7

Den ganzen Morgen musterte Marcian bereits den Aufmarsch der Orks. Es mußten mindestens tausend Krieger sein, die mit der Einkreisung der Stadt begonnen hatten. Durch das neumodische Fernrohr, das auf dem Bergfried aufgestellt war, konnte er die Aktivitäten der Belagerer verfolgen. Es war noch gar nicht so lange her, daß die Praios-Priester diese praktische Erfindung mit dem Bann belegt hatte. Noch vor dreißig Jahren war der Bote des Lichts, der Hohepriester des Kultes, der Auffassung, daß es gotteslästerlich sei, weiter zu sehen, als es einem von Geburt aus bestimmt war.

Marcian lächelte. Er war froh, dieses große Messingrohr zu haben. Die Schwarzpelze gingen sehr systematisch vor. Eigentlich hatte er einen wilden Sturmangriff auf die Mauern erwartet. Doch die Orks hielten sich außer Reichweite der Bogenschützen, hatten zwei kleine Lager vor den beiden Toren der Stadt aufgeschlagen, um Ausfälle schnell abwehren zu können. Ein größerer Trupp bezog nahe der Bastion am Fluß sein Quartier, und die Hauptmacht lagerte vor der östlichen Mauer. Mit sicherem Gespür hatte Sharraz Garthai in ihr den schwächsten Punkt in den Verteidigungsanlagen Greifenfurts erkannt.

Der Inquisitor wandte sich zu seinen Offizieren um. »Nun, was haltet ihr davon?«

Von Blautann war der erste, der auf die überraschende Frage antwortete: »Ich denke, wir sollten einen Ausfall machen und ihren Aufmarsch stören. Meine Reiter brennen darauf, es den Schwarzpelzen für den Überfall auf den Wagenzug heimzuzahlen.«

»Danke, Alrik, genau diese Antwort habe ich von dir erwartet. Nur fürchte ich, daß wir uns dabei lediglich eine blutige Nase holen. Wir sollten beobachten, wie es weitergeht, und dann vielleicht einen zielgerichteten Angriff unternehmen. Allein deshalb die Stadt zu verlassen, um mit den Orks die Klinge zu kreuzen, halte ich für völlig falsch. Wir sind leider in einer Position, in der wir uns keine unnötigen Verluste leisten können.«

»Sehr diplomatisch gesprochen«, warf Lysandra ein. »Von jetzt an sind wir hier gefangen. Wir haben nicht genügend Krieger, um uns mit den Orks auf eine offene Feldschlacht einzulassen. Mit anderen Worten, wir sitzen hier wie die Mäuse in der Falle und können nur abwarten, was die Orks tun.«

Keiner sagte mehr etwas. Die Amazone hatte die Sache auf den Punkt gebracht.


Marcian ging unruhig in seinem Turmgemach auf und ab. Bis weit nach Mitternacht hatten die Offiziere im Palas beratschlagt, was zu tun sei, und wieder einmal keine Lösung gefunden. Zehn Tage standen die Orks nun schon vor den Toren der Stadt, und noch immer hatten sie keinen Angriff unternommen. Lysandra und von Blautann behaupteten, durch das Fernrohr einen Zwerg im Lager der Schwarzpelze gesehen zu haben. Marcian wollte das nicht glauben. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was einen Krieger aus dem kleinen Volk dazu treiben sollte, mit den Orks zusammenzuarbeiten. Auf der anderen Seite erklärte es das überaus geschickte Taktieren der Belagerer. Sie hatten sich einen Experten gekauft!

Vor den Stadttoren waren Schanzen errichtet worden, auf denen leichte Geschütze standen. Den Mauern der Stadt konnten diese Speerschleudern nicht gefährlich werden, doch sollten sie einen Ausfall unternehmen, würden die Geschütze mit Sicherheit einen hohen Blutzoll unter den Greifenfurtern fordern. Auch die beiden anderen Lager der Orks waren durch Erdanlagen geschützt. Sie hatten mindestens hundert menschliche Sklaven, die sie unerbittlich im Regen arbeiten ließen. Unterdessen blieb den Belagerten nichts anderes übrig, als zuzuschauen, wie die Orks ihre Positionen ausbauten und sicherten. Um die Stellungen der Gegner mit einem Trommelfeuer zu belegen, hatten sie weder genug Geschütze noch ausreichend Munition. Sie mußten haushalten! Schließlich konnte keiner sagen, wie lange die Belagerung dauern würde. Die Hoffnung auf einen schnellen Entsatz der Stadt hatten mittlerweile alle fahrenlassen.

