4

Marcian schreckte aus seiner düsteren Stimmung hoch. Aus der Stadt erklang Jubel. Horner wurden geblasen. Er ging zum Turmfenster, doch war durch die schmalen Schießscharten nicht genau zu sehen, was vor sich ging. Die Straßen waren voller Menschen, und alle bewegten sich auf das Andergaster Tor zu. Eilig schritt der Inquisitor zur Treppe, um auf die Plattform des Turms zu gelangen. Was mochte da vor sich gehen?

Noch bevor er oben angekommen war, hörte er den Turmwächter schon »Hurra!« schreien. Der Mann, einer von Lysandras wettergegerbten Freischärlern, fiel ihm schier um den Hals, als er durch die Bodenluke auf die Plattform trat.

»Sie sind da! Sie sind da! Der Krieg ist zu Ende.« Der Mann umarmte ihn, als seien sie Brüder. Freudentränen standen ihm in den Augen. Marcian begriff nicht, was vor sich ging. Er befreite sich von der Umarmung und schritt zu den Zinnen. Vor dem Andergaster Tor hatten über hundert Reiter in schimmernden Panzern Aufstellung genommen. Von weitem konnte Marcian kaiserliche Banner erkennen. Sollte das Prinz Brins Vorhut sein? Zwei Wochen war es nun schon her, seit die Greifenfurter die Stadt befreit hatten. Zwei Wochen, in denen sie keine Nachricht aus dem Kaiserreich erreicht hatte und in denen die Zweifel der Bürger stetig größer wurden, ob sie das Richtige getan hatten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Auch wenn sich kein Ork vor den Toren der Stadt blicken ließ, waren sie doch fast vollständig abgeschnitten gewesen. Marcian konnte im Moment keinen Kämpfer entbehren, und so hatte er darauf verzichtet, Reiter loszuschicken, um die Botschaft von der Rückeroberung Greifenfurts in den nahgelegenen Dörfern zu verbreiten. Es war auch keiner mehr zur Stadt gekommen, abgesehen von einigen wenigen Flüchtlingen. Von denen wußte er, daß die Orks alle Straßen zur Stadt gesperrt hielten.

Und jetzt standen kaiserliche Ritter vor den Toren! Ob es wohl noch eine weitere Schlacht wie auf den Silkwiesen gegeben hatte? War der Schwarze Marschall endgültig geschlagen worden, und waren die Truppen vor dem Tor die Vorhut des Prinzen? Die Reiter formierten sich zu einer Kolonne und kamen in die Stadt. In wenigen Augenblicken würden sie den Hof der Garnison erreichen. Es war an der Zeit, ihnen entgegen zu gehen.

Oberst Alrik von Blautann kommandierte die drei Kürassierbanner, die Greifenfurt erreicht hatten. Ein junger, schneidiger Offizier und seit der Schlacht auf den Silkwiesen, als er mit einer tollkühnen Attacke das Leben des Prinzen rettete, einer der Günstlinge des Garether Hofs. Mit klirrenden Sporen und in voller Rüstung kam er durch den Empfangssaal des Palas' auf Marcian zu. In einigem Abstand folgten seine Offiziere.

»Ich grüße Euch, Oberst von Blautann und vom Berg!« begann der Inquisitor formell das Gespräch. »Ich nehme an, Ihr seid die Vorhut des Prinzen. Bis wann ist mit Entsatz zu rechnen?«

»Die Vorhut des Prinzen sind wir, doch ich fürchte, mit dem Entsatz müßt Ihr noch ein wenig warten«, erwiderte der junge Oberst. »Kann ich offen sprechen?«

Marcian gab den Wachen einen Wink, und die Männer verließen den Saal. »Was ist los? Kommt Ihr mit geheimer Order?«

