Del war noch immer ohne Bewußtsein, als Skar am späten Nachmittag zurückkam und nach ihm sah. Logar hatte noch lange mit ihm geredet, fast drei Stunden, in dem er ihm viel von Went gezeigt und erklärt hatte, ohne ihm im Grunde wirkliche Informationen zu geben. Wie viele Männer in ähnlichen Positionen, die Skar kennengelernt hatte, beherrschte er die Kunst, viel zu reden, ohne eigentlich etwas zu sagen. Doch auch von dem Wenigen, das er letztlich erfahren hatte, schwirrte Skar bereits der Kopf.
Lange Zeit blieb er neben Dels Lager sitzen und betrachtete den reglos daliegenden Satai. Wie er selbst trug auch Del keinen Verband mehr, und wie bei ihm, war die Wunde nahezu verheilt und zu einer dünnen roten Linie geworden, die Wochen oder gar Monate alt schien statt weniger Tage. Er überlegte einen Moment, ob er Del wecken und mit ihm reden sollte, ließ es aber dann bleiben. Dringender noch als er selbst benötigte Del jetzt Ruhe, Ruhe und noch einmal Ruhe. Thoranda hatte für ihn getan, was in ihrer Macht stand, und das war nicht wenig gewesen; den Rest mußten die Natur und sein Körper erledigen. Wenn Dels Heilung ebenso phantastisch schnell vor sich ging wie seine eigene, würde er vielleicht in wenigen Tagen bereits soweit sein, aufzustehen und die ersten vorsichtigen Schritte zu tun.
Schließlich stand er auf und verließ leise die Kammer. In seinem Mund war ein übler, pelziger Geschmack, und ihm fiel wieder ein, daß er seit seinem Erwachen weder etwas gegessen noch getrunken hatte. Der Hunger war während der letzten Wochen zu seinem ständigen Begleiter geworden, und er hatte sich an das flaue Gefühl in seinem Magen und den vagen Schmerz in den Eingeweiden schon beinahe gewöhnt, aber die Entbehrungen hatten auch sichtbare Spuren an seinem Körper hinterlassen. Er hatte etwa zwanzig Pfund abgenommen, auch für einen Mann seiner Statur mehr, als zu verantworten war, und selbst die wenigen Schritte, die er zusammen mit Logar gemacht hatte, hatten ihn spürbar erschöpft. Insgeheim gestand er sich ein, daß Thoranda wohl recht hatte - er brauchte dringend eine Erholuagspause, Tage, wahrscheinlich Wochen der Muße, Zeit, seine Kräfte zu regenerieren und behutsam damit zu beginnen, seine alte Kondition wieder zurückzuerlangen. Er würde Logar um ein Pferd bitten, um die nähere Umgebung Wents zu erkunden und gleichzeitig ein wenig Bewegung zu bekommen.
Dumpfes Stimmengewirr drang ihm von unten entgegen, als er über die gewendelte Treppe hinabstieg. Als er das Gebäude betreten hatte, war der große Raum hinter der Tür leer gewesen. Nun schien er bis zum Bersten mit Menschen gefüllt - Männer und Frauen in Rüstungen oder braunen und grünen, gefleckten Gewändern, Kleidung, in der sie draußen im Wald nahezu unsichtbar sein mußten; Krieger, wie Skar nach einem raschen Rundblick erkannte, wenn auch nicht einer von ihnen eine Waffe trug.
Die Gespräche verstummten nach und nach, als er unter der Tür erschien, als würde sich eine unsichtbare Welle des Schweigens durch den Raum ausbreiten und nach und nach auch den letzten in ihren Bann schlagen. Und im gleichen Maße, in dem die Unterhaltungen erloschen, wandten sich ihm auch die Gesichter der Anwesenden zu, bis Skar sich schließlich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit sah: ein Gefühl, das alles andere als angenehm war. Er bewegte sich unbehaglich auf der Stelle, machte einen Schritt in den Raum hinein und blieb abermals stehen, als die Männer und Frauen vor ihm zur Seite wichen und eine Gasse bildeten.