Ihnen blieb nichts anderes übrig, als in dieser Lage ihre Verteidigungsposition auszubauen und auf den Angriff der Orks zu warten. Erst gestern hatte Marcian mit Darrag noch einmal die Sperren im Fluß kontrolliert, die verhindern sollten, daß Boote in die Stadt eindringen konnten. Auch hatte er veranlaßt, daß die alte Stadtmauer, die an mehreren Stellen von Straßen und Häusern durchbrochen war, wieder in Stand gesetzt wurde. Es hatte böses Blut wegen dieser Angelegenheit gegeben. Einige Wohnhäuser mußten zwangsgeräumt werden. Zerwas und Lancorian weigerten sich, ihre Türme zu verlassen. Bislang hatte er ihnen nachgegeben, doch es würde der Tag kommen, an dem sie weichen mußten. Sollten die Orks die Ostmauer überrennen, brauchten sie eine zweite Verteidigungslinie in der Stadt.

Marcian wußte ohnehin nur zu gut, wie unbeliebt er in Greifenfurt war. Vor zwei Tagen hatte er das Kommando über seine Einheiten an den Patrizier Gernot Brohm abgegeben. Die Brohms gehörten zu den ältesten Geschlechtern der Stadt. Der junge Mann genoß einen hervorragenden Leumund und hatte sich bereits als Unterführer bewährt. Dem Inquisitor hingegen verübelte man, daß er noch am selben Tag, an dem die Stadt eingekreist worden war, alle privaten Lebensmittel beschlagnahmen ließ. Dies war jedoch der einzige Weg, innere Unruhen zu verhindern. Sollten die Reichen ihn dafür nur hassen! Damit konnte er leben.

Schwieriger war es, mit der Wut Cindiras fertig zu werden. Sie lag hinter ihm im Bett. Marcian war sich nicht sicher, ob sie schlief. Erst eben hatten sie sich gestritten. Er wußte von seinen Agenten, daß sie sich in letzter Zeit immer häufiger mit Zerwas traf. Ausgerechnet! Obwohl er ihn nun schon mehr als zwei Wochen beobachten ließ, lieferten seine Spione kein wirklich stichhaltiges Material.

Wieder blickte er sich zu Cindira um. Gleichmäßig hob und senkte sich ihre Brust. Sie schien wirklich zu schlafen. Vielleicht sollte er noch einmal zu den Magiern gehen. Sie hatten in den letzten Tagen im Stadtarchiv nach Hinweisen gesucht, aus denen sich ergründen ließ, warum der Praios-Tempel eingerissen worden war. Marcian dachte oft darüber nach, was die Orks zu dieser unverständlichen Tat bewegen haben mochte. Doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.


Die Magier schliefen offensichtlich schon. Marcian klopfte schon zum wiederholten Mal gegen die schwere Holztür, als sie endlich geöffnet wurde. Der kleine muskelbepackte Yonsus stand in der Tür und schaute ihn verschlafen an.

»Darf ich hineinkommen?« Die Frage des Inquisitors war kaum mehr als eine Höflichkeitsfloskel. Ohne auf die Antwort zu warten, schritt er in die Kammer. Die beiden anderen Männer lagen noch in ihren Betten. »Ich wollte wissen, wie weit ihr mit euren Nachforschungen im Archiv gediehen seid!« Die Männer sahen sich schlaftrunken an, brummten unverständlich vor sich hin und standen aus ihren Betten auf, während Yonsus schon wieder unter seine Decke kroch.

»Laß ihn schlafen, Marcian, der hat sowieso nichts anderes als seine Geschütze im Kopf. In den letzten Tagen haben wir ihn kaum noch gesehen.«

Der Inquisitor stellte seine Laterne auf den Tisch, und die beiden Männer setzten sich zu ihm.

»Gut, daß du hier bist«, eröffnete der bärtige Odalbert das Gespräch. »Spätestens morgen wären wir zu dir gekommen. Wir brauchen eine Sondergenehmigung. Das Recht, ein Haus zu durchsuchen, und vielleicht auch ein paar Soldaten. Ich fürchte, es wird Ärger geben.« »Hat Zerwas Dreck am Stecken?« Marcian gab sich erst gar keine Mühe, seine Freude zu unterdrücken.

»Ich sprach von einem Haus, nicht von einem Turm«, entgegnete Odalbert trocken.