Der Oberst starrte auf die Kacheln am Boden des Saals. »Ich habe Nachrichten, die nicht jeder hören sollte. Wir sind keineswegs als Entsatz hier. Im Gegenteil, wir sind froh, die schützenden Mauern der Stadt noch erreicht zu haben. Gestern im Morgengrauen haben wir einen Angriff auf das Lager des Schwarzen Marschalls geritten und sind in einen Hinterhalt geraten. Entweder haben seine Späher frühzeitig meine Reiter entdeckt, oder wir sind verraten worden. Jedenfalls waren wir plötzlich von Hunderten bis an die Zähne bewaffneten Orks eingekreist, als wir das Lager angriffen. Ein Durchbruch nach Süden, zur Armee des Prinzen war nicht mehr möglich. Also haben wir es in westlicher Richtung versucht, um uns nach Greifenfurt durchzuschlagen oder um weiter im Norden in einem der Wälder Zuflucht zu finden. Seitdem war uns der Marschall persönlich mit seiner Leibgarde auf den Fersen. Ich habe fast ein Drittel meiner Männer verloren. Erst als die Stadt in Sichtweite kam, drehte er mit den Zholochai ab.«

Marcian rieb sich das Kinn. »Das sind in der Tat schlechte Nachrichten. Was ist mit den Truppen des Prinzen?«

»Er steht mit der Armee am Nordrand des Reichsforstes. Mit Glück könnte er in zwei oder drei Tagesmärschen hier sein. Aber ich fürchte, daß es mit dem Entsatz noch etwas dauern könnte. Die Orks haben sich organisiert und leisten verbissen Widerstand. Ich glaube nicht, daß wir deshalb bald mit dem Prinzen rechnen können.«

Marcian spielte nervös an seinem Schwertknauf. »Und was wird aus Euch und Euren Männern, Oberst?«

»Wir würden gerne von Greifenfurt aus weiter gegen die Orks kämpfen. Etliche meiner Reiter brauchen allerdings zunächst die Hilfe eines Medicus'.«

»Gut«, erwiderte Marcian. »Ihr sollt Quartiere hier in der Garnison bekommen. Hier gibt es angemessene Unterkunft und vor allem haben wir genug Ställe, um die Pferde unterzubringen. Die Geschichte von der Falle, in die ihr geritten seid, sollte in der Stadt allerdings nicht bekannt werden. Die Moral der Bürger ist nicht allzu gut. Sie rechnen täglich damit, daß der Prinz vor den Toren erscheint und daß dann für sie der Krieg zu Ende ist. Wenn die Nachricht von eurer Niederlage und den wiedererstarkten Orks die Runde macht, könnte es Unruhen in der Stadt geben.«

»Habt Ihr die Lage nicht unter Kontrolle?« Der Oberst blickte Marcian mit seinen blauen Augen an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Dennoch schwang unüberhörbar ein provozierender Ton in der Frage mit.

»Ich habe hier keinerlei reguläre Truppen, nicht einmal eine Stadtgarde. Die Kämpfer, auf die ich zurückgreifen kann, sind undisziplinierte Freischärler, ausgemergelte Sklaven und Bürger, die nicht einmal wissen, wie man ein Schwert richtig hält. Mit diesen Truppen habe ich die Garnison gestürmt und die Orks aus der Stadt geworfen. Nur leider glauben seit dem Tag alle, der Krieg sei bald vorbei. Noch Fragen?« Die letzten Worte hatte Marcian mit schneidender Schärfe gesprochen.

»Gab es seit der Befreiung der Stadt noch Schwierigkeiten mit den Orks?«

Der junge Oberst wollte ihn wohl aus der Reserve locken. Auf dieses Spiel würde sich Marcian nicht einlassen. »Wir sind vom Rest der Welt abgeschnitten. Alle Straßen nach Greifenfurt werden von den Orks kontrolliert. Doch sie wagen sich nicht in Sichtweite der Mauern. Nur einmal, zwei Tage nach dem Sturm auf die Garnison, muß ein vereinzelter Krieger in die Stadt eingedrungen sein. Er hat die Tochter des Bäckers vom Andergaster Tor getötet. Wir fanden sie morgens enthauptet und skalpiert. Von dem Ork fehlte jede Spur. Seitdem sind die Nachtwachen auf den Mauern verdoppelt, und es hat keine weiteren Übergriffe gegeben.«

»Habt Ihr außer uns noch Reiter in der Stadt?« wollte der junge Oberst wissen.

