11

Im Morgengrauen schritt Sharraz Garthai durch das verwüstete Lager der Orks. Der Überfall in der Nacht hatte sie die Arbeit von mehr als zwei Wochen gekostet. Nie in der Geschichte hatte ein Orkgeneral über so viele Steinschleudern verfügt wie er, und nun waren sie nicht mehr als ein Haufen rauchender Trümmer. Ganz zu schweigen von den Verlusten unter seinen Kriegern. Der überraschende Angriff hatte mehr als hundert Kämpfern das Leben gekostet, und fast doppelt so viele waren verletzt.

»Du hättest auf mich hören sollen«, meldete sich der Zwerg neben ihm zu Wort. Kolon Tunneltreiber war eine unangenehme Erscheinung. Keine anderthalb Schritt groß war er zunächst von den Kriegern verlacht worden. Jetzt lachten sie nicht mehr. Der Zwerg war überaus empfindlich und jähzornig. Gleich am ersten Tag, als er das Lager in Orkenwall erreichte, hatte er drei Krieger in Duellen getötet. Seitdem hielten die meisten gehörigen Abstand zu ihm.

Kolon hatte ihn vor einem Ausfall gewarnt und darauf bestanden, daß das Hauptlager oder zumindest die Geschützstellungen mit Schanzen befestigt würden, doch Sharraz hatte es abgeschlagen. Er meinte, daß seine Krieger keine Maulwürfe seien. Wieder schweifte sein Blick über die Trümmerlandschaft. Einige der Katapulte loderten noch immer. Dünne Rauchsäulen stiegen zum Himmel auf und wurden vom schwachen Wind davongetrieben.

»Gut, du hast recht gehabt. Bist du nun zufrieden? Du hast es besser gewußt, Kolon.« Sharraz machte sich nicht einmal die Mühe, zum Zwerg hinabzublicken, während er mit ihm sprach.

»General, es gibt eine Möglichkeit, die Menschen für das büßen zu lassen, was sie uns letzte Nacht angetan haben. Wir haben den Vorteil, daß sie uns nach diesem leichten Erfolg mit Sicherheit für dumm und schwach halten.«

Sharraz drehte sich um. Ihm gefiel der Tonfall nicht, in dem der Zwerg die letzten Worte gesprochen hatte. Mit blutunterlaufenen Augen blickte ihn der Belagerungsexperte über seinen wildwuchernden weißen Bart an. Seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er für Gedanken hegte. »Zunächst brauche ich mehr Sklaven. Schick Reiter aus, die jeden Mann und jede Frau im Umkreis von zwanzig Meilen einfangen! Deine Krieger haben sich bei den Schanzarbeiten nicht gerade bewährt. Sie arbeiten zu langsam, folgen meinen Befehlen nicht recht und sind aufsässig. Ich will sie nur noch als Wachen um mich haben. Für Belagerungsarbeiten sind sie einfach nicht zu gebrauchen.« Kolon griff nach einem verkohlten Ast und zerrieb ihn langsam zwischen den Fingern. »General, wenn ich genug Arbeiter bekomme, um meine Pläne auszuführen, dann verspreche ich dir, werden die Greifenfurter beim nächsten Ausfall erbarmungslos zusammengeschossen.«

»Du sollst bekommen, was du willst.« Sharraz war verärgert über den anmaßenden Tonfall des kleinen Mannes. »Aber ich rate dir, sei erfolgreich, sonst wird dein Kopf meine Zeltstange schmücken, gleichgültig, ob du hier mit persönlicher Empfehlung des Marschalls bist oder nicht.« Der Ork genoß, daß er den Zwerg ganz offensichtlich für einen Moment aus der Fassung gebracht hatte. Jedenfalls schien er langsam wieder zu begreifen, wer hier den Befehl führte.

»Ich fürchte, ich werde dich dieser Freude berauben. Statt dessen werde ich dir die Köpfe derer, die den nächsten Ausfall anführen, vor die Füße legen.« Kolon salutierte wie ein kaiserlicher Offizier und machte sich davon.

Noch so ein Verräter, dachte Sharraz. Was mochte ihn dazu bewogen haben, auf Seiten der Orks zu kämpfen? Und auch noch an diesem Ort. War Greifenfurt doch das legendäre Saljeth, wo einst eine Koalition von Elfen und Zwergen den Orks eine vernichtende Niederlage beigebracht und anschließend das Heiligtum des Tairach geschändet hatte. Für kurze Zeit hatte er heute morgen geglaubt, der Zwerg habe absichtlich schlechte Arbeit geleistet, so daß es den Menschen leichtfiel, in dieser Nacht ihren Angriff auf das Lager auszuführen. Doch es war Kolon gewesen, der ihn vor einem solchen Angriff ausdrücklich gewarnt hatte. Nun, der Zwerg hatte diesmal mit seinen Versprechungen den Mund reichlich voll genommen. Sollte er versagen, wäre es Sharraz ein Vergnügen, ihn persönlich zu richten.