»Wir sind bei unseren Recherchen einer ganz anderen Sache auf die Spur gekommen«, mischte sich der schlacksige Riedmar ein. Er hatte sich seine Decke um die Schultern geschlungen und rutschte unruhig auf dem Schemel. »Zunächst waren wir sehr verwundert über die Unordnung, die im Archiv des Magistrats herrscht. Überall liegen Aktenstapel auf dem Boden des Kellers. Einige Regalbretter sind eingestürzt, und man muß schon wirklich lange suchen, um ein bestimmtes Dokument zu finden. Eigentlich ist es sogar fast unmöglich. Kennt man sich dort nicht aus, kann man höchstens Zufallsentdeckungen machen.« »Und genau das ist auch die Absicht, die dahinter steckt«, ergriff nun wieder Odalbert das Wort. »Der Stadtschreiber Irgan Zaberwitz hat etliche Dokumente verkauft. Wir haben fast eine Woche gebraucht, um das festzustellen. Was alles fehlt, läßt sich auf die schnelle nicht einmal annähernd schätzen. Wir haben bislang nicht einmal den zehnten Teil der Dokumente durchgesehen. Es reichte allerdings, um zu bemerken, daß immer wieder Seiten in Büchern fehlen, Urkunden, deren Existenz in anderen Dokumenten erwähnt ist, unauffindbar sind und so weiter.« »Und wer hat den Kram, der fehlt?« Marcian wurde ungeduldig.

»Ich bin nicht sicher, ob Irgan uns alle seine Kunden genannt hat, doch das meiste scheint er an das Patrizierhaus Brohm verkauft zu haben. Nach dem, was er uns erzählte, muß es dort eine umfassende Bibliothek über die Geschichte der Stadt geben«, fuhr Odalbert fort. »Wie habt ihr den Schreiber zum Reden gebracht?«Die Magier grinsten sich an. »Das war kein Problem. Wir haben ihn ein wenig eingeschüchtert.«

Marcian fragte nicht weiter. Für einen Moment herrschte Schweigen. »Über die Orks und den Grund für ihre merkwürdigen Ausgrabungen auf dem Platz der Tempel haben wir nichts gefunden. Ich denke, es sieht auch schlecht aus, was das angeht. Vor zweihundert Jahren ist das Rathaus bis auf die Grundmauern abgebrannt. Dokumente aus der Zeit vorher sind so gut wie nicht erhalten geblieben. Es gibt nur ein paar Niederschriften aus dem Gedächtnis des damaligen Archivars. Doch dieses Material ist auch wieder sehr lückenhaft. Eine interessante Spur haben wir aber, was Zerwas angeht.« Odalbert schwieg einen Augenblick, um die Spannung des Inquisitors zu genießen. »Der Turm, in dem Zerwas wohnt, ist der Turm der Henker. Er selbst war ja angeblich auch Henker. Dies mag noch Zufall sein, aber jetzt höre dir mal diese Namen an: WARSEW - WRESAN - ZARWEN. So hießen drei Henker, die dort vor Jahrhunderten lebten. Klingt alles recht ähnlich, nicht? Es kommt aber noch besser.« Wieder legte Odalbert eine seiner rhetorischen Pausen ein.

»Wir haben die Beschreibung des Henkerschwertes, mit der die drei ihren Beruf ausübten. Es ist genau die Waffe, die Zerwas heute besitzt.« »Ja, und ... ?« Marcian war die Spielchen des Magiers leid.

»Das war alles. Erscheint dir das nicht verdächtig?« mischte sich Riedmar ein.

»Das reicht nicht. Nur weil es ein paar Henker gab, die ähnliche Namen hatten, kann ich Zerwas noch nichts ans Zeug flicken. Ich brauche mehr.«

»Dann sorge dafür, daß wir uns das Privatarchiv der Brohms ansehen können. Vielleicht finden wir dort ja mehr.« Odalbert klang beleidigt. »Außerdem beobachten die beiden Elfen Tag und Nacht den Henker und dienen auch in seiner Bürgergarde. Ich bin sicher, daß wir bald mehr über ihn wissen werden. Dann werden wir den Stadtschreiber noch mal in die Mangel nehmen. Vielleicht hat er ja auch an andere verkauft.«

»Tut das!« Der Inquisitor erhob sich. »Ich komme euch morgen abend noch einmal besuchen.« Marcian nahm seine Blendlaterne und ging. Als er das Turmzimmer erreichte, war Cindira nicht mehr dort.