»Nein. Ich bin froh, gerade genug Kämpfer zu haben, um die Mauern zu bemannen. Worauf wollt Ihr hinaus, Oberst?« Marcian blickte den Offizier finster an.

Einen Augenblick zögerte er, doch dann brach es regelrecht aus ihm heraus: »Vielleicht wäre es an der Zeit, den Krieg unter die Orks zu tragen. Warum sollen wir ihnen immer die Initiative überlassen? Ich bin sicher, daß die Truppenkonzentration in der Nähe der Stadt nicht stark genug ist. Warum sollten wir die Orks nicht angreifen und die Bauern aus der Region in die Stadt bringen, um über mehr Kämpfer zu verfügen. Ich bin sicher, die meisten Männer und Frauen, die ein Schwert halten können, wären froh, wenn sie gegen die Orks kämpfen könnten. Sie brauchen nur Anführer. Sie müssen sehen, daß wir die Schwarzpelze besiegen können. Dann werden sie schon von ganz allein zu unseren Fahnen eilen. Draußen auf dem Hof stehen 80 unverwundete Reiter, die nur darauf warten, die Scharte von gestern wieder auswetzen zu können. Das sind die besten Kavalleristen des Prinzen. Ich glaube nicht, daß es hier in der Nähe irgendwelche Truppen gibt, die uns gewachsen sind. Wir sollten ...«

Marcian unterbrach den Oberst. »Ihr solltet über das, was Ihr sagt, noch einmal nachdenken. Es ist wenig mehr als eine Stunde her, daß Ihr und Eure Männer noch auf der Flucht waren. Ihr haltet es wohl für völlig ausgeschlossen, daß man vor den Mauern noch auf Euch warten könnte? Nichts für ungut, Oberst, doch seid Ihr noch ein sehr junger Offizier, und nichts liegt mir ferner, als Euren Mut in Frage zu stellen, aber für den Moment halte ich Euren Plan für alles andere als gut. Schont Eure Männer ein paar Tage, und dann werden wir weitersehen.«

Der Ritter setzte zu einer Entgegnung an, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Marcian fort. »Falls Ihr nun mit mir darüber diskutieren wollt, daß auch Ihr Oberst seid und demzufolge nicht meiner Befehlsgewalt untersteht, so bedenkt, daß ich das höhere Dienstalter habe. Außerdem bin ich vom Prinzen und vom Großinquisitor als Befehlshaber dieser Stadt eingesetzt, was heißt, daß mir alle Offiziere in diesen Mauern unterstellt sind. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Ein zerknirschtes »Ja« kam als Antwort. Der Oberst und seine Offiziere wichen Marcians Blick aus. Er durfte nicht zulassen, daß sie seine Autorität in Frage stellten.

»Meine Herren, wir sind hier nicht auf dem Jahrmarkt! Wie heißt die korrekte Antwort gegenüber einem Vorgesetzten?« Der Inquisitor hatte einen beißenden Ton angeschlagen.

Blautann und seine Männer nahmen Haltung an und schmetterten wie aus einer Kehle: »Jawohl, Herr Oberst!«

»Gut so.« Nur mit Mühe konnte Marcian sich das Grinsen verkneifen. »Wegtreten! Die Wachen vor der Tür werden Euch die Quartiere zeigen. Ich würde mich freuen, Euch um Sonnenuntergang zu einem gemeinsamen Nachtmahl begrüßen zu können.«

