De Pferde warteten am Westtor auf sie. Ein knappes Hundert Berittener hatte rechts und links des Pfades Aufstellung genommen und gab ihnen ein letztes, stummes Geleit. Die Sonne schien heißer als normal vom Himmel zu brennen, und als Skar nach Westen sah, glaubte er hinter dem Wald einen dünnen, safranbraunen Streifen zu erkennen, ein stummer Gruß der Nonakesh, die letzte Verbeugung vor dem Gegner, bevor der Kampf begann.
Ein leiser, langsam anschwellender Gesang wehte aus Went zu ihnen heraus, als sie sich in die Sättel schwangen und nacheinander durch das Tor ritten, der gleiche Gesang, den er schon einmal gehört hatte, als er an der Beerdigungszeremonie teilnahm. Er fror plötzlich.
Sie verließen Went, ritten eine Weile nach Süden und wandten sich dann, nachdem sie den Ring aus tödlichen Fallen, der die Stadt umgab, durchquert hatten, nach Westen, dem gleichen Weg folgend, den sie vor fünf Tagen schon einmal genommen hatten. Wie beim ersten Mal sprach auch diesmal keiner von ihnen ein Wort, wenn auch aus anderen Gründen. Einmal, etwas weniger als eine halbe Stunde, nachdem sie Went hinter sich gelassen hatten, zog ein schwarzer, dreieckiger Schatten hoch über ihnen am Himmel nach Westen, aber wenn das Tier die Gruppe überhaupt bemerkte, so schien sie ihm als Beute wohl zu groß. Sie erreichten unbehelligt das westliche Ende Cearns, durchquerten behutsam den vorgelagerten Streifen und standen schließlich auf dem Kamm der äußersten Düne.
Heißer, trockener Wüstenwind schlug ihnen entgegen, und die endlosen Sanddünen vor ihnen schienen in der hitzeflimmernden Luft zu verschwimmen, so daß der Horizont nicht klar erkennbar, sondern nur ein ungewisses blaues Etwas in unendlicher Entfernung war. Skar zog die Kapuze seines Umhanges tiefer in die Stirn und überzeugte sich davon, daß seine Waffen griffbereit am Sattel hingen. Sie alle hatten sich in knöchellange, hochgeschlossene Mäntel von sandbrauner Farbe gehüllt, und selbst die Tiere waren mit Decken aus dem gleichen Material behängt worden, die sie gleichermaßen vor der Hitze wie vor einer Entdeckung aus der Luft schützen sollten. Skar suchte aus zusammengekniffenen Augen den Himmel ab. Er war leer, eine stahlblaue, gnadenlose Kuppel, aus deren Zenit das rote Auge der Sonne auf sie herabstarrte und die sie allein durch ihre Größe zu verspotten schien. Der Wind spielte raschelnd mit Sand, zauberte dünne, zerbrechliche Gebilde aus Staub und Illusion vor ihnen in die Luft und ließ sie die Hitze noch mehr spüren. Obwohl sie erst vor wenigen Minuten gerastet und ausgiebig getrunken hatten, fühlten sich Skars Lippen plötzlich trocken und spröde an. Er wußte, daß die Wüste ihn wiedererkannte. Er war ihr einmal entronnen, aber nun war er wieder da, nicht als Flüchtling diesmal, sondern als Herausforderer. Mit dem ersten Schritt, den er tat, würde er ihr den Fehdehandschuh ins Gesicht schleudern. Und sie würde die Herausforderung annehmen.
»Los«, kommandierte Bernec.
Sie ritten los, nicht hinter-, sondern nebeneinander diesmal, in einer weit auseinandergezogenen Kette, selbst für einen Hoger schwer zu entdecken und noch schwerer anzugreifen. Die sandbraunen Mäntel ließen sie fast mit dem Wüstenboden verschmelzen, und selbst Skar hatte nach einiger Zeit Mühe, die Reiter am jenseitigen Ende der Kette vor dem eintönigen Hintergrund der Wüste zu erkennen.
Es wurde heißer, rascher, als er befürchtet hatte. Der Wüstensand schien das Sonnenlicht wie ein gigantischer Spiegel zurückzuwerfen, und Skar ertappte sich mehr als einmal dabei, wie seine Hand unter den Umhang glitt und nach der Wasserflasche tastete. Aber er beherrschte sich. Ihr Wasservorrat war reichlich, aber begrenzt, und keiner von ihnen wußte, was sie dort draußen wirklich erwartete und wie lange sie vielleicht in dem unterirdischen Labyrinth bleiben mußten. Sie würden trinken, bevor sie in die Höhlen eindrangen. Vielleicht hatten sie hinterher keine Zeit mehr dafür.
Der Ritt zog sich quälend in die Länge. Die Zeit schien erstarrt zu sein, und die Sonne hing wie festgeklebt am Himmel und weigerte sich, weiterzuwandern. Die Schritte der Pferde wurden schleppender, und Skar begann die Hitze stärker zu spüren. Seine Augen schmerzten von der unerträglichen Helligkeit, und seine Lippen trockneten aus und rissen. Wider besseres Wissen trank er schließlich doch einen Schluck Wasser, aber sein Durst war hinterher eher größer.