Am nächsten Morgen besichtigte der Inquisitor mit den anderen Offizieren den kleinen Hafen der Stadt. Der Wasserpegel war durch den ständigen Regen der letzten Tage bedenklich gestiegen. Obwohl die Anlagen nur wenig genutzt wurden, war der Hafen in einem guten Zustand. Nur während des Hochwassers im Herbst und Frühjahr konnten Flußkähne bis Greifenfurt die Breite heraufkommen. Mit Notsegeln und gezogen von Ochsen auf einem Treidelpfad erreichten sie die Grenzstadt. Durch den starken Regen war der Fluß nun mitten im Sommer schiffbar geworden, und Marcian machte sich Sorgen, daß die Orks vielleicht versuchen würden, auf diesem Weg in die Stadt einzudringen. Sollte es noch einen oder zwei Tage so weiterregnen, würden die scharfen Metallspitzen der eisernen Barrieren, die die Hafeneinfahrt und den Burggraben sicherten, unter den Fluten verschwinden.

»Kann man irgendwas dagegen unternehmen?« wandte sich Marcian an Darrag. Die Männer standen im strömenden Regen auf dem vordersten Kai.

»Das wird schwierig.« Der Schmied strich sich durch den Bart, der vor Wasser glänzte. »Ich fürchte, man müßte die ganze Konstruktion ausbauen, denn im Wasser kann ich nicht arbeiten. Damit wäre der Hafen aber dann völlig schutzlos.«

»Das Ganze ist doch wie ein Fallgitter gebaut, das im Hafenbecken liegt und durch eine Kette schräg aufgerichtet werden kann, so daß die eisernen Spitzen gegen die Rümpfe der Booten weisen, die hier anlegen wollen, nicht wahr?«

»Richtig«, entgegnete der Schmied. »Und?«

»Vielleicht sollte man eine zweite solche Anlage bauen, wenn wir es uns nicht leisten können, die Barriere auszubauen.«

Darrag fing an zu lachen. »Weißt du, wieviel Eisen ich brauche, um so ein Gitter zu schmieden. Vergiß es! Was wir noch an Metall in der Stadt haben, brauchen wir dringender, um Waffen für die Bürgerwehr zu schaffen.«

»Was nutzen uns die Waffen, wenn wir hier vom Hafen her überrannt werden?«

Laute Rufe zwischen den Lagerschuppen unterbrachen den Disput. Zwei Gestalten in grauen Umhängen, begleitet von einigen Wachen, kamen durch den Regen gelaufen. Odalbert und Riedmar!

»Der Stadtschreiber ist tot, er hat sich erhängt!« rief der schlacksige Riedmar schon von weitem. Marcian fluchte. Dann drehte er sich zu den Offizieren um. »Ich fürchte, ich muß dieser Sache nachgehen, bevor es Unruhe im Magistrat gibt. Findet eine Lösung für das Problem hier! Wir sehen uns heute abend.«

»Willst du nicht, daß wir mitkommen?« fragte Oberst von Blautann. »Ich halte es für falsch. Wenn wir alle dort auftauchen, geben wir der Angelegenheit damit ein Gewicht, das sie vermutlich gar nicht verdient hat. Ich möchte nicht, daß es zu unnötigem Gerede kommt.«

Inzwischen hatten die beiden Magier mit den Stadtgardisten die Offiziere erreicht.

»Ich werde mir vor Ort ansehen, was geschehen ist«, empfing sie Marcian und hob den rechten Arm. Ein Gruß, aber auch eine Geste, die man als Aufforderung zum Schweigen deuten konnte. Ohne ein weiteres Wort an die Offiziere verschwand er mit den Männern im Regen.


Der Dauerregen verwandelte die Gassen der Stadt in Schlamm. Marcian und die beiden Magier hatten sich Stiefel, Hosen und Umhänge besudelt und tropften vor Nässe, als sie das Rathaus erreichten. Unterwegs erzählten sie Marcian, daß mit einigem Ärger zu rechnen sei. Auf dem Dachboden hatte man einen Abschiedsbrief des Schreibers gefunden. Darin war die Rede von Inquisitoren, die ihn angeblich in den Tod getrieben hatten.

Hastig erklomm Marcian die enge Stiege, die zum Dachstuhl führte. Dort hatten sich mehrere Ratsherren versammelt und starrten zum Schreiber hinauf, der an einem Hanfseil von einem der mächtigen Querbalken des Dachstuhls hing.

»Wer hat ihn gefunden?« Marcian mußte fast schreien, um das Geräusch der schweren Regenschauer auf den Holzschindeln des Daches zu übertönen. Erschrocken drehten sich die Männer und Frauen um. Sie hatten ihn offensichtlich nicht kommen hören.