»Jawohl, Herr Oberst!« tönte es wieder durch den Saal. Dann machten die Ritter auf der Stelle kehrt und marschierten im Gleichschritt zur Tür hinaus. Es war lange her, daß richtige Soldaten vor ihm Haltung angenommen hatten. Ein wenig wehmütig dachte Marcian an seine Tage als junger Offizier in der Garether Kaserne. Er war sicher, daß die jungen Burschen vor der Tür nun über ihn alten Schinder fluchen würden. Der Inquisitor schmunzelte. Die Ritter sollten sich um die Ausbildung der Bürger und Freischärler zu richtigen Soldaten kümmern. Er war es leid, sich mit diesen Witzfiguren auf dem Exzerzierplatz der Burg herumzuschlagen. Er hatte wichtigere Dinge zu tun, als Dummköpfen den Schwertkampf beizubringen. Die Worte des jungen Obristen gingen ihm immer noch durch den Kopf. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Stadt zu verlassen und den Orks einen Besuch abzustatten. Der Moral der Bürger würden kleine Kommandounternehmen mit Sicherheit gut tun. Und die Gefahr, auf ernsthaften Widerstand zu stoßen, war wirklich nicht sehr groß. Marcian würde mit den Rittern heute abend darüber sprechen. Doch nun mußte er bei Lysandra vorbeischauen. Die Arme war durch ihre zweiwöchige Krankheit ziemlich gereizt. Sie hatte mit ihren Frauen und Männern die alte Unterkunft der Stadtwache nahe dem Andergaster Tor bezogen. Marcian würde ihr kein Gift mehr ins Wasser mischen. Er brauchte sie wieder einsatzfähig. Niemand kannte das Gelände rund um die Stadt so gut wie sie und ihre Freischärler. Sie sollten die Attacken der Ritter vorbereiten und sie als Späher begleiten.


Lysandra hatte es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls zum Nachtmahl mit den Offizieren im Palas der Burg zu erscheinen . Wie in der Nacht des Angriffs auf die Garnison hatte sie wieder ihre prächtige Rüstung angelegt, und nur wer sie sehr genau kannte, konnte ihr ihre Schwäche anmerken. Fast zwei Wochen hatte sie im Bett gelegen und kaum die Kraft gehabt aufzustehen. Kein Heiler der Stadt hatte ihr helfen können. Marcian war sehr besorgt um sie gewesen und hatte sie täglich besucht. Als keine Medizin half, hatte er sogar seinen Freund, den Magier Lancorian zu ihr gebracht. Doch seinen Künsten waren in ihrem Fall auch Grenzen gesetzt. Er hatte ihr nur leichte Linderung verschaffen können. Heilen konnte er sie nicht. Es war das erste Mal, daß sie seit der Krankheit etwas anderes als Milchbrei aß. Das Wildbret, an dem sich die Offiziere gütlich taten, war freilich nicht das Richtige für sie. Auch wenn sie gerne endlich wieder Fleisch gegessen hätte, begnügte sie sich vorerst mit hellem Brot, etwas Bratensoße, Obst und verdünntem Wein.

Gut, daß sie die Kraft hatte, wieder unter Menschen zu kommen. Ihr hatte nicht gefallen, daß ihre Leute in der Stadt geblieben waren, nur weil sie krank war. Und jetzt planten die Offiziere an diesem Tisch, mit ihren Männern gegen die Orks zu ziehen. Es mochte ja sein, daß jeder für sich ein guter Kämpfer war, aber mit ihren Vorstellungen von Rittertum würden sie es draußen in der Wildnis nicht weit bringen. Die Strategie ihrer Freischärler sah keine glänzenden Kavallerieattacken vor. Das würde viel zu viele Krieger das Leben kosten. Lysandra wußte genau, daß sie deshalb von ihren Kämpfern so vergöttert wurde, weil sie kein unnötiges Risiko einging, und immer wenn es gefährlich wurde, selbst in vorderster Reihe stand. Diese Ritter dachten anders. Ihre Leute betrachteten sie wahrscheinlich lediglich als bewaffnete Bauern. Wertlose Figuren im Kriegsspiel der Edlen, die man bedenkenlos in den Tod schicken konnte. Ihr Leben zählte nichts. Doch sie würde nicht zulassen, daß man so mit ihren Leuten umging!

»Nun, Lysandra, meint Ihr, Ihr könnt Euch wieder auf einem Pferd halten? Marcian hat mir erzählt, was für ein Mißgeschick euch heimgesucht hat.« Oberst von Blautann machte während der Worte eine grüßende Geste in ihre Richtung.

»Mich auf einem Pferd zu halten ist noch das geringste unserer Probleme. Offen gestanden halte ich nicht viel davon, einfach ins Blaue zu reiten. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir dieses Wortspiel.«

Der Ritter runzelte die Stirn. Mit der Zunge schien er nicht so geschickt zu sein wie mit dem Schwert, dachte Lysandra. Nun, das bedeutete zumindest, daß er kein Höfling sein konnte.

