18.

Der Anblick war beinahe enttäuschend. Skar hatte nichts Bestimmtes erwartet, aber irgendwie hatte der Anblick der gewaltigen schwarzen Bestien die Vorstellung von etwas ebenso Gewaltigem und Finsterem in ihm ausgelöst. Die Höhle war nicht mehr als ein Loch im Boden: ein flacher, nach innen hin sanft abfallender Krater, als wäre der massive Fels eingebrochen und der Sand einfach nachgerutscht. Am Grunde des runden, senkrecht in die Tiefe führenden Schachtes lauerte Finsternis: Schwärze, die seine überreizten Nerven mit der Illusion von Bewegung zu füllen versuchten.

Bernec blinzelte zum Himmel empor, schlug seine Kapuze zurück und schwang sich aus dem Sattel. »Beeilt euch«, sagte er. »Die Sonne geht bald unter. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Er öffnete die Satteltaschen seines Pferdes, nahm ein zusammengerolltes Seil hervor und band das eine Ende am Sattelknauf fest. Dann trat er zurück, holte aus und warf das Tau in den Schacht hinab, eine Handlung, die so völlig undramatisch und der Situation unangemessen schien, daß Skar beinahe aufgelacht hätte. Das Seil fiel lautlos in die Tiefe und schlug irgendwo unten auf. Ein helles, metallisches Echo wehte aus dem Schacht empor. Bernec starrte einen Moment in das finstere runde Loch hinab, rüttelte dann prüfend am Seil und näherte sich, rückwärts gehend und die Hände um das Tau verkrampft, dem Schachtrand.

»Bist du sicher, daß es klug ist, jetzt dort hinunterzugehen?« fragte Skar.

»Und warum nicht?« entgegnete Bernec, ohne stehenzubleiben. »In einer halben Stunde ist es dunkel. Wenn wir dann noch hier sind, können wir uns genausogut gegenseitig die Kehlen durchschneiden. Die Hoger fangen an zu schwärmen, sobald die Sonne untergegangen ist.«

»Wir könnten uns eingraben und warten, bis sie abgezogen sind«, schlug Skar vor. Bernec schüttelte den Kopf, schwang die Beine über den Rand der Höhle und stützte sich an der senkrechten Wand ab. Das Seil spannte sich, und für einen Moment hing er in bedrohlicher Schräglage frei in der Luft, ehe er wieder festen Halt gewann. »Wenn ich ums Leben komme«, sagte er, »übernimmst du das Kommando, Skar. Dann dein Freund und Coar. Sollten sie auch fallen, versuchen die anderen auf eigene Faust zurückzukommen. Und jagt die Pferde davon.« Skar sah schweigend zu, wie Bernec langsam in der Tiefe verschwand. Er kletterte rasch und mit sicheren, geübten Bewegungen und war bereits nach wenigen Augenblicken aus ihrem Sichtbereich verschwunden. Nur das straff gespannte Seil und das leise Poltern und Schaben, das aus dem Schacht empordrang, bewiesen noch, daß er überhaupt existierte. Vielleicht, dachte Skar, war dieses Loch gar nicht der Eingang zu einer Höhle, sondern der Schlund eines gigantischen schwarzen Etwas, der Eingang zu einem Reich des Nichts, in dem sie einfach aufhören würden zu existieren, sobald sie es betreten hatten.

Das Seil spannte sich.

»Ich bin unten!« drang Bernecs Stimme seltsam hohl und verzerrt zu ihnen hinauf. »Ihr könnt nachkommen! Hier ist alles ruhig.«

»Wenn er weiter so rumbrüllt«, murrte Del, »wird es die längste Zeit ruhig gewesen sein.«

Skar lächelte flüchtig, griff nach dem Seil und schwang sich, Bernecs Beispiel folgend, rückwärts über den Schachtrand.

Die Finsternis schien wie eine schwarze Woge über ihm zusammenzuschlagen, als er mit dem Abstieg begann. Die Wände des Schachtes bestanden nicht aus Fels, wie er erwartet hatte, sondern aus zusammengebackenem Sand und trockener, krumiger Erde, die unter seinen Füßen immer wieder nachgab und abbröckelte, so daß er eher am Seil hinunterrutschte, als daß er wirklich stieg. Ein unablässig rieselnder Strom von Sand und kleinen Steinen begleitete seinen Abstieg, und aus der Tiefe drangen helle, klackende Echos zu ihm hinauf. Die Höhle unter ihm mußte gewaltig sein.