Zaghaft meldete sich ein sommersprossiges Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren. »Ich.« »Was hattest du hier oben zu suchen?« »Ich sollte hier einen Eimer aufstellen, weil es durch das Dach regnete und in eine Amtsstube tropfte.«

Marcian musterte den Toten. Irgendwo mußte ein Fenster offen sein. Die Leiche drehte sich leicht im Luftzug, während das Seil ein unangenehmes Knarren von sich gab. Irgan hing die Zunge aus dem Hals. Die Züge des Toten waren schrecklich verzerrt. Unter ihm lag ein umgestoßener Stuhl am Boden, daneben ein Aktendeckel. An den Stuhl lehnte der Krückstock des alten Mannes.

»Hat hier jemand etwas verändert?« fragte Marcian mit schneidender Stimme.

Schweigen. Schließlich meldete sich Glombo Brohm zu Wort. Ein feister Mann mit dicken Speckrollen unter dem Kinn. Schweiß perlte ihm auf der Stirn. »Ich habe das hier aufgehoben.« Er schwenkte ein Blatt Papier. »Sonst hat hier, glaube ich, keiner was angefaßt. Was soll die Frage?«

Marcian blieb dem Mann die Antwort schuldig. Mit ausgestreckter Hand forderte er das Papier. In fahriger Schrift, ganz anders als die wunderschön gemalten Buchstaben, für die der Schreiber in der Stadt bekannt war, hatte er seinen Abschied verfaßt.

Seit Wochen werde ich verfolgt und bedrängt. Jetzt drohen mir die Inquisitoren mit der hochnotpeinlichen Befragung. Ich bin unschuldig, doch ich bin auch ein alter Mann. Bevor ich auf der Folter ein Verbrechen gestehe, das ich nicht begangen habe, scheide ich lieber freiwillig aus dem Leben. Mögen die Götter mir vergeben!

IRGAN ZABERWITZ

Verfaßt am 23. Tag des Monats Praios, im 20. Jahr nach der Thronbesteigung des Kaisers Hai.

Marcian blickte finster zu den beiden Magiern hinüber, als der dicke Ratsherr nach dem Schreiben griff. »Was soll das mit der Inquisition? Was glaubt Ihr, was Irgan damit gemeint hat?« Die Frage hatte einen drohenden Ton.

»Was weiß ich über die Hirngespinste eines alten Stadtschreibers?« antwortete Marcian gelassen.

»Vielleicht sollten wir lieber die beiden dort fragen?« Glombo Brohm deutete auf Odalbert und Riedmar. »Sie haben Irgan in letzter Zeit arg zugesetzt. Und Ihr wart ja wohl derjenige, der sie hierher geschickt hat.« »Richtig, aber bin ich deshalb ein Inquisitor? Die zwei dort habe ich ausgesucht, weil sie lesen und schreiben können. Sie sollten im Archiv nach Unterlagen suchen, aus denen sich ergibt, warum die Orks den Platz der Sonne verwüstet haben. Irgan sollte ihnen helfen und hat sich dabei alles andere als kooperativ verhalten. Wie es in seinem Stadtarchiv aussieht, brauche ich euch ja wohl nicht zu erzählen. Die beiden haben sich mehrfach über ihn bei mir beschwert. Und das war alles.« »Aber ...« setzte der dicke Ratsherr an.

»Strapaziert nicht meine Geduld! Als Befehlshaber der Stadt leite ich die Untersuchung. Die beiden hier taten nur ihre Pflicht. Sie haben Irgan in meinem Auftrag ausgerichtet, daß seine schludrige Verwaltung zum Himmel stinkt und daß er mit einer Strafe zu rechnen hätte. Wenn sich der alte Mann darüber in irgendwelche Wahnvorstellungen gesteigert hat, tut es mir aufrichtig leid. Diesen Schrieb hier betrachte ich als blanken Unsinn.«

»Ihr habt wohl recht«, lenkte Glombo ein.

»Holt den Toten da runter«, wandte sich Marcian an die Wachen, die noch auf der Treppe standen. »Und ihr beiden folgt mir zur Garnison. Ich habe mit euch zu reden.« Unsicher schauten sich Odalbert und Riedmar an.

Als man Irgan vom Seil geschnitten hatte, nahm Marcian dessen Schlüssel zum Archiv an sich. Dann hob er den Aktendeckel vom Boden auf und stieg die Treppe hinab.


Der Inquisitor durchmaß schon zum dritten Mal das Turmzimmer. Er war außer sich vor Wut. Auf dem Weg bis zur Garnison hatte er geschwiegen. Er wollte nicht, daß andere dieses Gespräch mitbekamen. Doch jetzt platzte es aus ihm heraus.

»Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen! Ihr habt euch wohl als allmächtige Inquisitoren gegenüber dem alten Mann aufgespielt!«

»Gar nichts haben wir«, entgegnete Odalbert trotzig.