»Was meint Ihr ›mit ins Blaue reiten‹, gute Frau?« Der junge Oberst versuchte herablassend zu klingen, doch konnte er seinen Zorn nicht ganz verbergen. Die Amazone blickte zu Marcian hinüber. Er hatte sich in seinem Eichensessel zurückgelehnt und beobachtete mit einem amüsierten Lächeln ihre Auseinandersetzung.

»Nun nicht, daß ich der Reiterschar, die Ihr in die Stadt geführt habt, nichts zutrauen würde. Doch wie gefährlich ist das beste Schwert in den Händen eines Knaben?«

Der Oberst sprang auf: »Das nehmt Ihr zurück!«

»Was?« fragte Lysandra provozierend gelassen. »Etwa, daß man Eurer Reiterschar durchaus etwas zutrauen kann?«

»Ihr wißt genau, was ich meine.« Die Stimme des jungen Offiziers überschlug sich vor Wut. »Wenn Ihr Euch nicht auf der Stelle entschuldigt, verlange ich Satisfaktion.«

»Glaubt nicht, daß ich dulden werde, daß sich meine Offiziere gegenseitig an die Gurgel gehen!« Marcian hatte sich erhoben. »Setzt Euch wieder! Ich erinnere Euch daran, daß Greifenfurt unter Kriegsrecht steht, und deshalb Duellanten mit der Todesstrafe zu rechnen haben. Einen Verstoß gegen die Disziplin in dieser Stadt werde ich nicht dulden. Schon gar nicht unter Anführern. Muß ich Euch wirklich daran erinnern, daß Ihr Vorbilder sein solltet. Und was dich angeht, Lysandra, unterlaß deine Zweideutigkeiten und sag, was du meinst.«

»Ich meine, daß es vollkommen sinnlos ist, einfach aus der Stadt zu reiten und zu hoffen, daß uns schon ein paar Orks in die Arme laufen werden. Ein solches Unternehmen sollte sorgfältig vorbereitet werden. Ich möchte weder den Erfolg noch das Leben meiner Leute in die Hände des Zufalls legen. Ich bin der Meinung, daß einige meiner besten Leute die Stadt verlassen sollten, um auf ihre Art nach einem lohnenden Ziel zu suchen. Tollkühne Todeskommandos, wie Ihr gestern früh eines geleitet habt, Oberst, möchte ich nicht verantworten. Ich bin sicher, hättet Ihr Euer Ziel vernünftig ausgespäht, würden eine Menge Eurer Männer jetzt noch leben.« Mit Genugtuung beobachtete Lysandra, wie sich die Hände des jungen Ritters bei diesen Worten in die Stuhllehnen krampften.

»Was wißt Ihr schon von Heldenmut und Ritterlichkeit? Soweit ich vernommen habe, gehört es zu Eurer Art von Kriegsführung, Feinde feige von hinten zu erschießen und Gefangene langsam zu Tode zu foltern.« Es war nicht zu übersehen, daß Oberst von Blautann kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Trotzdem konnte Lysandra das nicht unerwidert lassen.

»Wenn Ihr so gut über mich informiert seid, guter Ritter, dann wißt Ihr ja sicher auch, daß ich das, woran ihr schon nach wenigen Wochen gescheitert seid, über ein Jahr geschafft habe. Mir haben die Orks in dieser Zeit nicht ein einziges Mal so sehr im Nacken gesessen wie Euch und Euren Reitern heute früh. Freilich war ich nie so ritterlich, mit unterlegenen Kräften mitten in das Lager des Schwarzen Marschalls zu galoppieren, doch mir scheint, daß mancher Ritter des Prinzen nicht recht zwischen Aberwitz und Heldentum zu unterscheiden weiß. Wollte man dem Ritterstand Böses, könnte man natürlich auch unterstellen, daß mancher feine Herr nur allzu gern das Leben seiner Leute opfert, um schnell zu Rang und Namen zu gelangen, ja vielleicht sogar der Held in einem der Lieder der fahrenden Sänger zu werden.«