Der helle Kreis über seinem Kopf schmolz zu einem winzigen, grellorangenen Fleck zusammen, und die Wände wichen weiter auseinander, so daß sich das Seil schließlich über dem Schachtrand spannte und er fast frei in der Luft hing. »Spring«, sagte Bernec unter ihm. »Es sind nur noch zwei Meter. Der Boden ist weich.«

Skar ließ das Seil los. Er stürzte, prallte auf weichem, federndem Untergrund auf und rollte sich ab. Eine Hand tastete nach seinem Arm und wich wieder zurück, als er aufstand.

»Alles in Ordnung?« fragte Bernec.

Skar nickte, obwohl der andere die Geste in der absoluten Schwärze hier unten nicht sehen konnte. »Ja«, sagte er. Er hörte, wie Bernec sich neben ihm bewegte und nach dem Seil griff.

»Der nächste!« brüllte er.

Die unsichtbaren Wände um sie herum warfen den Klang seiner Stimme verzerrt zurück, und irgendwo hinter ihnen löste sich ein Stein von der Decke und fiel polternd zu Boden. Ein warmer Luftzug strich durch die Höhle, nicht die trockene, würgende Luft der Wüste, sondern feuchtwarmer Wind, der einen seltsamen, unangenehmen Geruch mit sich brachte.

Das Seil bewegte sich, und am Rande des hellen Kreises hoch über ihren Köpfen erschien ein winziger schwarzer Umriß.

»Zu langsam«, sagte Bernec gepreßt. »Wir sind zu langsam.«

Skar legte unwillkürlich den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben. Das Licht über ihnen schien bereits schwächer geworden zu sein. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

»Ist das der einzige Eingang?« fragte er.

Bernec schüttelte den Kopf. »Es gibt Dutzende. Wenn wir etwas Glück haben, kommen wir rechtzeitig hinein.«

»Und dort unten?« Skar deutete mit einer Kopfbewegung auf die nachtschwarze Finsternis hinter ihnen.

Bernec lachte leise. »Das weiß ich ebensowenig wie du, Skar. Es ist noch keiner zurückgekommen, der es bis hierher geschafft hat.«

»Gibt es einen Eingang, der näher bei Cearn liegt?«

»Sicher«, murmelte Bernec. »Aber dies ist der einzige, den ich kenne. Ganz davon abgesehen, daß es dir einigermaßen schwerfallen dürfte, hier unten die Himmelsrichtung zu finden. Aber darüber sollten wir uns den Kopf zerbrechen, wenn wir hier heraus sind. Jetzt müssen wir erst einmal eine Möglichkeit finden hineinzukommen.« Er trat zur Seite, als der nächste Mann den Überhang erreichte und sich die letzten Meter in die Tiefe fallen ließ.

Sie warteten ungeduldig, bis die Cearner nacheinander zu ihnen hinabgestiegen waren. Das Licht am oberen Ende des Schachtes war nun merklich schwächer geworden, und mehr als nur einmal bildete sich Skar ein, das Rauschen mächtiger Schwingen zu hören.

Aber sie wurden nicht behelligt. Del war der letzte, der sich am Seil zu ihnen hinabhangelte. Auch er sprang die letzten Meter, rollte sich ab und starrte dann nachdenklich nach oben. »Hat einer von euch zufällig eine Idee, wie wir wieder hinaufkommen?« sagte er ruhig. »Das Pferd wird kaum ruhig stehenbleiben, wenn unsere geflügelten Freunde auftauchen.«

»Es gibt andere Ausgänge«, sagte Bernec ungeduldig. »Wir werden einen Weg finden, an die Oberfläche zu gelangen. Aber nur«, fuhr er nach einer winzigen Pause fort, »wenn wir allmählich machen, daß wir hier verschwinden, statt noch lange zu reden. Wer hat die Fackeln?«

»Ich.« Ein heller Funke glomm auf, erlosch und flammte nach Sekunden erneut auf, um zum rotgelben Flackern einer Fackel zu werden.