Skar atmete innerlich auf, als er Coar zwischen den Kriegern erkannte. Sie wirkte verändert. In dem schlichten, weißen Gewand, das sie nun trug, hätte er sie beinahe nicht wiedererkannt. Ihr Haar war jetzt hochgesteckt und zu einer ebenso einfachen wie raffinierten Frisur getürmt, und auf ihrem Gesicht lag ein seltsamer, schwer zu bestimmender Ausdruck, etwas, das irgendwo zwischen einem Lächeln und einem Gefühl von Bewunderung, ja beinahe Ehrfurcht zu schwanken schien. Sie trat rasch auf ihn zu, legte ihm in einer vertrauten Geste die Hand auf die Schulter und führte ihn neben sich her. Die Berührung schien die Spannung zu lösen. Die Unterhaltungen kamen nach und nach wieder in Gang, und Skar registrierte erleichtert, wie sich die Männer und Frauen wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten.
»Ich freue mich, daß du wieder gesund bist«, begann Coar. »Und auch Del geht es besser, höre ich?«
»Ich war oben bei ihm. Er schläft, aber er hat das Schlimmste überwunden. Thorandas Medizin hat ein Wunder bewirkt. Was hat diese Versammlung zu bedeuten?«
Coar machte eine weit ausholende Handbewegung, die den Raum und die versammelten Krieger einschloß. »Majall und Senja«, sagte sie. »Die beiden Kriegerinnen, die den Hogern zum Opfer fielen. Du erinnerst dich?«
Skar nickte.
»Wir ...«, fuhr Coar fort, stockte und suchte einen Moment nach Worten, um dann noch einmal von vorne zu beginnen. »Heute ist der dritte Tag«, sagte sie. »Diese Männer und Frauen waren ihre Kameraden. Sie geben ihnen das letzte Geleit. Eine Ehre, die jedem Krieger zukommt.«
Skar dachte mit einem Gefühl leiser Verwunderung an die beiden Körper, die vor seinen Augen draußen im Wald verscharrt worden waren. »Ihr habt sie ... geholt?« fragte er.
»Geholt?« Coar schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein«, sagte sie dann. »Ihr begrabt die Körper eurer Toten mit großen Ehren, da wo du herkommst, nicht?«
»Manchmal.«
»Verzeih, daß ich nicht daran dachte, Skar, aber unsere Sitten unterscheiden sich in diesem Punkt von den euren. Ich habe gehört, daß es anderenorts üblich ist, die Körper der Toten zu verehren. Bei uns ist dies anders. Auch wir gedenken unserer Toten, aber wir verehren nicht die Hülle, sondern den Geist eines Menschen.«
»Wir auch«, entgegnete Skar hastig. »Nur ...« Er brach ab, suchte vergebens nach den passenden Worten und fand schließlich Zuflucht in einem verlegenen Lächeln. Er war fremd hier. Die Sitten dieses Volkes mochten ihm bizarr erscheinen, aber er hatte nicht das Recht, darüber zu urteilen.