»Jetzt reicht es, Lysandra!« Marcian hatte seinen bronzenen Pokal zu Boden geschleudert. »Wenn du so überlegen bist, dann solltest du auch begriffen haben, daß es Gift ist, wenn sich die Streiter einer Partei untereinander wie die Kampfhähne aufführen.«

»Laßt es gut sein, Kommandant«, warf der junge Ritter ein. »Eine Wegelagerin kann mich nicht beleidigen. Und ob ihr Schwert so scharf ist wie ihre Zunge, soll sie mir zeigen, wenn wir gemeinsam gegen die Orks reiten.«

»Dazu wird es nur kommen, wenn meine Leute die Örtlichkeiten ausspähen und mein Wort bei der Planung der Angriffe das gleiche Gewicht hat wie das dieses Grünschnabels.«

»Anders war es nie vorgesehen«, beschwichtigte Marcian die Amazone. »Entschuldigt, wenn ich diese Tafel nun aufhebe, doch ich habe heute abend noch andere Verpflichtungen und bin offen gestanden der Streitereien müde. Lysandra, ich wäre dir dankbar, wenn du schon in dieser Nacht Spione aussenden könntest, denn ich habe das Gefühl, daß uns ohnehin nicht mehr viel Zeit bleiben wird, bis die Orks vor unseren Toren stehen.«

Lysandra erhob sich als letzte und beobachtete, wie die anderen gingen. Erst dann machte sie sich auf den Weg zu ihren Quartieren, denn der Sieger verließ das Schlachtfeld stets als letzter.


Obwohl er mehr als fünfhundert Krieger befehligte, war Sharraz Garthai nervös. Der Schwarze Marschall hatte ihm vergeben, daß er mit Greifenfurt die wichtigste Stadt der Provinz Finsterkamm verloren hatte. Mehr als zwanzig Tage lag es nun schon zurück, daß er Greifenfurt verlassen hatte. Nun sollte er mit seinen Kriegern sicherstellen, daß die Übergriffe aus der Stadt aufhörten. In den letzten Tagen waren immer wieder Angriffe auf Vorposten der Orks durchgeführt worden. Flüchtlinge aus der ganzen Provinz retteten sich in den Schutz der Stadtmauern, brachten das Vieh von den Feldern und verbrannten ihre Ernte. Mit der Revolte in der Stadt hatte der Widerstand in der ganzen Provinz an Kraft gewonnen. Gab es früher nur die Freischärler in den Wäldern, so bewaffneten sich jetzt schon die Bauern und fielen über die Besatzer her. Die Gerüchte, daß bald Prinz Brin mit seinen Truppen käme, taten das ihre, um die Lage noch zu verschlechtern.

Sharraz Garthai lächelte grimmig. Vorgestern war der Anführer der Menschen bei einem Scharmützel verletzt worden. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre von den Pferden seiner eigenen Leibgarde zertrampelt worden. Jedenfalls waren die Armeen der Menschen am Vormarsch gehindert.

»Was lächelst du?« erklang es hinter Sharraz. Der Ork drehte sich um. Hinter ihm ritt Gamba, der Druide. Der Marschall hatte ihm diesen Menschen als Berater mitgegeben. Vielleicht sollte er auch über ihn wachen. Sharraz mochte ihn nicht, diesen weißhaarigen Mann mit dem wettergegerbten, harten Gesicht. Er war mit Federn und Amuletten geschmückt und trug trotz der Hitze einen Umhang aus Bärenfell. Auch seine Männer hatten Angst vor ihm, doch bei Sadrak Whasoi, dem Marschall, und auch bei Uigar Kai, dem Obersten der Schamanen, genoß dieser Mensch grenzenloses Vertrauen.

»Nun, versuchst du, deine Gedanken vor mir zu verhüllen?« Der ironische Ton des Druiden war nicht zu überhören.

