder Richtung gleich lang. Aber uns bleibt noch viel Zeit, darüber zu reden. Zuerst werdet ihr euch erholen und neue Kräfte sammeln, dann sehen wir weiter. Ich habe dich nicht hergebeten, um mit dir über deinen Abschied zu sprechen.«

»Warum dann?«

»Aus zwei Gründen. Zum einen, um mich bei dir zu entschuldigen. Ich ... der Eindruck, den ihr von unserem Volk gewonnen habt, muß alles andere als gut sein, Skar. Wir sind keine Barbaren, auch wenn ich es dir nicht verdenken könnte, wenn du uns nun dafür hältst.«

Skar wollte etwas erwidern, aber Logar machte eine hastige Bewegung und sprach schnell weiter. »Laß mich ausreden, Skar. Ich war unhöflich zu dir, und du mußt glauben, daß es bei uns Sitte ist, Hilfe mit Mißtrauen zu danken. Sei versichert, daß dies nicht unsere Art ist, normalerweise. Die Umstände eurer Ankunft waren unglücklich, nicht nur für euch. Ich war ... das heißt, wir alle sind im Moment übermäßig nervös und gereizt, aber das gibt mir nicht das Recht, meine Launen an Fremden auszulassen, die hierherkommen und uns um Hilfe bitten. Vergib mir.« Skar war für die Dauer eines Herzschlages sprachlos vor Verblüffung. Der Mann, mit dem er sprach, schien kaum mehr Ähnlichkeit mit dem Logar zu haben, mit dem er vor drei Tagen zusammengetroffen war. Bei ihrer ersten Begegnung war Logar mißtrauisch, vielleicht sogar offen feindselig gewesen, aber darüber hinaus hatte ihn eine beinahe greifbare Aura der Macht umgeben. Davon war nichts mehr geblieben. Mehr noch - wenn es zwischen ihnen noch einen Unterschied gab, so schien nun er, Skar, es zu sein, der der Ranghöhere und Mächtigere war - auch wenn Logar es weder mit Worten noch mit Gesten direkt ausdrückte. Aber Skar kam Logar wie ein Mann vor, der zu spät bemerkt hat, daß er sich einem anderen gegenüber im Tonfall vergriffen hat und nun um Vergebung bittet. Skar erinnerte sich plötzlich, einen ähnlich unerklärlichen Wechsel schon einmal erlebt zu haben - bei Coar und ihren Reiterinnen. Und mit einemmal war er sicher, daß die Cearner in ihm und Del mehr sahen als zwei zufällig des Weges gekommene Fremde. Aber er fragte nicht danach. Noch nicht.

»Du sprachst von Problemen«, sagte er, als das Schweigen zwischen ihnen peinlich zu werden begann.

Logar nickte betrübt. »Es war kein Zufall, daß ihr in jener Nacht auf die Garde gestoßen seid«, gestand er. Seine Worte überraschten Skar nur wenig. Er hatte Coars Erklärung, sie wären von den Waldbewohnern um Hilfe gebeten worden, ohnehin nicht geglaubt. Went war zu weit entfernt und der Weg von dort zu mühsam, als daß die Botschaft von ihrem Kommen die Stadt erreicht hätte und die Reiter in wenig mehr als zwei Stunden zu ihnen hätten hinausgelangen können. »Die Garde patrouilliert seit Wochen durch den Wald«, fuhr Logar fort. »Nicht nur Coars Reiter, sondern auch andere. Die Hoger sind wie toll - sie greifen alles an, was sich bewegt, und dringen selbst in Gebiete Cearns vor, die sie sonst meiden.« Er blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zum Himmel empor. Skar folgte seinem Blick. Die dunklen Punkte im Westen waren noch da, und mit einemmal war er fast sicher, daß es Hoger waren, keine normalen Vögel. »Du sprichst, als wären sie sonst nicht so wild«, sagte er vorsichtig.

Logar nickte. »Das stimmt. Sie sind eine Plage, aber normalerweise werden wir ihrer Herr. Aber es ist Brutzeit. Die Hoger sind auch so schon blutgierige Bestien, aber wenn sie brüten, verfallen sie in Raserei. Unter normalen Umständen«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu, als müsse er erst überlegen, ob er diese Information weitergeben durfte, »hätten sie euch nicht angegriffen. Nicht eine so starke und gut bewaffnete Gruppe. Sie gehen kein Risiko ein, wenn es sich irgend vermeiden läßt. Dazu sind sie zu intelligent. Wir ... haben viele gute Männer und Frauen verloren, bevor ihr kamt, und deshalb ...«

»Nicht, Logar.« Skar schüttelte sanft den Kopf, stand auf und legte dem jüngeren die Hand auf die Schulter. »Ich möchte nicht, daß du dich bei mir entschuldigst. Als wir kamen, waren wir mehr tot als lebendig, und ohne eure Hilfe wären wir gestorben.« Ihm fiel plötzlich auf, daß er schon genauso redete, wie es der Rolle, in die Logar ihn hineinmanövriert hatte, zukam. Er zog hastig die Hand zurück. »Was unternehmt ihr gegen die Hoger?« fragte er.