»Wir wissen viel zuwenig voneinander«, sagte Coar, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Es gibt so viel, was ich von dir wissen möchte, von dir, dem Land, aus dem du kommst, den Menschen, die dort leben ... stimmt es, daß es dort Städte gibt, die größer als ganz Cearn sind?«
Skar lächelte. »Nein«, sagte er. »Größer als Went sicher, aber nicht größer als ganz Cearn. Zumindest nicht in dem Teil der Welt, den ich kenne.«
»Den du kennst? Auch du kennst sie nicht ganz?« Die Frage schien Skar naiv, aber er gab sich Mühe, sie möglichst ernsthaft zu beantworten. »Natürlich nicht. Enwor ist groß, unendlich groß. Niemand lebt lange genug, es völlig kennenzulernen.«
»Enwor?« Coar runzelte die Stirn. »Ist das der Name, den die Menschen draußen für die Welt haben? Enwor? Enwor ...« Sie wiederholte das Wort ein paarmal, als wolle sie sich an seinen Klang gewöhnen. »Enwor ... Es klingt gut. Aber auch ein wenig traurig. Was heißt es?«
»Nichts. Nichts Bestimmtes. Ein Name eben. Ihr habt einen anderen?«
»Für die Welt?« Coar schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ihn nicht.«
»Aber die Welt besteht nicht nur aus Cearn«, widersprach Skar sanft. »Auch wenn ihr hier lebt und Cearn vielleicht niemals verlassen könnt, so gibt es doch noch eine Welt jenseits der Wüste.«
»Für uns nicht, Skar«, entgegnete Coar ernsthaft. »Nimm mich als Beispiel. Ich wurde hier geboren und wuchs hier auf, und irgendwann werde ich hier sterben. Keiner von uns wird Went jemals verlassen. Wozu auch? Wir dienen dem Wald, und er dient uns. Er erhält uns am Leben, so wie wir ihn am Leben erhalten. Keiner von uns könnte ohne den anderen existieren. Es gibt keinen Grund, von hier fortzugehen.«
»Du hast niemals auch nur daran gedacht?« fragte Skar zweifelnd. Für ihn war der Gedanke, sein gesamtes Leben an einem einzigen Ort zu verbringen, schlichtweg unvorstellbar. Nicht einmal die unendlichen Prärien Malabs hatten ihn halten können, obwohl er dort die vielleicht friedvollsten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Wenn es eine Zeit der Ruhe und des Friedens in seinem von Kämpfen und Abenteuern bestimmten Leben gegeben hatte, so dort. Aber nicht einmal da hatte es ihn halten können.
»Daran gedacht...«, sagte Coar nachdenklich. »Sicher. Früher einmal. Vielleicht denkt jeder daran, irgendwann. Als Kind ... auch später, bevor er seine Aufgabe gefunden hat. Aber es ist unmöglich. Cearn braucht uns, wie wir Cearn brauchen.« Skar hatte den Eindruck, einen einstudierten Text zu hören, etwas, das diesem jungen Mädchen - und nicht nur ihr - so oft eingehämmert worden war, bis sie es stur wiederholte, ohne auch nur nach dem Sinn dieser Worte zu fragen.
»Unmöglich ...«, wiederholte er. »Vieles erscheint unmöglich, bevor man es tut.«
»Es ist unmöglich«, antwortete Coar überzeugt. Sie schien noch mehr sagen zu wollen, wandte sich aber dann mit einer plötzlichen Bewegung um und ging hastig zum Ausgang. Sie machte ein paar Schritte auf die Rampe hinaus und blieb stehen, die Hand um das schmale Geländer geklammert. Die Sonne hatte mittlerweile den größten Teil ihrer Tageswanderung zurückgelegt und neigte sich dem Horizont entgegen. Die Wipfel von Cearn waren mit rotem Licht übergossen und schienen in Flammen zu stehen: ein friedliches, sanftes Bild, das ihm aber keine Ruhe brachte, sondern im Gegenteil in Skar Erinnerungen an die braune, trostlose Einöde jenseits des Waldes weckte. Für einen Augenblick glaubte er wieder den Hauch des Todes zu spüren, der wie eine unsichtbare Aura über der Nonakesh lastete. Er schauderte.
»Went ist groß«, begann Coar nach einer Weile, »aber die Wüste, die ihr durchquert habt, ist hundertmal größer. Es ist sicher das falsche Wort, aber von deinem Standpunkt aus sind wir Gefangene, wenn auch Gefangene in einem Gefängnis, aus dem keiner von uns zu fliehen wünscht. Die Wüste ist unendlich.«
»Und doch kann man sie durchqueren«, widersprach Skar. »Del und ich haben es getan.«
»Zwei einzelne Männer«, nickte Coar. »Verzweifelte, die auf der Flucht waren und keine Wahl hatten, und auch nur zwei von Hunderten, vielleicht Tausenden, die es versucht haben.«
»Wir waren nicht die ersten«, erinnerte Skar.