Sie waren etwa zwei Stunden geritten, als einer der Männer plötzlich anhielt und einen schrillen, abgehackten Ruf ausstieß. Skar drängte sein Pferd herum und ritt rasch auf den Mann zu; die anderen folgten seinem Beispiel.
»Was ist los?« fragte Skar, als er neben dem Reiter angelangt war.
Statt einer Antwort deutete der Mann stumm auf den Sand vor sich.
Im ersten Augenblick konnte Skar nichts Auffälliges entdecken, aber dann sah er, was der Mann meinte. Der Wüstenboden war vor ihnen entlang einer schnurgeraden Linie aufgeworfen. Eine flache, der chaotischen Symmetrie der Dünen hohnsprechende Linie, die irgendwo hinter ihnen begann und so weit sie sehen konnten nach Westen lief.
»Was ist das?« fragte Skar.
Der Mann zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Es ist das erste Mal, daß ich so etwas sehe.« Er sprang aus dem Sattel und wollte sich bücken, um mit der Hand über die Erhebung zu tasten, aber Skar hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Nicht!« Er löste den Bogen von seinem Sattel, beugte sich vor und stocherte vorsichtig damit rechts und links der Verwerfung im Boden. Der Sand schien ihm ungewöhnlich locker, als wäre jemand mit einer gewaltigen Egge durch die Wüste gefahren und hätte den Boden entlang dieser willkürlich gezogenen Linie aufgeworfen. Oder als hätte sich irgend etwas dicht unter der Oberfläche hindurchgegraben.
Er richtete sich auf und gab dem Mann ein Zeichen, ebenfalls wieder in den Sattel zu steigen. »Gibt es Tiere hier draußen?« fragte er.
»Tiere?« Bernec lachte hart auf. »Dies ist die Nonakesh, Skar.«
Skar drehte sich nachdenklich im Sattel um und verfolgte die Linie mit Blicken. Verlängerte er sie in Gedanken, mußte sie genau in Cearn enden. Aber der Gedanke war zu phantastisch, um ihn laut auszusprechen.
»Reiten wir weiter«, murmelte er.
Die Männer kehrten auf ihre vorherigen Positionen zurück und setzten ihren Weg fort. Sie bewegten sich weiter durch die Sonnenglut nach Westen. Einmal sahen sie eine Abteilung Hoger, die weit über ihnen an der Sonne vorbeistrichen, aber die Tiere waren zu hoch, um Notiz von ihnen zu nehmen, und sie zogen nach Osten, in Richtung Cearn. Skar sah, wie Coar den Kopf hob und ihnen nachstarrte, selbst als sie längst außer Sicht waren. Vielleicht würde Went neue Opfer zu beklagen haben, wenn sie zurückkehrten.
Nach einer Weile stießen sie auf eine zweite Verwerfung. Sie begann übergangslos vor ihnen im Wüstenboden und führte zielstrebig nach Osten, um wenig mehr als eine Meile später wieder zu verschwinden. Und es blieb nicht die letzte. Je weiter sie nach Osten kamen, desto häufiger wurde das Phänomen, und einmal durchquerten sie ein regelrechtes Feld dieser geraden, auf unwirkliche Weise bedrohlich wirkenden Linien.
Das Unglück geschah, als sie nur noch wenige Meilen vom Eingang der Höhlen entfernt waren. Der Reiter am äußersten linken Ende der Kette warf plötzlich die Arme in die Luft und stieß einen halblauten Ruf aus. Sein Pferd tänzelte nervös und versuchte auszubrechen, so daß er es nur noch mit äußerster Kraft halten konnte. Er deutete wild gestikulierend auf den Sand zu seinen Füßen. Dicht neben den Vorderhufen seines Tieres zog sich eine der flachen, aufgeworfenen Linien durch den Boden. Skar war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können, aber irgend etwas schien ihm an dieser Verwerfung anders als an denen, die sie bisher gesehen hatten. Er beugte sich tiefer über den Hals seines Pferdes und gab dem Tier unbarmherzig die Sporen. . Voller ungläubigem Schrecken beobachtete er, wie der Cearner die Lanze von seinem Sattel löste, sich vorbeugte und damit im Sand herumstocherte. Der Sand zu seinen Füßen bewegte sich. Eine winzige Fontäne stob hoch. Der Wüstenboden begann zu brodeln und zu kochen. Ein flacher, wabernder Trichter bildete sich, wuchs in Bruchteilen von Sekunden zu einem wirbelnden Sog heran - und dann katapultierte irgend etwas Dunkles, Glitschiges aus dem kochenden Sand herauf und landete mit einem widerlichen Geräusch im Gesicht des Reiters. Der Mann stieß einen gurgelnden, halberstickten Schrei aus, der Skar auf grausige Weise bekannt vorkam, kippte hintenüber aus dem Sattel und landete mit zuckenden Gliedern auf dem Boden. Sein Pferd stieg hoch, fuhr auf den Hinterläufen herum und galoppierte, schreiend vor Angst, davon.