Skar blinzelte. Nach der absoluten Finsternis erschien ihm das Licht der Fackel ungewöhnlich grell und schmerzhaft. Die Gestalten der Männer schienen vom roten Licht wie mit Blut übergossen. Bernec entzündete eine zweite Fackel, hob sie hoch über den Kopf und sah sich neugierig um. Der unsichere Lichtschein verlor sich rechts und links in flackernder Finsternis. Die Höhle war nicht so hoch, wie Skar bisher geglaubt hatte. Die Decke krümmte sich ein wenig mehr als einen Meter über ihm herab, berührte hier und da den Boden oder endete in bizarren, an Stalagtiten erinnernden Formen.

»Ein Gang«, stellte Coar verwundert fest.

Bernec nickte und umklammerte seine Fackel fester. »Gehen wir. Und keinen Laut mehr.« Er schlug seinen Mantel zurück, zog den Säbel aus dem Gürtel und ging gebückt und vornübergebeugt los. Auch Skar und die anderen zogen ihre Waffen, obwohl sie genau wußten, wie wenig sie ihnen nutzen würden, sollten sie von den Hogern entdeckt und angegriffen werden. Sie waren nicht gekommen, um zu kämpfen. Aber es war ein beruhigendes Gefühl, sich wenigstens wehren zu können.

Der Stollen fiel in sanfter Neigung ab und erweiterte sich allmählich, und in unregelmäßigen Abständen zweigten Nebengänge nach rechts und links ab. Noch immer war keine Spur von den Hogern zu sehen oder zu hören, aber Skar fühlte sich keineswegs beruhigt. Im Gegenteil - das Gefühl, mitten in das Gebiet eines unheimlichen Feindes hineinzumarschieren, ohne auch nur das geringste von seiner Anwesenheit zu bemerken, ängstigte ihn. Wäre der Gedanke, den Ungeheuern soviel Intelligenz zuzubilligen, nicht zu erschreckend gewesen, hätte er geglaubt, mitten in eine Falle hineinzumarschieren.

Der Gang endete schließlich in einer runden, kuppelförmig gewölbten Höhle, von der ein Dutzend oder mehr weitere Stollen abzweigten.

Bernec blieb stehen und hob seine Fackel. Flackernde rote Lichtreflexe liefen über Wände und Boden und schufen Leben und Bewegung, wo keine waren. Wieder spürten sie den warmen, feuchten Wind, der sie bereits beim Betreten des unterirdischen Labyrinths begrüßt hatte. Der Boden unter ihren Füßen schien sanft zu beben, und manchmal bildete sich Skar ein, ein fernes, unablässiges Donnern zu vernehmen.

»Wohin jetzt?« fragte einer der Krieger.

»Rechts«, sagte Bernec nach kurzem Überlegen. »Solange wir keine konkrete Spur haben, halten wir uns immer rechts. Auf diese Weise finden wir wenigstens den Rückweg, sollte uns etwas zustoßen.«

Skar lächelte anerkennend. Bernec drehte sich halb herum und sah ihn sekundenlang an, fast, als erwarte er Zustimmung oder Lob, hob die Fackel dann noch höher und winkte mit der freien Hand. »Weiter.«

Hintereinander drangen sie in den niedrigen Stollen ein. Die Wände waren hier stark geneigt, so daß der Gang einen beinahe dreieckigen Querschnitt aufwies, und ihre Struktur erinnerte Skar irgendwie an organische Formen, wenn sie auch mit nichts vergleichbar waren, was er jemals gesehen hatte. Je weiter sie sich in die Tiefe bewegten, desto wärmer wurde es; wärmer und feuchter, so daß ihnen unter den Mänteln bald der Schweiß ausbrach. Von der niedrigen Decke tropfte jetzt Wasser, und der Boden unter ihren Füßen fühlte sich schwammig und weich an und federte spürbar. Der Gang endete nach einer Strecke, die ihnen allen viel weiter vorkam, als sie wahrscheinlich war, in einer weiteren Höhle.

Bernec, der an der Spitze der Gruppe ging, blieb plötzlich stehen und hob warnend die Hand. »Still«, zischte er. »Ich glaube, da vorne ist irgend etwas.« Skar schob sich hastig an den vor ihm gehenden Kriegern vorbei und trat lautlos neben ihn. Bernec hatte die Fackel gesenkt und die Flamme zusätzlich mit seinem Mantel abgeschirmt, so daß nur ein schwaches rötliches Glimmen in die Höhle hinausfiel. Aber auch so spürte Skar, wie gewaltig der Raum sein mußte. Der Boden stürzte vor ihnen senkrecht in die Tiefe; der Gang endete nicht ebenerdig, sondern irgendwo mitten in einer der Höhlenwände. Skar wollte etwas sagen, aber Bernec schüttelte hastig den Kopf und deutete nach vorne.