»Das stimmt. Doch ihr seid die ersten seit langer Zeit, solange ich lebe, zumindest. Und die, denen es vorher gelang, waren Verzweifelte wie ihr, Männer, die nichts mehr zu verlieren hatten. Außerdem«, fügte sie nach einer fast unmerklichen Pause hinzu, »führt der Weg durch die Nonakesh nur in eine Richtung. Und sie ist wählerisch, Skar.«
»Jetzt übertreibst du«, murmelte Skar. »Sie ist kein Lebewesen, sondern nichts als totes Land.«
»Bist du sicher?« fragte Coar ruhig. »Ich dachte, du hättest sie kennengelernt. Diese Wüste ist mehr als totes Land, wie du es nennst. Sie ist böse, böse und heimtückisch. Manchmal, wenn es ihrer Laune entspricht, läßt sie einen Mann durch, doch sie läßt ihn nie wieder hinaus. Einen von uns würde sie nicht passieren lassen. Es mag dir albern erscheinen, aber wir wissen, daß sie unser Feind ist. Wir hassen sie, und sie haßt uns. Wir führen seit Jahrhunderten Krieg gegeneinander, einen erbarmungslosen Krieg, in dem es keine Gefangenen und keinen Waffenstillstand gibt, Skar. So, wie wir sie schlagen, wenn sie versucht, in Cearn einzufallen, so vernichtet sie jeden Cearner, der einen Fuß auf ihr Gebiet setzt. Menschen wie dich und Del mag sie durchlassen, aber wir sind ihre Kinder, Skar. Sie haßt uns.«
»Und ihr habt euch niemals gefragt, was dahinter liegt?« fragte Skar. »Ihr habt nie versucht, ihr Geheimnis zu ergründen?«
Coar schwieg einen Moment. Sie schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken und beugte sich weit hintenüber über das Geländer, so daß der dünne Stoff ihres Gewandes über Schultern und Brust spannte und die Konturen ihres Körpers deutlich nachzeichnete. Skar verspürte plötzlich eine sanfte, warme Regung. Wie schon zuvor beim Anblick Larynns regte sich der Mann in ihm, und trotzdem war es ein Gefühl ganz anderer Art.
Unsinn, dachte er verärgert. Du kannst sie nicht lieben. Sie ist eine Frau und erregt dich, aber das ist ganz natürlich, nach all der Zeit. Aber Liebe ... Er wußte von Coar kaum mehr als ihren Namen. Wie konnte er sie da lieben?
»Natürlich habe ich mich gefragt, was dahinter liegt«, knüpfte Coar nach einer Weile an den Gedanken an. »Die Welt - Enwor, wie du sie nennst -, und natürlich habe ich mir gewünscht, sie zu sehen, aber diesen Wunsch hat wohl jeder von uns einmal verspürt. Du hältst uns für Gefangene, Skar, aber das stimmt nicht. Was hat deine Welt zu bieten, das es in Cearn nicht gäbe?«
Skar wollte antworten, aber ein Blick auf die friedvolle, halb in Dämmerung versunkene Stadt unter sich ließ ihn verstummen. Was hätte er antworten sollen? Was gab es - ganz egal wo auf Enwor -, das es wert gewesen wäre, gegen die friedvolle Schönheit dieses Landes eingetauscht zu werden? Del und er waren auf dem Wege in den Krieg gewesen, als es sie in die Nonakesh verschlagen hatte, und es war nicht der erste Krieg in ihrem Leben. All die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten, waren ein Hetzen von einer Auseinandersetzung zur anderen, von einer Gefahr zur nächsten gewesen, und er hatte schon vor vielen Jahren aufgehört, die Zahl der Kämpfe behalten zu wollen, die sie durchgestanden hatten. Natürlich war sein Leben nicht die Norm - Del und er waren Satai, Angehörige einer Kaste, deren Handwerk Krieg und Überleben waren. Aber er hatte diese Art zu leben nicht von ungefähr gewählt, nicht aus Lust am Töten oder am Krieg, sondern weil es in einer Welt wie Enwor die sicherste Art zu überleben war. In einer Welt, in der nur Gewalt zählte, überlebte der Stärkste.