»Und was soll dieser Brief? Jemand weiß Bescheid. Die Frage ist nur, ob er seine Informationen von Irgan hat oder aus einer anderen Quelle. Mit diesem Abschiedsbrief wollte er uns auffliegen lassen.«

Die beiden Magier konnten Marcian nicht ganz folgen.

»Ich glaube nicht, daß dieser alte Schmierfink Selbstmord begangen hat.« Jetzt legte Marcian eine kleine Pause ein und genoß die Verblüffung auf den Gesichtern der zwei. »Seid ihr eigentlich blind? Habt ihr nicht den Krückstock am umgestürzten Stuhl lehnen sehen? Glaubt ihr, Irgan ist, nachdem er sich erhängt hat, noch einmal herabgestiegen, um den Stock ordentlich anzulehnen? Und was fällt euch an dieser Akte auf?« Der Inquisitor hielt den beiden die Kladde aus dickem Papier hin. Die Aufschrift aus Tinte war naß geworden und bis zur Unkenntlichkeit zerlaufen.

Riedmar musterte den Aktendeckel und zog dann die Schultern hoch. »Haltet die Pappe mal schräg gegen das Licht.«

Der Magier folgte den Anweisungen Marcians, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

»Siehst du den Siegelabdruck unten in der Ecke nicht? Das ist ein Siegel der Inquisition. Der Greif ist fast nicht mehr zu erkennen. Jemand hat dort seinen Ring in der Pappe abgedrückt. Das heißt, daß in dieser Akte irgendein Schriftstück der Inquisition aufbewahrt wurde. Wer immer Irgan ermordete, hat es mitgenommen. Wahrscheinlich ist der Täter über das Dach gekommen. Schließlich war eine Stelle am Dach eingedrückt, so daß es dort morgens durchregnete und das Mädchen geschickt wurde, um den Eimer aufzustellen. Außerdem war auch eines der Dachfenster nur angelehnt, so daß es ganz schön gezogen hat da oben. Ich denke, der Schreiber wollte jemanden erpressen.«

»Aber wen?« fragte Odalbert.

»Das herauszufinden ist eure Aufgabe. Ihr nehmt euch jetzt einige Wachen und stattet dem Patrizier Brohm einen Besuch ab. Von ihm wissen wir, daß er von Irgan Akten gekauft hat. Schaut euch seine Sammlung an und sucht dort und im Stadtarchiv nach Hinweisen auf einen Inquisitions-Prozeß. Wenn wir darüber mehr wissen, werden wir vielleicht den Mörder finden.«


Diese Sartassa Steppenwind machte ihm schon wieder schöne Augen. Zerwas lächelte ihr zu. Sie war durchaus talentiert. Er hatte die hübsche Halbelfe in den Rang eines Korporals erhoben und zur Anführerin eines Trupps seiner Bürgermiliz gemacht. Zu schade, daß dies alles nur ein Spiel war. Der Vampir war gewohnt, daß Frauen seinem besonderen Charme sehr schnell verfielen. Doch bei Sartassa war es zu schnell gegangen. Sie kam aus der Garnison, und er war sich von Anfang an sicher, daß Marcian sie zusammen mit der Auelfe geschickt hatte, um ihm nachzuspionieren. Genauso wie die beiden Gelehrten, die im Stadtarchiv herumschnüffelten, um etwas über ihn herauszufinden. Gestern nacht hatte er sich von Sartassa verführen lassen. Es war schön. Er glaubte schon, es wäre ernst, doch als er ihre Sachen durchsuchte, fand er den Beweis, daß sie nichts als seinen Tod im Sinn haben konnte.

Der Vampir schaute der Halbelfe beim Schwertkampf zu. Nur wenige aus seiner Bürgerwehr konnten es mit ihr aufnehmen. Ihre Art zu kämpfen war fast wie ein Tanz. Sie bewegte sich mit eleganten Bewegungen, wich den Schlägen des Gegners aus, um ihn in eine unvorteilhafte Position zu locken und dann blitzschnell einen tödlichen Schlag zu landen. Übermütig grüßte sie ihn mit erhobenem Schwert vom Fechtplatz. Ihr Gegner lag zu ihren Füßen im Staub. Sie trug ein Kettenhemd und einen Waffenrock, der von einem breiten silberbeschlagenen Wehrgehänge umgürtet war. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie wie immer zum Kampf hochgesteckt. Zerwas verschlang sie mit Blicken. Sie würde heute nacht wiederkommen.