»Nicht viel«, antwortete Logar. »Es ist nicht das erste Mal, daß sie uns so zusetzen, und es wird nicht das letzte Mal sein. Hoger sind keine Feinde, gegen die man Krieg führen könnte. Wir versuchen uns zu schützen, so gut es geht, und warten im übrigen ab. Wenn die Jungen geschlüpft sind, werden sie sich wieder beruhigen.«

»Und wie lange wird das dauern?«

Logar hob andeutungsweise die Schultern. »Wir wissen nicht sehr viel über sie«, bekannte er. »Aber es werden nicht mehr als einige wenige Wochen sein. Hier in Went sind wir sicher. Nicht einmal die Hoger würden es wagen, uns hier anzugreifen.«

Diesmal war Skar ehrlich verblüfft. »Ihr ... wißt nichts über die Hoger?« fragte er. »Wir wissen einiges«, schränkte Logar ein, »doch nicht genug, um wirksam gegen sie vorgehen zu können. Du kennst Cearn noch zu wenig«, fuhr er mit einem sanften Lächeln fort, als er den ungläubigen Ausdruck auf Skars Gesicht registrierte, »sonst würdest du verstehen, was ich meine.« Er sah sich suchend um und hob einen dünnen Ast vom Boden auf.

»Sieh«, sagte er. Er ging in die Hocke, glättete mit der Hand ein Stück des feinen weißen Sandes zu seinen Füßen und zeichnete ein langgestrecktes, an einer Seite nahezu waagerecht abgeflachtes Oval. »Cearn«, erklärte er. »Ihr habt die Wüste durchquert und seid an dieser Stelle in den Wald eingedrungen.« Er zog mit dem Ende des Stockes eine dünne gestrichelte Linie, die mit dem spitzen Ende des Ovals verschmolz, wechselte den Stab von der Rechten in die Linke und markierte mit dem Daumen zwei flache Markierungen. »Went und lpcearn«, erklärte er. »Ipcearn? Es gibt eine zweite Stadt?«

Logar nickte. »Ja und nein«, sagte er ausweichend. »Ipcearn ist keine Stadt wie Went, aber für den Augenblick mag diese Erklärung durchaus reichen.«

Skar zerbrach sich für einen Moment den Kopf über den Sinn von Logars Worten und beugte sich dann achselzuckend über die primitive Zeichnung. Die beiden Städte lagen weit auseinander - Went nahe an der vorderen Begrenzung des Waldes, sicher nicht mehr als drei oder vier Stunden von seinem westlichen Rand entfernt, Ipcearn fast am entgegengesetzten Ende Cearns. Del und er mußten auf ihrem Weg dicht daran vorübergeschritten sein, aber das besagte nichts. Er hatte das nahezu unglaubliche Talent dieses Volkes, mit der Natur zu verschmelzen und sich unsichtbar zu machen, schon zur Genüge kennengelernt. Sie wären auch in wenigen Schritten Entfernung an Went vorübergegangen, ohne überhaupt zu bemerken, daß es hier eine Stadt gab, hätten sie nicht Coar und ihre Reiterinnen als Führer gehabt. Legte man die Strecke, die sie bis hierher zurückgelegt hatten, als Maßstab zugrunde, so war der Wald von Cearn nicht allzu groß; einen, anderthalb Tagesritte vielleicht in seiner längsten Ausdehnung, immer noch gewaltig für eine Oase, aber nicht so groß, wie er bisher vermutet hatte.

»Was ist auf der anderen Seite?« fragte er mit einer entsprechenden Geste. »Auch Wüste?«

Logar nickte. »Cearn ist auf allen Seiten von Wüste umschlossen, Skar. Und niemand weiß, was dahinter liegt, wenn dies deine nächste Frage ist. Keine unserer Expeditionen kam weit genug, um das Geheimnis der Nonakesh zu ergründen - falls es eines gibt.«

Skar hatte mit einemmal das Gefühl, daß Logar ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Aber er zog es vor, zu schweigen und abzuwarten. Wenn Logar ihm vertraute, würde er ihm früher oder später alles sagen, was er ihm jetzt vielleicht noch verschwieg. Wenn nicht, würden ihm auch Fragen nicht weiterhelfen. »Ich weiß; daß dir meine Worte seltsam erscheinen mögen, nach allem, was du erlebt und von Coar erfahren hast«, fuhr Logar nach kurzem Zögern fort, »aber du wirst sie gleich besser verstehen. Die Hoger leben nicht in Cearn. Würden sie ein Gebiet des Waldes bewohnen, dann wäre es ein leichtes, ihre schwache Stelle herauszufinden und die Gefahr ein für allemal zu beseitigen. Aber ihr eigentlicher Lebensraum ist die Wüste. Sie kommen nur von Zeit zu Zeit hierher und überfallen uns. Sie leben dort draußen, in großen, weitverzweigten Höhlen, einem Labyrinth, das uneinnehmbarer als die stärkste Festung ist.«