Er seufzte, drehte sich um und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Was liegt dort?« fragte er.
»Wüste, Skar. So wie dort und dort und dort.« Coar deutete nacheinander in die übrigen drei Himmelsrichtungen und schwieg einen Moment. »Und irgendwo dahinter«, fuhr sie dann in einem Tonfall, der Skar unwillkürlich aufhorchen ließ, fort, »Urcaun.«
»Urcöun? Was ist das?«
»Unsere Heimat«, entgegnete Coar. »Die Heimat unserer Vorfahren. Und unsere, wenn sie auch keiner von uns je gesehen hat.«
»Cearn ist nicht ... eure Heimat?« fragte Skar, nun vollends verwirrt.
»Nein.« Coar sah auf. In ihren Augen erschien ein seltsamer, wehmütiger Ausdruck, und ihre Stimme schien um mehrere Nuancen weicher, als sie fortfuhr: »Es wurde zu unserer Heimat, Skar, vor langer, langer Zeit. Vielleicht ist Heimat das falsche Wort. Exil wäre richtiger. So, wie sich unser Volk von einem Volk des Friedens zu einem Volk von Kriegern veränderte, so wurde aus einer winzigen Oase ein Wald und aus einem Wald Cearn.«
Skar war der Unterschied zwischen dem Wort Wald und Cearn nicht ganz klar, aber er hatte den Eindruck, daß er im Moment besser schwieg.
Coar machte eine unbewußte Kopfbewegung, die verriet, daß sie ihr Haar normalerweise offen trug und es gewohnt war, sich von Zeit zu Zeit eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu schütteln. Ihre Hand löste sich vom Geländer und tastete in einer vertrauten Geste nach Skars Fingern. Erneut durchströmte ihn ein Gefühl tiefer Wärme und Zuneigung, zu stark diesmal, um es noch wegzuleugnen. Und trotzdem spürte er, daß sich Coar bei dieser Art von Vertrautheit nichts dachte. Die Art, in der sie nach seiner Hand gegriffen und sie genommen hatte, war zu natürlich und offen, um noch Platz für Heimlichkeiten zu haben. Vielleicht gab es bei den Cearnern kein Berührungstabu wie andernorts. »Wir haben noch ein wenig Zeit«, sagte Coar, während sie langsam nebeneinander die schräge Rampe hinuntergingen. »Die Zeremonie beginnt erst, wenn die Sonne vollkommen untergegangen ist. Wenn es dich interessiert, dann erzähle ich dir die Geschichte unseres Volkes. Sie ist nicht lang. Nicht lang zu erzählen, zumindest.« Skar nickte stumm.