Auch Skar starrte konzentriert nach vorne und versuchte die pechschwarze Finsternis mit Blicken zu durchdringen. Der rötliche Lichtschein, der unter Bernecs Mantel hervordrang, störte ihn, aber trotzdem glaubte er nach einer Weile etwas wahrzunehmen ... Bewegung ... ein kaum merkliches Erbeben noch schwärzerer Schattierungen in der Schwärze ... die reine Empfindung von Leben, Eindrücke, die er nicht einzeln und bewußt wahrzunehmen vermochte, die ihm in ihrer Gesamtheit aber zweifelsfrei mitteilten, daß da vorne etwas war ... irgend etwas ...

Er bückte sich, tastete mit den Händen über den Boden und hob einen faustgroßen Stein auf. Bernecs Brauen zogen sich mißbilligend zusammen. Aber sie würden nicht zum Ziel kommen, wenn sie ihre Umgebung nicht irgendwie erforschten, und das wiederum war kaum möglich, ohne ein Risiko einzugehen. Er beugte sich vor, streckte die Hand aus und ließ den Stein fallen. Schon nach knapp zwei Sekunden hallte das gedämpfte Geräusch des Aufpralles zu ihnen hinauf.

»Fünfzehn Meter«, schätzte Bernec. »Vielleicht zwanzig. Nicht mehr.«

Skar ließ sich auf ein Knie herabsinken und versuchte, mit der Hand über die senkrecht abfallende Wand unter sich zu tasten. Wie schon draußen im Gang bestanden die Wände nicht aus Fels und massivem Gestein, sondern aus Erdreich, von seinem eigenen Gewicht zusammengebacken und hart, aber nicht fest genug, um ohne Risiko daran hinunterklettern zu können.

»Haben wir ein Seil?« fragte er.

Bernec nickte überrascht. »Du willst hinunterklettern?«

»Hast du eine bessere Idee?« gab Skar zurück. Er stand auf, wischte sich die Hände an einem Zipfel seines Mantels ab und deutete mit einer Kopfbewegung auf Bernecs Fackel. »Mach Licht«, verlangte er.

Bernec zögerte. »Wenn dort unten irgend etwas ist -«

»Hat es uns sowieso längst entdeckt«, unterbrach ihn Skar ungeduldig. »Nun mach schon. Ich klettere nicht gerne irgendwo hinunter, ohne zu wissen, was mich erwartet.«

Bernec schien nicht gerade begeistert von Skars Vorschlag zu sein. Trotzdem senkte er nach sekundenlangem Zögern langsam den Mantel und hob die Fackel empor. Der flackernde Lichtschein verlor sich in der gewaltigen Weite der Höhle, aber das Wenige, was sie sahen, ließ ihnen allen einen eisigen Schauer über den Rücken laufen. Der gigantische unterirdische Dom war nicht leer, sondern von etwas erfüllt, das Skar im ersten Augenblick an ein gewaltiges schleimiges Spinnennetz denken ließ. Wie ein bizarres Wurzelgeflecht zogen sich unzählige, schwarzglänzende Linien zwischen dem Boden und der unsichtbaren Decke dahin, armdicke, schimmernde Taue, an denen eine ölig glänzende Flüssigkeit herablief und die Knoten und Verdickungen, Kreuzungspunkte und pulsierende, schleimige Schnittstellen bildete. Erneut drängte sich Skar der Vergleich mit irgend etwas Lebendigem, Organischem auf, fast als bewegten sie sich nicht durch ein System unterirdischer Höhlen und Gänge, sondern durch das Innere eines gigantischen, unbegreiflichen Lebewesens. Das da vor ihnen mochte sein Blut sein: schwarzes, zähflüssiges Blut, das von der Decke getropft und auf seinem Weg zum Boden zu schleimigen Fäden und dünnen, halbdurchsichtigen Schleiern erstarrt war. Er schüttelte sich, drängte die Vorstellung mit Gewalt zurück und versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen. Trotz des Lichtes war der Boden immer noch unsichtbar, und falls sich außer diesen schleimigen Gebilden noch etwas in der Höhle aufhalten sollte, so verbarg es sich außerhalb des Lichtkreises.

