Die Dunkelheit lastete wie eine schwarze, undurchdringliche Mauer vor den schmalen Fenstern. Auf dem Boden brannte eine kleine Öllampe, aber ihr Licht verbreitete keine Wärme, sondern nur trübe Helligkeit, die das finstere Schweigen ringsum noch zu vertiefen schien. Skar war lange durch Went geirrt, bis er schließlich hierher, zu Thorandas Haus, zurückgekehrt war. Das Gebäude erschien ihm größer und kälter als zuvor, ein gigantisches schweigendes Grab, noch einer von zahllosen Orten, die er betreten und über die er Tod und Leid gebracht hatte. Es war ganz egal, wohin er kam - alles, was er berührte, schien zu verderben, zu zerbrechen oder sich ins Gegenteil zu verkehren. Es hatte mit ihrem Marsch in die Wüste begonnen, aber erst jetzt begriff er, daß es kein Zufall war, sondern daß er einen bösen Fluch mit sich herumschleppte. Die Nonakesh hatte sie nicht freigelassen, sondern ausgespien, damit sie wie ein schleichendes Gift nach Cearn gelangen und das Werk vollenden konnten, das sie vor Jahrhunderten begonnen hatte.
Er sah auf, als ein Schatten über den geflochtenen Fußboden fiel. Es war Del. Skar lächelte matt. »Hallo. Schön, daß du kommst. Ich habe kaum noch zu hoffen gewagt, daß überhaupt noch jemand mit mir redet.«
Del bewegte sich einen Schritt in den Raum hinein und blieb stehen. »Glaubst du wirklich, daß das nötig war?« fragte er leise.
»Nötig?« Skar überlegte einen Moment und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht war es auch sinnlos.«
Del lächelte traurig. »Weißt du, was Bernec gerade tut?« fragte er.
Skar schüttelte erneut den Kopf. »Nein«, antwortete er, »und es interessiert mich auch nicht. Wir sollten verschwinden, Del. Sofort. Laß uns ein Pferd und Lebensmittel stehlen und fliehen.«
»Er hält Reden«, sagte Del, ohne seine Worte zu beachten. »Er hat ihnen alles erzählt. Von den Hogern, dem Fluß, Chaime ... Er putscht sie auf.«
»So?« machte Skar desinteressiert. »Tut er das? Ich hatte gedacht, daß der Schock länger anhält.«
»Ich glaube, du verstehst mich nicht«, sagte Del eindringlich. »Dieser Narr ist dabei, ganz Went in einen Hexenkessel zu verwandeln. Wenn ihn niemand aufhält, hat er sie in zwei Stunden soweit, daß sie ihm begeistert nach Ipcearn folgen!«
»Und was soll ich, deiner Meinung nach, dagegen tun?« fragte Skar ruhig. »Hinuntergehen und ihn auch noch erschlagen? Vielleicht auch gleich noch Nopath und die anderen?« Er seufzte. »Es ist zu spät, Del. Wir können nichts mehr tun. Gar nichts mehr. Die Dinge sind uns längst entglitten, wenn wir sie überhaupt jemals in der Hand gehabt haben. Das einzige, was uns noch bleibt, ist, zu verschwinden. Sofort. Ich will nicht auch noch mitansehen, wie dieses Volk zugrunde geht.«
»Dieses Selbstmitleid steht dir nicht«, murmelte Del.
»Selbstmitleid«, wiederholte Skar. »Vielleicht ist es das, mag sein. Aber ich will einfach nicht mehr, begreifst du das?«
»Du willst davonlaufen«, behauptete Del. »Du willst dich feige davonstehlen, das ist alles.«
Skar nickte. »Und wenn?«
Del verzog gequält das Gesicht. »Skar«, sagte er. »Ich ... ich weiß, wie du dich fühlst. Aber wir können jetzt nicht gehen! Nicht in diesem Moment!«
»Und was schlägst du vor?« fragte Skar sarkastisch. »Soll ich mir eine goldene Rüstung anlegen und an der Spitze von Bernecs Heer gegen Ipcearn reiten? Ich bin sicher, daß wir siegen. Zwei so fabelhaften Kriegern wie uns dürfte das nicht schwerfallen, dieses alberne Baumhaus zu stürmen. Überhaupt kein Problem.« Del knurrte. »Muß ich dich erst verprügeln, bis du Vernunft annimmst?« fragte er. »Oder hättest du vielleicht die Güte, die Scheuklappen wenigstens für fünf Minuten herunterzunehmen und mir zuzuhören?«
Skar gab einen seltsamen, halb amüsierten, halb wimmernden Laut von sich. »Bitte«, sagte er. »Ich höre. Welche Strategie schlägst du vor? Zünden wir Ipcearn an, oder versuchen wir es im Sturmangriff ?«
Del schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es gibt einen Weg«, sagte er. »Es gibt eine winzige Chance, Skar. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, das Schlimmste zu verhindern. Ich habe mit Coar gesprochen.«
Skar hob verwirrt den Blick. »Coar?«
Del nickte. »Sie verachtet dich nicht, wenn du das glaubst. Ich glaube, sie ... sie hat nur noch Mitleid für dich.«
»Was soll das?« schnappte Skar wütend.
Del machte eine besänftigende Handbewegung. »Wir können Bernec nicht mehr aufhalten«, sagte er. »Selbst wenn wir ihn töten, würde das die anderen nur noch mehr aufbringen. Aber es gibt vielleicht einen anderen Weg.«
»Und welchen?«
»Wir müssen nach Ipcearn«, sagte Del nach einer langen, hörbaren Pause. »Nur du und ich und Coar und Bernec.«
»Du mußt verrückt sein«, sagte Skar, »wenn du glaubst, daß er sich darauf einläßt.«
»Vielleicht doch«, antwortete Del hastig. »Wir müssen es versuchen, Skar! Es ist unsere letzte Chance. Ihre letzte Chance. Wenn es uns gelingt, Seshar unschädlich zu machen, können wir den Krieg noch verhindern.«
»Noch ein Mord?« fragte Skar.
Del verzog das Gesicht. »Der Gedanke gefällt mir ebensowenig wie dir. Aber ich sehe keinen anderen Weg. Es ... es geht nicht mehr ohne Blutvergießen ab, Skar, so grausam es klingt. Aber du hast die Wahl zwischen einem Menschenleben und hunderten.«
Skar schwieg betroffen. Es war das alte Problem, ob man Menschenleben gegeneinander aufrechnen durfte, ob irgend jemand - ganz egal, aus welchen Gründen - das Recht besaß, über Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden. Niemand hatte es je gelöst, und auch ihnen würde es nicht gelingen. Aber vielleicht mußten sie das Falsche tun, um am Ende das Richtige zu erreichen. Vielleicht, dachte er matt, würden sie auch bei dem Versuch sterben, Ipcearn zu betreten. Und vielleicht war es das beste.
Er stand auf und ging an Del vorbei zur Tür.