»Vor langer Zeit«, begann Coar, »lebte unser Volk nicht hier in der Wüste, sondern in Urc, einem Land voller Frieden und Reichtum und fröhlicher Menschen. Niemand kannte den Krieg, und das Land war reich genug, daß keiner Not leiden mußte. Unsere Hauptstadt war Urcöun - eine mächtige und stolze Burg mit Mauern, höher als die Wipfel Cearns und stärker als der stärkste Baum. Jahrhunderte um Jahrhunderte lebte das Volk von Urc im Schutze seiner mächtigen Türme, und die Wüste, die das Land umgab, gewährte ihm zusätzlichen Schutz. Doch diese Sicherheit erwies sich schließlich als Fluch. Unsere Vorfahren wurden leichtsinnig, und sie begriffen zu spät, daß Neid und Habgier anderenorts ebenso zum Wesen des Menschen gehörten wie hier Liebe und Freundlichkeit. Die Kunde vom Reichtum Urcs sprach sich herum, und eines Tages erschien eine Flotte von mächtigen Schiffen vor seiner Küste, Schiffe, die Krieger brachten, denen die friedlichen Bewohner Urcs nichts entgegenzusetzen hatten. Krieg und Terror überzogen das Land, wo früher Frieden und Liebe geherrscht hatten. Unser Volk war es nicht gewohnt zu kämpfen, und die schwarzen Horden verwüsteten Urc, ohne daß wir sie aufhalten konnten. Schließlich blieb nur noch Urceun, die letzte Feste, die den wenigen Überlebenden Schutz bot.«
Sie hatten den Fuß der Rampe erreicht, und Coar stockte für einen Moment, ehe sie sich nach rechts wandte, Skars Hand losließ und sich bei ihm unterhakte. Ihr Kopf schmiegte sich warm und weich an seine Schulter, und von ihrem Haar stieg ein betörender Duft in seine Nase.
»Doch selbst Urcöuns Mauern konnten dem Ansturm des Feindes nicht standhalten«, fuhr sie nach einer Weile fort. Sie hatte eine angenehme Art zu erzählen, fand Skar. Leise und ruhig, die Stimme ein sanfter Singsang, der mit seiner Betonung ebensoviel erzählte wie die Worte. Er hörte ihr gerne zu. »Seine Bewohner wagten einen letzten, verzweifelten Ausbruch. Nicht viele überlebten die Schlacht, in der sich in jener Nacht das Schicksal unseres Volkes auf Generationen hinaus entschied, und die wenigen, die davonkamen, mußten fliehen, verfolgt von einem Feind, der kein Erbarmen kannte. Sie flohen in die einzige Richtung, die ihnen blieb.«
»Hierher?«
Coar schüttelte den Kopf. »Cearn existierte damals noch nicht. Nicht in der Form, in der du es kennst. Sie flohen in die Wüste, den sicheren Tod vor Augen. Viele fielen unter den Pfeilen der Verfolger, und noch mehr starben unter der tödlichen Glut der Sonne. Von einem Volk, das nach Hunderttausenden zählte, erreichte nicht mehr als eine Handvoll die rettende Oase. Aber sie schworen Rache. Niemals, niemals würden sie vergessen, wie es war, wie unbarmherzig der Feind sie überfallen und unter ihnen gewütet hatte, ihre Väter und Mütter und Brüder und Schwestern getötet und die fruchtbaren Ebenen Urcs verheert hatte. Sie waren nur wenige, aber sie waren beseelt vom Feuer der Rache. Sie fanden den Wald, und sie schworen, eines Tages zurückzukehren und Urc zurückzuerobern. So wurden wir ein Volk von Kriegern, Skar. Went mag dir friedlich erscheinen, aber es ist eine Festung. Schon unsere Kinder lernen den Umgang mit Waffen, und wenn wir eines Tages wieder vor den Toren Urcöuns stehen, werden wir kein Haufen wehrloser Bauern mehr sein, sondern Krieger.«
Skar schwieg lange, lange Zeit, nachdem Coar mit ihrer Geschichte zu Ende gekommen war. Sie hatten sich weit von Thorandas Haus entfernt, und die moosbewachsenen Stämme Wents umgaben sie wie Säulen einer gigantischen schweigenden Kathedrale, deren Kuppel vom flackernden Grau der hereinbrechenden Dämmerung gebildet wurde. Die Stille fiel ihm auf. Die Häuser neben und über ihnen schienen wie ausgestorben dazuliegen, und obwohl er angestrengt lauschte, konte er nicht den leisesten menschlichen Laut wahrnehmen. Hinter keinem der Fenster brannte Licht, und für einen Moment fühlte er stärker denn je, daß er in Wirklichkeit nicht mehr als ein Eindringling war, ein Fremder, der sicher freundlich aufgenommen worden war, aber stets ein Fremder bleiben würde. Zwischen ihm und diesen Menschen bestand ein Graben, eine unsichtbare Mauer, die er niemals ganz würde durchdringen können. Es waren zwei verschiedene Welten, seine und ihre, und es gab keine Berührungspunkte, keine Brücken, die von einer zur anderen führten.