»Das Seil«, befahl er leise. Einer der Männer drückte ihm das Ende einer dünnen, aus Lederschnüren geflochtenen Leine in die Hand, ein zweiter Krieger entzündete eine zusätzliche Fackel und warf sie wortlos in die Tiefe. Skar beugte sich neugierig vor und verfolgte ihren Sturz. Sie überschlug sich ein paarmal, zeichnete ein funkensprühendes Feuerrad in die Luft und prallte tief unter ihnen auf den Boden. Die Flamme drohte für einen Moment zu erlöschen, fand dann neue Nahrung und loderte hell auf.

»Der Boden sieht stabil aus«, murmelte Bernec. »Jedenfalls hier.« Er trat zurück, winkte zwei seiner Krieger zu sich und nahm den Bogen vom Rücken. »Wir geben dir Deckung«, sagte er nervös.

Skar griff ohne ein weiteres Wort nach dem Seil, schwang sich über die Kante und stieg, gehalten von Del und drei weiteren Cearnern, rasch in die Tiefe.

Der Abstieg dauerte nur wenige Augenblicke, aber Skar schien es, als klettere er stundenlang an der senkrecht abfallenden Wand hinab. Er bewegte sich durch einen Bereich vollkommener, totaler Finsternis. Das Licht von Bernecs Fackel verlor sich über ihm in der Weite der unterirdischen Kathedrale, und die winzige, flakkernde Halbkugel aus Licht unter ihm schien Meilen entfernt, ein unendlich kleiner, verloren wirkender Hort des Lebens und der Helligkeit, gegen dessen Grenzen die Dunkelheit wie eine niemals ermüdende Woge anrannte. Das Seil schnitt schmerzhaft in seine Handflächen.

Nach einer Ewigkeit erreichte er den Boden, ließ das Seil los und wich mit einem raschen Schritt bis zur Wand zurück, das Schwert abwehrbereit erhoben. Aber es gab kein Gefahr, zumindest keine, gegen die er hätte kämpfen können. Die Höhle war, abgesehen vom leisen Knistern der Fackel und dem dumpfen Dröhnen seines eigenen Herzschlages, vollkommen still, als würde die Dunkelheit sämtliche Geräusche absorbieren. Er bückte sich, hob die Fackel auf und machte einen zögernden Schritt. Der Boden federte unter seinem Gewicht, und hier und da schimmerten flache, ölig glänzende Pfützen im Licht der Flammen. Er näherte sich einem der schwarzen Stränge, betrachtete ihn einen Moment lang und berührte ihn zögernd mit der Schwertspitze. Er war weich und nachgiebig, aber trotzdem zäh, so daß selbst die rasiermesserscharfe Klinge aus Sternenstahl die schwarzschimmernde Oberfläche nicht zu ritzen imstande war, und als er das Schwert zurückzog, vibrierte der Boden sichtlich, als stände er unter einer inneren Spannung. Skar ging noch ein paar Schritte, blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken. Der Höhlenausgang schien unendlich weit entfernt zu sein, und Bernecs Fackel war nicht mehr als ein winziger roter Stern an einem ansonsten pechschwarzen Himmel.

Er winkte ein paarmal mit der Fackel, um zu zeigen, daß hier unten alles in Ordnung war, ging zur Wand zurück und bewegte sich geduckt daran entlang. Wieder glaubte er ein fernes, dumpfes Grollen wahrzunehmen. Und diesmal war er sicher, sich nicht zu täuschen. Er blieb stehen, lauschte in sich hinein und ging schließlich in die Hocke, die Hand auf den Boden gepreßt.

»Skar! Was ist passiert?« drang Bernecs Stimme von oben zu ihm herab. Er mußte gesehen haben, daß Skar stehengeblieben war, war aber zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können.

»Nichts«, rief Skar zurück. »Hier unten ist alles in Ordnung. Ihr könnt nachkommen.« Er stand auf, blieb einen Moment unschlüssig stehen und ging schließlich zu der Stelle zurück, an der das Seil von der Wand hing. Das Tau begann wild hin und her zu pendeln, als der nächste Mann mit dem Abstieg begann. Skar trat zurück und packte die Fackel fester. Mit einemmal hatte er Angst, panische Angst, ohne zu wissen, wovor. Sein Atem ging schneller, und die Fackel in seiner Hand begann sichtlich zu zittern. Dies war kein Ort für Menschen. Er war nicht für Menschen gemacht, weder für sie noch für irgendeine andere Art von Leben, das er kannte. Aber er beherrschte sich und drängte die Angst zurück, bis sie nicht mehr als ein sanftes, drohendes Grollen hinter seinen Gedanken war, nicht viel mehr als die Erinnerung an einen Schmerz, der längst vergangen war. Doch sie würde zurückkommen, das spürte er. Und vielleicht würde er sie dann nicht mehr besiegen können.