»Nein!« antwortete Sharraz hastig. »Ich dachte daran, wie sehr die Menschen sich irren, wenn sie glauben, daß sie mit ihrem Aufstand Erfolg haben werden.«

»Und wenn sie sich nicht irren?«

Sharraz zügelte sein Pferd und blickte sich verwundert zu dem Druiden um. »Wie meinst du das, Gamba?«

»Nun, diese Rebellen in Greifenfurt haben eine Reihe leichter Siege errungen. Sie halten sich vielleicht schon für unbesiegbar. Vor allen Dingen glauben sie fest daran, daß bald der Prinz mit seiner Armee vor der Stadt stehen wird. Mich würde es nicht wundern, wenn sie in diesem Glauben noch weitere große Taten vollbringen würden, denn Glaube ist die Grundlage für Wunder.« Gamba blickte ihn ernst an.

»Wir sind fünfhundert. Wie sollen uns die Menschen besiegen? Sie haben weniger als fünfhundert Kämpfer, und wir haben in diesem Krieg noch nie eine Schlacht verloren, wenn wir auf gleichstarke menschliche Gegner gestoßen sind.«

»Und auf den Hochmut folgt der Fall!« entgegnete Gamba knapp. Für eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Reitern. In der Hitze wirbelte die Kolonne eine große Staubwolke auf der Kaiserstraße auf, der sie Richtung Orkenwall folgten. Nur wenige Meilen trennten sie noch von dem kleinen Ort, in dessen Nähe die Armee des Reiches vor einem Jahr von den Orks vernichtend geschlagen worden war.

»Ich habe noch nie eine Stadt gestürmt«, unterbrach Sharraz das Schweigen. »Diese Art von Schlacht ist völlig neu für mich. Hast du einen Plan, wie wir kämpfen sollen. Am liebsten wäre mir, wenn wir einfach vor den Toren von Greifenfurt lagern und warten könnten, bis der Hunger sie heraustreibt. Hast du eine bessere Strategie?« »Wenn sie glauben, daß sie uns nicht besiegen können, haben wir Greifenfurt schon halb erobert. Dazu gehört auch, daß wir Dinge tun, die sie nicht verstehen. Deshalb bin ich dafür, daß wir noch nicht bis vor die Tore der Stadt ziehen, sondern unser Heerlager in Orkenwall aufschlagen. Das werden sie nicht erwarten. Vielleicht werden sie sogar so unvorsichtig und versuchen, uns anzugreifen. In einer offenen Feldschlacht werden wir ihnen auf jeden Fall überlegen sein. Weißt du, Sharraz, bei den Menschen ist es so, daß der Krieg in den Köpfen entschieden wird. Sie sind keine geborenen Krieger wie ihr Orks. Sie haben Angst, wenn sie in die Schlacht ziehen. Angst, ihr Leben zu verlieren. Die meisten, die uns als Kämpfer gegenüberstehen werden, sind gar keine richtigen Soldaten. Es sind Bauern, die ihr Feld bestellen wollen, oder Bürger, deren Herz an irgend einem kleinen Laden in der Stadt hängt. Sie sind nicht aus Überzeugung im Krieg. Sie kämpfen, weil sie glauben, es ihrem Prinzen schuldig zu sein. Aber was denkst du, werden sie tun, wenn sie hören, daß ihr Prinz gar nicht kommen wird? Wenn sie hören, daß Brin tot ist. Vielleicht kämpfen sie auch dann noch weiter, doch in ihren Herzen haben sie die Schlacht dann schon längst verloren gegeben.«

Sharraz schaute den Druiden lange an: »Ihr seid sehr kompliziert, ihr Menschen. Aber was wäre, wenn nur du so kompliziert bist? Was ist, wenn du dich irrst?«

»Du glaubst, ich kenne meine eigenen Leute nicht?« Gamba wirkte verblüfft. Mit einer solchen Unterstellung hatte er nicht gerechnet. »Wie kommst du darauf?«

»Ich frage mich schon eine Weile, warum du, ein Mensch, auf unserer Seite stehst? Kann man jemandem vertrauen, der sein eigenes Volk verrät? Ich würde jedenfalls niemals einem Ork trauen, der seinen Stamm verrät. Ich durchschaue dich nicht, Gamba. Ich gestehe dir sogar, daß du mir unheimlich bist, weil du Mächte kontrollierst, die sich meinem Verständnis entziehen. Und den meisten meiner Männer geht es genauso.« »Warum duldest du mich dann überhaupt an deiner Seite?« fragte der Druide.