»Eine schöne Geschichte«, sagte er. »Schön und traurig, aber doch nicht mehr als eine Geschichte.«
Coars Kopf löste sich von seiner Schulter. »Du glaubst sie nicht?«
Skar lächelte. »Doch. Das heißt - ja und nein. Alte Geschichten sind selten ganz wahr, ebenso wie sie selten ganz erlogen sind. Und ich habe die Erfahrung gemacht, daß jedes Volk seine Vision vom Paradies hat. Und ihr seid kein Volk von Kriegern.«
Seine Worte schienen Coar zu verletzen. Sie ließ seinen Arm los, trat einen Schritt zur Seite und sah ihn erschrocken an.
Skar hatte plötzlich das Gefühl, etwas sehr Dummes gesagt zu haben - wie schon so oft hier. »Verzeih«, murmelte er. »Ich ... wollte dir nicht weh tun.«
»Das ... hast du nicht«, sagte Coar hastig, aber ihr Blick sagte das Gegenteil. Plötzlich lächelte sie wieder, aber Skar war sicher, eine deutliche Spur von Trauer und Resignation darin zu erblikken. »Du hast das Recht, so zu denken. Wenn die Männer dort, wo du herkommst, alle so kämpfen wie du, magst du uns wirklich nicht als Krieger ansehen.«
Skar hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. »So habe ich es nicht gemeint«, widersprach er lahm. »Auch in meiner Heimat kämpfen die Menschen nicht besser als ihr. Es ist nur ...« Er brach ab, ballte wütend die Faust und schlug sich wuchtig gegen die Oberschenkel. »Ach verdammt«, stieß er hervor. »Ich habe Blödsinn geredet. Vergiß es, wenn du kannst.«
Sie schwieg einen Moment, senkte den Blick und schmiegte sich erneut an ihn. Ihre Hände wanderten an seinen nackten Armen empor und legten sich in seinen Nacken. Aber der Zauber des Augenblicks war dahin und ihr Verhalten nicht mehr als eine leere Geste ohne echte Bedeutung. Für einen flüchtigen Augenblick hatte es so etwas wie ein zartes Band von Vertrauen zwischen ihnen gegeben, aber er hatte es mit ein paar dummen und unüberlegten Worten zerstört.
Er löste vorsichtig ihre Arme von seinem Hals und schob Coar auf Armeslänge von sich. »Müssen wir nicht zurück?« fragte er. Er spürte, wie Coar unter der Berührung seiner Finger erschauerte. »Die anderen werden bereits auf dich warten.«
Coar nickte, aber es war eine Bewegung voller Widerwillen. Sie drehte sich um und wollte den Weg zurückgehen, den sie gekommen waren, aber Skar hielt sie mit einem raschen Griff zurück. »Ich weiß nicht, ob ich gegen ein Tabu verstoße, wenn ich die Frage stelle«, sagte er zögernd. »Aber ... kann ich dabeisein?«
»Natürlich«, antwortete Coar. Das Wort kam so schnell, als hätte sie nur darauf gewartet, daß er diese Frage stellte. »Sie waren deine Kameradinnen ebenso wie meine. Es wäre eine Ehre für uns, wenn du an der Zeremonie teilnehmen würdest. Kannst du wieder reiten? Es ist weit.«
»Sicher.«
»Dann komm«, sagte Coar.