Allmählich begann er zu ahnen, was mit den Männern passiert war, die vor ihnen hier heruntergekommen waren.

Endlose Minuten vergingen, bis die anderen nacheinander am Seil heruntergeklettert waren. Skar fiel auf, daß zwei der Krieger oben im Stollen zurückblieben, und er stellte eine entsprechende Frage.

»Irgendwie müssen wir ja wieder heraufkommen«, antwortete Bernec. »Außerdem gab es keine Möglichkeit, das Seil zu befestigen, und ich hatte keine Lust zu springen.« Er versuchte zu lachen, aber seine Stimme zitterte so heftig, daß das Vorhaben kläglich mißlang.

Skar gefiel der Gedanke, daß die Gruppe sich aufteilte, ganz und gar nicht. Aber er mußte zugeben, daß Bernec recht hatte. Vielleicht war dies der einzige Weg, der wieder aus diesem Irrgarten herausführte, und vielleicht würden sie keine Zeit haben, einen anderen zu suchen.

»Wie geht es weiter?« fragte Coar.

Skar drehte sich halb herum und versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, aber sie hatte die Kapuze ihres Mantels so tief in die Stirn gezogen, daß darunter nichts als eine schwarze, konturlose Fläche erkennbar blieb. »Weiter unten gibt es Seitengänge«, sagte er. »Versuchen wir unser Glück dort.« Er wandte sich um und ging los, ohne auf eine Antwort zu warten.

Sie bewegten sich hintereinander dicht an der Wand entlang, still und alle von der gleichen bangen Furcht erfüllt. Das dumpfe Grollen schien sich zu verstärken, je tiefer sie in die Höhle vordrangen, und nach einer Weile glaubte Skar ein sanftes Vibrieren und Beben unter seinen Füßen wahrzunehmen. Aber er sagte nichts, sondern ging wortlos und gebückt weiter, bis er einen der niedrigen Stollen erreichte, die er bei seiner ersten flüchtigen Inspektion entdeckt hatte. Er blieb stehen und wartete geduldig, bis die anderen ebenfalls herangekommen waren. Del schob sich an ihm vorbei, spähte einen Herzschlag lang in den niedrigen Tunnel und richtete sich achselzuckend wieder auf. »Einladend«, murmelte er. »Äußerst einladend.«

»Jedenfalls ist der Stollen zu eng, um einen Hoger aufnehmen zu können«, sagte Skar. »Wir sollten ihn nehmen.«

»Aber er führt tiefer hinunter«, gab Del zu bedenken. »Hältst du es für klug, noch weiter in dieses Labyrinth vorzudringen? Wir müssen schon jetzt mehr als hundert Meter unter der Oberfläche sein.«

»Wenn es sein muß«, murmelte Coar, »steige ich bis in die Hölle hinunter, um diese Bestien zu vernichten.«

»Ich habe das Gefühl, da sind wir schon«, entgegenete Del humorlos. Er drehte sich um; hob sein Fackel und legte den Kopf in den Nacken. »Ich möchte wissen, was das ist«, sagte er mit einem Blick auf das schwarze Gewebe.

Skar zuckte die Achseln. »Ich nicht«, antwortete er ernsthaft. »Alles, was ich möchte, ist, so schnell wie möglich hier wieder herauszukommen.«

Del grinste. »Mit diesem Wunsch bist du nicht allein, alter Mann. Aber mir kommen allmählich Zweifel, ob wir hier richtig sind. Bisher habe ich nicht einmal eine Flügelspitze gesehen.«

»Sei froh«, murmelte Skar.