Selbstsicher lächelte Sartassa ihm zu. Sie wußte nicht, was er war. Sie ahnte es nicht einmal. Als er vergangene Nacht von seinem Ausflug zurückgekehrt war, lag sie nicht mehr in seinem Bett. Sie hatte die Sachen gepackt und war verschwunden. Es hatte ihn nicht sehr überrascht, sie nicht mehr zu treffen. Er war die Treppe im verfallenen Turm hochgestiegen, um sich in seinem geheimen Gemach für ein paar Stunden zur Ruhe zu legen. Dabei fiel ihm eine Eule auf, die zwischen den geborstenen Steinen der Turmruine saß. Das Tier hatte er bislang noch nie bemerkt. Eine ungewöhnliche Ausstrahlung umgab den nächtlichen Jäger. Die Kraft ›Seulaslintan‹ ließ ihn erkennen, was es wirklich war. Zunächst hatte er nur die magische Aura der Eule wahrgenommen, doch dann erkannte er Sartassa in ihr. Er war nicht mehr in sein Versteck gegangen, doch sie mußte etwas ahnen. Sie würde mit Sicherheit in dieser Nacht wiederkommen.

Zerwas beendete die Übungen. Es war sehr schwül heute. Der Regen der letzten Tage hatte aufgehört. Dennoch stand der Himmel voller Wolken. Sartassa schlenderte über den Platz auf ihn zu. Mit schweißglänzender Hand griff sie ihm ins Haar. »Na, mein Schöner, wie vertreibt Ihr Euch diese Nacht?« Sie streichelte ihm den Nacken. »Mit Sicherheit angenehm. Vielleicht sollten wir zusammen etwas essen?« Zerwas lächelte sie hintersinnig an. »Ich werde die Offiziersversammlung heute abend früh verlassen. Sei um Mitternacht an meinem Turm! Ich werde dich bei Kerzenlicht und kühlem Wein erwarten.«

»Sei pünktlich, ich werde nicht warten«, entgegnete sie übermütig und ging.


Er war pünktlich. Doch Sartassa kam zu spät. Zerwas hatte Dutzende von Kerzen in seinem Turmzimmer aufgestellt. Räucherstäbchen brannten vor dem Boronschrein und schwängerten die schwüle Luft mit süßlichen Düften. Eine Karaffe mit erlesenem Wein und silberne Pokale standen neben dem Bett. Er hatte sich mit Duftölen aus Maraskan eingerieben und wartete. Diese Nacht war wie geschaffen für ein erotisches Abenteuer. Endlich klopfte es. Zerwas mußte sich zwingen, nicht zu schnell zur Tür zu eilen. Er wollte nicht, daß sie sah, wie sehr er sie herbeigesehnt hatte. Sartassa sah göttlich aus. So mußte die Göttin Rahja sein, die Herrin von Rausch und Liebe. Die Halbelfe trug ihr langes schwarzes Haar jetzt offen. Eine einzelne Blume steckte zwischen den Locken. Ein dünnes Kleid betonte ihren vollkommenen Körper mehr, als daß es ihn verbarg. Um die Hüfte trug sie wieder Wehrgehänge und Schwert. Sie wirkte gefährlich. Um ihren Hals lag eine schwere tulamidische Kette aus Silbermünzen und aus zu schweren Tränen geschliffenen Onyxen. Fußknöchel und Handgelenke zierten filigrane Ketten mit kleinen silbernen Glöckchen, die jede ihrer Bewegungen mit einem hellen Klingeln unterstrichen.

»Ich hoffe, Ihr habt nicht auf mich gewartet«, sagte sie mit keckem Augenaufschlag und trat ein. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie Zerwas sie mit den Augen verschlang. »Schön hast du es gemacht.« Sie strich ihm über die Brust und öffnete spielerisch sein Hemd. »Den ganzen Tag sehne ich mich schon nach dir. Wohin bist du gestern abend verschwunden?«

»Spazieren. Nach deinen feurigen Umarmungen brauchte ich ein wenig kühle Nachtluft.«

»Das Feuer, das ich heute in dir entfachen werde, wird kein Nachtwind mehr löschen können.« Sartassa schlenderte zum großen Himmelbett, ließ sich auf den schweren Brokatstoff fallen und räkelte sich wie eine Katze. »Komm herzu mir!«