»Weil mir der Schwarze Marschall befohlen hat, dich mitzunehmen und auf deinen Rat zu hören. Vielleicht bist du so etwas wie eine Prüfung für mich. Vielleicht sollst du auch mein Henker sein, wenn ich noch einmal versage. Es wäre besser für die Moral der Truppe, wenn du mich hinrichten würdest.«

»Vielleicht hast du mit einer deiner Vermutungen recht.« Gamba grinste Sharraz unverschämt an und genoß offensichtlich seine Stellung. Eine Weile ritten sie wieder schweigend nebeneinander her. Dann fragte der Druide: »Was glaubst du eigentlich, wozu wir die Gefangenen mitnehmen?«

Der Ork zuckte mit den Schultern. »Wohl, um sie während der Namenlosen Tage Tairach zu opfern. Schließlich ist dann seine Macht am größten. Vielleicht wird es uns mit seiner Hilfe gelingen, die Stadt zu stürmen.«

»Du denkst schon wieder viel zu einfach, Sharraz.« Erneut setzte Gamba sein freches Grinsen auf.

»Aber wie weise kannst du sein, wenn du es laufend darauf anlegst, mir deine Klugheit zu demonstrieren?«

»Was für eine gute Entgegnung, Ork! Vielleicht wird es doch noch amüsant, sich mit dir zu streiten. - Nun, ich habe diese Baronin mitgenommen, um sie entkommen zu lassen.«

Sharraz klappte der Unterkiefer herunter. Das war das Verrückteste, was er je gehört hatte. Diese Frau war eine große Kriegerin. Sie hatte an der Seite des Prinzen gekämpft und etliche Orks erschlagen, bis man sie vorgestern in dem Scharmützel gefangen nahm, in dem der Prinz verletzt wurde. Sie war das ideale Opfer für den Blutgott. Ein Kämpfer, für den man einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Eine Heldin. Tairach würde seine Freude an ihr haben. Dem Druiden antwortete er: »Du bist verrückt!«

»Schlimmer, Sharraz, ich habe Phantasie! Ist dir aufgefallen, wie niedergeschlagen die Frau ist? Ich bin in ihre Gedanken eingedrungen. Das letzte, was sie in dem Gefecht vorgestern gesehen hat, war, wie der Prinz verletzt vom Pferd stürzte und von unseren Kriegern umringt wurde. Dann traf sie selber ein Schlag, der ihr das Bewußtsein raubte. Diese Frau glaubt, daß ihr Herrscher tot ist. Deshalb hat sie sich auch selbst aufgegeben. Sie kann für uns zu einer tödlicheren Waffe werden als eine Herde wildgewordener Oger. Ich werde sie ein wenig foltern, und dann muß die Baronin uns über Nacht entkommen. Ich glaube, eine Gelegenheit zur Flucht würde sie trotz allem noch ergreifen. Sie soll nach Greifenfurt reiten und dort die falsche Botschaft verbreiten, der Prinz sei gefallen. Darin wird sie besser als der beste Agent sein. Selbst wenn man ihr einen Wahrheitstrunk gibt, oder ein Zauberer in ihre Gedanken eindringt, wird es immer nur dasselbe Resultat erbringen. Jeder Spion würde dabei entlarvt. Sie nicht, denn für unsere Baronin ist diese Lüge die Wahrheit, und sie wird auch die anderen überzeugen.«

»Gamba, einen so hinterhältigen Halunken wie dich habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht getroffen. Ich glaube, Männer wie dich kann nur die menschliche Rasse hervorbringen.«

»Du schmeichelst mir! Und falls du dir Sorgen machst, daß diese Kriegerin der rächenden Hand Tairachs entgeht, kann ich dich trösten. Das wird nicht geschehen. Auch mit dem Tod, den ich ihr zugedacht habe, wird sie noch einmal Angst und Schrecken unter den Greifenfurtern verbreiten.«

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