»Ich meine es ernst«, beharrte Del. »Das alles hier mag ja unheimlich und beeindruckend sein, aber seid ihr sicher, daß die Hoger in diesen Höhlen leben?«

»Wir haben nicht einmal einen Bruchteil dieses Labyrinths erforscht«, versetzte Bernec unwillig. »Früher oder später werden wir schon auf sie stoßen.«

»Auf sie - oder etwas Schlimmeres«, nickte Del. »Ich ...«

»Schluß jetzt«, sagte Coar verärgert. »Es nutzt uns nichts, wenn wir hier herumstehen und reden. Gehen wir weiter.« Sie riß Del mit einer wütenden Bewegung die Fackel aus der Hand, stieß ihn grob beiseite und drang gebückt in den Stollen ein. Die flackernden Lichtreflexe der Flamme entfernten sich rasch. »Sie hat recht«, sagte Skar halblaut. »Gehen wir.« Er versetzte Del einen sanften Rippenstoß und deutete auffordernd auf den Gang. »Oder fürchtest du dich?« Del zog eine Grimasse, fuhr herum und eilte hinter Coar her. Skar und die anderen folgten ihm in geringem Abstand, während Bernec den Abschluß bildete. Der Stollen strebte in sanfter Neigung in die Tiefe. Die Wände rückten schon nach wenigen hundert Schritten so dicht zusammen, daß Skar rechts und links mit den Schultern anstieß, und nach einer Weile sank die Decke so weit herab, daß sie kriechen mußten, um überhaupt noch vorwärtszukommen. Die Männer löschten nach und nach ihre Fackeln. Es war unmöglich, auf allen vieren zu kriechen und dabei noch eine Fackel zu tragen, ohne sich oder den Vordermann zu verbrennen, aber Skar war beinahe froh, im Dunkeln weiterkriechen zu müssen. Anders als sonst erschien ihm die Dunkelheit jetzt wie ein Verbündeter, und für einen Moment fühlte er sich wie ein verängstigtes Kind, das die Augen schloß und glaubte, nicht gesehen werden zu können, weil es selbst nichts sah. Die Zeit wurde bedeutungslos, während er so durch die Dunkelheit kroch. Er spürte die Anwesenheit der anderen, hörte ihre schnellen, regelmäßigen Atemzüge, die raschelnden und schleifenden Geräusche ihrer Kleider, das satte Schmatzen, mit denen sich ihre Hände und Knie aus dem matschigen Boden lösten, aber diese Geräusche erschienen ihm seltsam irreal. In Wirklichkeit war er allein, allein in einem endlosen, finsteren Stollen, der im Nichts begann und in der Unendlichkeit endete. Irgendwann, vielleicht in einer Million Jahre, würde er sein Ende erreichen, und ...

Skar verharrte mitten in der Bewegung, als ihn die Erkenntnis traf. Der Mann hinter ihm prallte gegen seine Beine, versuchte sich erschrocken aufzurichten und krachte mit dem Kopf gegen die Decke. Skar bemerkte es kaum. Plötzlich wußte er, woher seine Angst kam, woher dieses mit namenlosem Grauen gemischte déjà-vu-Gefühl, das die ganze Zeit unbewußt hinter seinen Gedanken gelauert hatte, stammte. Er kannte diese Höhle! Er kannte diese Stollen, diese endlosen Gänge und Tunnels, die so seltsam organisch aussahen und auf unbestimmte Art mit Leben erfüllt schienen, das sanfte Vibrieren und Pochen unter seinen Händen und Füßen...

Skar stöhnte leise, als der Gedanke mit voller Wucht über ihn hereinbrach. Er hatte all dies schon einmal erlebt, kurz nachdem er in das Khtaäm-Nest geraten war. Er war schon einmal durch diese Stollen und Gänge geirrt, nicht körperlich, aber mit seinen Gedanken, während er in Thorandas Haus lag und mit dem Tod rang. Er erinnerte sich an diese Höhlen!!

»Was ist los da vorne?« drang Bernecs Stimme durch den Stollen.

Skar zuckte zusammen und kroch hastig weiter. Seine Hände zitterten, und in seinem Kopf schien ein irres Kaleidoskop zu wirbeln, ein dumpfer Wust von Gedanken und Empfindungen, in dem das wenige, was von seinem logischen Denken übriggeblieben war, wie in einem wirbelnden Sog zu versinken drohte. Aber wie konnte er sich an etwas erinnern, das er niemals erlebt hatte?! WIE! Blind und mit mechanischen Bewegungen kroch er weiter, ohne überhaupt etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Jemand sagte etwas, aber sein Bewußtsein registrierte die Worte bloß, ohne ihren Sinn zu erfassen. Erst als ihn jemand bei den Schultern packte und grob in die Höhe riß, erwachte er aus seiner Erstarrung. »Skar, zum Teufel noch mal - was ist los?« schnappte Del. Sie hatten das Ende des Stollens erreicht und befanden sich in einer vielleicht zwanzig Meter durchmessenden, unregelmäßig geformten Höhle. Irgendwo in ihrer Nähe rauschte Wasser, und der Boden war fast knöcheltief mit Schlamm und Morast bedeckt. Es war kalt.