Skar rammte seinem Tier gnadenlos die Sporen in die Flanken, obwohl er wußte, daß er absolut nichts mehr für den Unglücklichen tun konnte.
Er erreichte ihn im gleichen Moment, in dem Coar den Bogen vom Sattel löste und mit bedächtigen Bewegungen einen Pfeil auf die Sehne legte. Sie richtete die dreieckige, mit messerscharf geschliffenen Widerhaken versehene Spitze auf das Gesicht des Mannes, zog die Sehne bis zum Ohr durch und schoß. Der Pfeil durchbohrte den pulsierenden Khtaäm, hämmerte durch die Kehle des Mannes und fuhr mit einem saugenden Geräusch in den Sand. Der Cearner zuckte ein letztes Mal und lag dann still.
Skar wandte sich ab. Er wußte, daß Coar das einzig Richtige getan hatte. Ein schneller, gnädiger Tod war das einzige gewesen, was sie noch für den Mann hatte tun können. Trotzdem erschütterte ihn die Kälte, mit der sie geschossen hatte. Del war es, der schließlich die bedrückende Stille brach. »Aber wieso ...«, keuchte er. »Was ... was war das?«
»Ein Khtaäm«, antwortete Skar tonlos.
»Eines von ... von den Biestern, die dich auch erwischt hatten?« keuchte Del. Skar nickte.
»Aber ... ich dachte, sie ... sie halten sich nur im Wald auf«, stotterte Del. »Das dachten wir alle«, murmelte Bernec. Seine Stimme klang belegt. »Ich ... ich habe nie gehört, daß sie so weit draußen in der Wüste ...« Er brach ab. Sein Gesicht zuckte vor Schmerz, und seine Hände krallten sich in die Mähne seines Pferdes, als brauche er etwas, an dem er sich festhalten konnte. Ein plötzlicher Windstoß überschüttete die Gruppe mit Sand und Hitze, und für einen Moment schien sich das leise Wimmern der Böen in grausames Hohngelächter zu verwandeln. Die Nonakesh hatte ihnen ihren ersten Gruß ausgerichtet. Sie hatten ihr Ziel noch nicht einmal erreicht, und schon den ersten Mann verloren. »Reiten wir weiter«, sagte Skar halblaut. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Bernec schwang sich aus dem Sattel, kniete neben dem Getöteten nieder und schlug seinen Mantel zur Seite. In seiner Hand blitzte ein winziger, gekrümmter Dolch. Die Spitze fuhr mit einem reißenden Geräusch durch Stoff und Fleisch und schnitt zentimetertief in die Brust des Toten. Er richtete sich auf, schloß die Faust um die Eyhaka des Gefallenen und trat dann mit einer ruckhaften Bewegung auf Skar zu.
»Nimm sie«, sagte er. Seine Stimme zitterte, und er sah weg, während er die Hand ausstreckte und Skar den winzigen, blutigen Samen entgegenhielt.
Skar starrte ihn fassungslos an. Er wußte, was diese Geste bedeutete, wie groß die Achtung sein mußte, die Bernec ihm trotz seiner unverhohlenen Abneigung entgegenbrachte. Er vertraute ihm mehr an als eine Knospe, aus der irgendwann einmal ein Baum entspringen würde. Was er dort in der Hand hielt, war die Seele seines Kameraden, alles, wofür der Mann jemals gelebt hatte. »Das ist ... zuviel der Ehre«, murmelte er schwach. »Ich kann das nicht annehmen.«
»Nimm«, beharrte Bernec. »Du ... du hast von uns allen die größten Aussichten, lebend zurückzukommen. Nimm sie!«
Skar atmete hörbar ein, griff nach der Samenkapsel und schob sie unter seinen Gürtel. Bernec fuhr herum, sprang in den Sattel und griff nach den Zügeln. »Weiter!« kommandierte er. »Und wIcht den Spuren aus.«
Icht setzten ihren Weg fort, schneller als nötig und vor allem gut für die Pferde gewesen wäre. Das monotone Auf und Ab der Wü ste flog an ihnen vorüber, und mit jeder Meile, die sie weiter nach Westen kamen, schien sich die stumme Drohung, die wie der Griff einer unsichtbaren, eisigen Hand über ihren Seelen lag, zu vertie fen. Skar keuchte. Sein eigener Atem brannte schmerzhaft in sei ner Kehle, und sein Herz hämmerte wütend und rasch. Aber es war nicht nur die Hitze.
Die Khtaäm-Spuren mehrten sich, je weiter sie sich den Höhlen näherten, so daß sie ihre geordnete Formation schließlich aufgeben und langsamer reiten mußten, um ihre Tiere behutsam zwischen den tödlichen geraden Linien hindurchzulenken. Als die Dämmerung hereinbrach, erreichten sie die Höhlen.