»Ihr kennt diese Höhlen?«

Logar nickte. »Ein paarmal haben wir versucht, sie auszukundschaften, aber diese Versuche kosteten vielen tapferen Männern und Frauen das Leben und brachten so gut wie keinen Nutzen, so daß wir es schließlich aufgaben und uns darauf beschränkten, sie uns vom Hals zu halten, so gut es ging. Es mag dir seltsam vorkommen, aber wir wissen nicht viel von unseren ärgsten Feinden. Sie haben einen Verbündeten, dem wir nicht gewachsen sind - die Wüste. Solange sie dort draußen sind, sind sie unangreifbar.«

Skar erhob sich aus der unbequemen, hockenden Stellung, in der er Logars Worten gefolgt war, sah noch einmal sinnend auf die Zeichnung vor sich im Sand und dann zu den dunklen Punkten im Westen hinüber. Sie waren nicht näher gekommen, hatten sich aber auch nicht entfernt, sondern schienen über einer bestimmten Stelle zu kreisen, wie es Geier oder anderes Raubzeug tut.

»Diese Hoger«, sagte er nach kurzem Überlegen, »was sind sie wirklich?« Er spürte, daß er sich mit dieser Frage auf ein gefährlich dünnes Eis hinauswagte, aber das Bild, das ihm Coar gezeigt hatte - die Khtaäm -, ging ihm nicht aus dem Sinn. Es war zu real gewesen, um ein bloßer Alptraum zu sein.

»Was sie sind?« wiederholte Logar, als verstünde er den Sinn der Frage nicht. »Vögel, Monster, Drachen, Dämonen - ich habe eine Menge Erklärungen gehört, seit ich sie das erste Mal gesehen habe, aber wenn ich ehrlich sein soll, hat mich keine befriedigt.«

»Etwas von allem«, antwortete Logar nach kurzem Zögern. »Sicher sind sie Vögel, aber sie sind intelligent und böse. Sie und die Khtaäm sind unsere ärgsten Feinde. Eigentlich sogar unsere einzigen. Cearn könnte ein Paradies sein, wenn sie nicht wären. Aber es ist nicht immer so schlimm wie jetzt. Außerhalb der Brutzeit lassen sie uns in Ruhe. Manchmal beschränken sie sich monatelang darauf, über dem Wald zu kreisen und von Zeit zu Zeit ein Reh oder ein streunendes Pferd zu schlagen. Aber wir haben genug über Hoger und den Tod geredet, für den Augenblick. Deinem Freund geht es besser, höre ich?«

Skar nickte, wenn er auch in Wirklichkeit lieber mehr über die geflügelten Todesboten erfahren hätte, statt mit Logar Konversation zu machen. Er haßte es, über einen Feind nichts zu wissen.

Und Logar hatte ihm nicht alles gesagt, das spürte er. Aber er respektierte auch die Tatsache, daß man hier nur ungern über dieses Thema zu reden schien. »Ich habe ihn noch nicht gesehen, seit ich aufgewacht bin«, sagte er. »Aber wenn man Thorandas Worten glauben darf, so hat er das Schlimmste überstanden.«

»Du kannst ihr glauben«, versicherte Logar lächelnd. »Sie versteht sehr viel von der Heilkunst. Ich hoffe, ihr werdet bald kräftig genug sein, nach Ipcearn zu reisen.«

»Ipcearn?«

»Ich sagte bereits, daß ich dich aus zwei Gründen rufen ließ, und dies ist der andere Grund. Die Botschaft von eurer Ankunft hat sich rasch verbreitet. Die Könige möchten euch sehen.«

»Könige?« wiederholte Skar verwirrt. »Aber ich dachte ...«

»Daß ich der Herr von Cearn bin?« Logar lachte leise. »Der Gedanke schmeichelt mir, Skar, aber ich bin nur ein kleiner Stadtkommandant ohne wirkliche Macht. Und ich weiß auch nicht, ob ich es bedauern soll, daß es so ist. Die Verantwortung für das Schicksal ganz Cearns wäre wohl zuviel für meine Schultern.« Er schüttelte den Kopf, seufzte und deutete vage in die Richtung, in der Ipcearn liegen mochte. »Unsere Könige lassen dich zu einem Besuch bitten - natürlich erst, wenn du kräftig genug dazu bist. Bis dahin bist du unser Gast. Du kannst dich überall in Went frei bewegen.« Er zögerte einen Moment, ging dann mit raschen Schritten zu der Bank zurück, auf der er anfangs gesessen hatte, und hob einen in weiße Tücher eingeschlagenen Gegenstand auf. »Deine Waffe«, sagte er.

Skar griff zögernd nach dem Schwert, wog es einen Augenblick nachdenklich in der Hand und schlug dann rasch die Tücher zurück. Er fühlte sich wesentlich besser, als er das vertraute Gewicht des Tschekal wieder an der Seite spürte.

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