»Ich ... nichts«, murmelte Skar schwach. Er schob Dels Hand beiseite und trat einen Schritt zurück. »Es ist nichts.«

»Nichts?« Del runzelte zweifelnd die Stirn und starrte ihn sekundenlang durchdringend an. »Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet«, behauptete er ernsthaft.

Skar schüttelte den Kopf. »Es ist ... nichts«, sagte er noch einmal. Aber er spürte selbst, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. »Ich möchte nicht darüber reden, wenigstens jetzt noch nicht«, sagte er hastig. »Wo sind wir?«

Del zuckte mit den Achseln und drehte sich wortlos um. Coar hatte ihre Fackel wieder entzündet und stand unschlüssig in der Mitte des großen, leeren Gewölbes. Ihr ehemals brauner Mantel war mit Schlamm und dünnen Fäden einer schwarzen, schleimigen Masse besudelt. Skar sah an sich herab und registrierte angeekelt, daß auch er das Zeug an Kleidern und Händen hatte. Er zuckte zusammen, wischte sich hastig die Hände an den Hosenbeinen ab und fuhr sich mit den Fingern durch Gesicht und Haar.

»Dort drüben ist ein Ausgang«, sagte Del. Skars Blick folgte seiner Geste. An der gegenüberliegenden Wand der Höhle, beinahe in geradliniger Verlängerung des Stollens, aus dem sie gekommen waren, befand sich der Durchgang zu einer weiteren Höhle, höher und breiter als der Gang, aus dem sie gekommen waren, und - das erste Mal, seit sie dieses irrsinnige Labyrinth betreten hatten - aus Fels. »Sag mal«, sagte Del nachdenklich, »habe ich schon Halluzinationen, oder hörst du es auch?«

»Das Wasser?« Skar nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf das niedrige Felsentor. »Es scheint von dort zu kommen.« Er machte einen Schritt, zögerte und zog sein Schwert aus dem Gürtel, ehe er weiterging. Er durchquerte die Höhle, blieb stehen und legte die Handfläche auf die zerfurchte Steinwand. Sie vibrierte. Und sie war feucht.

»Licht!« verlangte er. Einer der Krieger reichte ihm eine brennende Fackel. Der Mann wollte an ihm vorbei in den Stollen eindringen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff zurück.

»Wir sollten jetzt vorsichtig sein«, warnte er. »Ich glaube, wir sind fast am Ziel. Del - komm mit.« Er wartete, bis der junge Satai eine zweite Fackel entzündet hatte und neben ihn getreten war, dann drang er gebückt und mit vorsichtigen Schritten in den Stollen ein. Der Gang war nur etwa dreißig Schritte lang. Das Licht ihrer Fackeln verlor sich plötzlich im Nichts, als sie aus dem Tunnel heraus und in eine gewaltige, hallende Höhle traten. Es wurde spürbar kälter, und ein feuchter, böiger Luftzug ließ sie frösteln.

Skar blieb stehen, deutete mit einer Kopfbewegung auf den Boden und ging dann langsamer weiter. Der Fels brach wenige Schritte vor ihnen in einer messerscharf gezogenen Linie ab und verschwand im Nichts. Skar drehte sich einmal um seine Achse und hielt die Fackel höher, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Sie befanden sich auf einem nur wenige Schritte breiten, steinernen Sims, der wie ein natürlicher Balkon über einen bodenlosen, schwarzen Abgrund hinausragte. Und von unten, von irgendwo aus der absoluten Schwärze unter ihnen, drang das Rauschen eines mächtigen Flusses zu ihnen herauf.

Lange, endlos lange standen sie wie gelähmt da und starrten in das schwarze Nichts zu ihren Füßen hinab. Schließlich, nach einer Ewigkeit, brach Del das Schweigen.

»Weißt du, Skar«, sagte er halblaut, »ich habe mich schon die ganze Zeit über gefragt, woher dieser verdammte Wald sein Wasser nimmt. Jetzt wissen wir es.« Hinter ihnen begann Coar leise und hysterisch zu lachen.

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