Sie winkte Zerwas und fuhr sich mit der Zungenspitze über die sinnlichen Lippen. Sie wollte diesen Mann. Es war ihr Auftrag, ihn zu verführen und ihm seine Geheimnisse zu entlocken, doch noch nie hatte sie einen Auftrag so gern erfüllt. Er war ein göttlicher Liebhaber, und die Aura des Geheimnisvollen, die ihn umgab, machte ihn noch interessanter. Sie streifte ihm das Hemd von den muskulösen Schultern, grub ihre Nägel in seinen Nacken und genoß seine wilden Küsse. Geschickt öffnete er ihr Kleid, ließ seine Hände über ihren Körper streichen und drang in sie ein. Meisterhaft verstand er es, den Liebesakt immer wieder hinauszuzögern, bis ihr Körper ein einziges Sehnen nach lustvoller Erlösung war. Als sie endlich kam, war sie der Ohnmacht nahe. Stöhnend warf er sich über sie, kitzelte mit seiner Zunge ihren Hals und biß in ungezügelter Lust zu. Was für ein Kuß! Der Schmerz war schnell verflogen. Dann fühlte sie sich so leicht wie unter der Einwirkung einer Droge. Schließlich rollte Zerwas mit einem Seufzer zur Seite. Sartassa tastete nach ihrem Hals. Der Biß hatte zwei kleine Male hinterlassen. Sie drehte sich um und spielte mit den Haaren auf der Brust des Henkers. »Du gebärdest dich ja wie ein Raubtier.« Ein kleiner Tropfen Blut hing noch zitternd in seinem Mundwinkel.

»Hat es dir nicht gefallen?« Zerwas schlug mit gespielter Überraschung die Brauen hoch.

»So hat mich noch kein Mann geküßt.« Sartassa schloß die Augen. Nach einer Weile fragte sie: »Gibt es hier ein Versteck? Ich sehe dein Schwert und deine Rüstung nicht.«

Hätte sie nur den Mund gehalten! Zerwas richtete sich auf. Wäre sie seinetwegen hier gewesen, hätte er sie geschont, hätte sie zu seiner Gefährtin gemacht und mit ihr die Stadt verlassen. Aber sie wollte nur seinen Kopf. Dessen war er sich nun sicher. Wieder dachte er an den Ring in ihrem Gürtel, der das goldene Siegel mit dem Greifen trug. Wie ihm die Inquisition nur so schnell auf die Spur gekommen war? Er blickte Sartassa tief in ihre grünen Augen. »Ich werde dir nun mein Geheimnis zeigen. Es gibt hier eine verborgene Kammer. Komm mit mir!« Der Vampir erhob sich aus dem großen Bett und ging zu der kleinen Stiege hinüber. »Zieh dich nicht an! Ich sehe dich lieber nackt, und uns kann niemand beobachten.« Schelmisch grinste die Elfe ihn an und folgte dem Vampir. Sie stiegen auf das provisorische Dach des Turmes und kletterten dann die schmale Steintreppe an der Innenwand hinauf. Auf der letzten Stufe blieb Zerwas stehen. »Hast du Mut?« Verschlagen blickte er Sartassa an.

»Was soll die Frage?« Die Halbelfe wurde zornig. Was spielte der Henker für ein Spiel?

»Wenn du den Mut hast, einen Schritt zu tun, den kein vernünftiger Sterblicher tun würde, wirst du mein Geheimnis sehen.«

»Du sprichst in Rätseln, Henker.« Der Nachtwind spielte in Sartassas Haar. Die Situation war ihr unheimlich. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

»Siehst du die geborstene Stufe, mit der die Treppe ins Nichts endet? Geh einen Schritt weiter!«

»Willst du mich in die Tiefe stürzen sehen?« Die Halbelfe drückte sich gegen die schwarzen Steine der Mauer.

»Ich hätte dich für mutiger gehalten.« Zerwas zuckte resignierend mit den Schultern. Dann trat er über die letzte Stufe und war verschwunden. Sartassa blickte in die Tiefe. Er war nicht abgestürzt. Er war einfach verschwunden, als hätte die Nacht ihn geschluckt. Unsicher erklomm sie die letzte Stufe und tastete vorsichtig mit dem Fuß in die Luft. Da war nichts. Würde sie einen Schritt weiter gehen, stürzte sie ab. »Folge mir! Hab keine Angst!« Die Stimme von Zerwas kam mit dem Nachtwind. Sartassa biß sich auf die Lippen. Sie war sich nicht sicher, ob sie wachte oder träumte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und machte den Schritt über den Abgrund. Im nächsten Moment spürte sie festen Boden unter den Füßen. Sie stand in einer dunklen, kühlen Kammer.

»Eines meiner Geheimnisse kennst du nun«, erklang hinter ihr die Stimme von Zerwas. »Und gleich wirst du noch eines erfahren.«

Sartassa drehte sich um. Hinter ihr stand breitbeinig der Henker, sein großes, schwarzes Schwert zum Schlag erhoben.

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