Zerwas hatte wieder seine Dämonengestalt angenommen. Mit zusammengefalteten Flügeln hockte er auf dem Dach des Patrizierhauses, das Marcian den Magiern aus Bethana überlassen hatte. Eolan und seine Spießgesellen störten ihn. Der Vampir schloß nicht aus, daß diese weißgewandeten Magier mit ihrem überheblichen Getue in irgendeiner Verbindung mit der Inquisition standen. Ihre asketischen Gesichter, die merkwürdigen Zeichen, mit denen ihre Roben bestickt waren, all das gefiel ihm nicht. Wieder dachte er an die Schlacht um die Geschütze. Die Stimme, die ihm zuflüsterte: »Ich habe dich erkannt, Dämon!« Es mußte Eolan gewesen sein. Wer sonst sollte telepathische Fähigkeiten haben? Der Bordellbesitzer Lancorian war zwar auch ein Zauberer, doch traute er ihm solche Gaben nicht zu.

Der Vampir stieß sich vom Dach ab. Leichter Nieselregen machte die Schindeln rutschig und umhüllte das Gemäuer des Hauses mit einem schwachen Schimmer. Die Fenster im oberen Stockwerk waren erleuchtet. Die fünf Magier mußten Dutzende Kerzen abbrennen, so hell strahlte es durch die Fenster. Vielleicht hatten sie Angst vor der Dunkelheit? Der Vampir schmunzelte und verwarf diesen Gedanken wieder. Wo hatte man je gehört, daß ein Meister der weißen Magie wie Eolan Angst vor der Finsternis hat? Wahrscheinlicher war, daß sie irgendein Ritual vollzogen.


In engen Kreisen flog Zerwas um das Haus. Es war nicht leicht gewesen, die Namen der Adepten herauszufinden. Schon vor ein paar Tagen hatte er Uriens damit beauftragt, ihm diese Information zu verschaffen. Der verwirrte Bettler war ihm bislang jedesmal ein zuverlässiger Diener gewesen. Er bereute es nicht, ihn in der Blutnacht verschont zu haben. Der verstümmelte Mann konnte sich völlig frei in der Stadt bewegen. Niemand scherte sich um seine Fragen, denn die meisten hielten ihn für wahnsinnig. Sein Verstand hatte auch tatsächlich gelitten, doch dafür war durch das, was er ihm angetan hatte, sein prophetisches Talent in ihm geweckt worden. Wieder ging Zerwas durch den Kopf, was der Blinde zum Abschied zu ihm gesagt hatte. »Hüte dich vor dem Licht! Auch wenn du vor dem Glanz des Praios gefeit bist, wird er dir dennoch Schmerzen bereiten!«

Wieder drehte der Vampir eine Runde um das Haus und suchte nach einem Fenstersims oder einem vorstehenden Wasserspeier, an dem er sich festklammern konnte, um die Zauberer zu beobachten. Vielleicht bezog sich die Prophezeiung auf sie? Vielleicht dienten sie dem Licht. Uriens hatte mit einem der Bediensteten der Magier gesprochen. Sie waren nicht gerade beliebt bei ihrem Personal. Die Diener des Hauses behandelten sie fast wie Sklaven. So wußte der Vampir, daß die fünf Zauberer bei Nacht fast immer allein in ihrer Villa waren, wußte, wem welche Kammer gehörte, und kannte all ihre Namen.

Zerwas landete im Garten hinter dem Haus. Er hatte kein Fenstersims gefunden, das breit genug gewesen wäre, um dort Halt zu finden. Er mußte nun versuchen, in die Villa einzudringen. Obwohl der Regen mittlerweile aufgehört hatte, tropfte es noch immer von den großen Bäumen im Garten. Leise knirschte Kies unter seinen Krallen. Er stand vor dem Portal zum Garten. Wer immer dieses Haus hatte errichten lassen, verfügte über einen für Menschen ungewöhnlichen Geschmack. Das prächtige Portal war mit reichen Steinmetzarbeiten verziert. Der unbekannte Künstler hatte zwei Bäume aus dem Marmor geschlagen, deren Geäst sich als Torbogen über den Eingang wölbte. Bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, daß zwischen dem Blätterwerk der Bäume zwei nackte Frauen saßen. Nein, Frauen war die falsche Bezeichnung. Es waren Dryaden, verzauberte Geschöpfe, wie man sie in den alten Elfenwäldern finden konnte. Zerwas blieb noch eine Weile stehen und musterte den Torbogen. Merkwürdig, daß dieses Haus, das zur Straße hin so nüchtern wirkte, hier mit solcher Kunst prunkte. Verstohlen rüttelte der Vampir an der Pforte. Sie war offen. Vorsichtig schritt er in den dunklen Flur, der dahinter lag. Von oben konnte er den Singsang der Magier hören. Wußte der Namenlose, was sie dort trieben? Auf jedes Geräusch lauschend, schlich Zerwas weiter über den Flur. An der zweiten Tür machte er Halt. Hier mußte das Zimmer des Kalakaman sein, des blonden Zauberers, dem zwei Finger an der linken Hand fehlten. Behutsam drückte der Vampir die Klinke herunter und trat ein. Der Raum war klein, doch geschmackvoll möbliert. Schrank, Bett und Tisch waren mit Schnitzereien geschmückt. Ein dichter Teppich lag in der Mitte des Zimmers. Alles war ordentlich aufgeräumt. Nirgendwo lag etwas herum, das Rückschlüsse auf den Bewohner dieses Raums erlaubte.

Zerwas ging zum Schrank. Hier hingen verschiedene Roben. Daneben waren zwei gefaltete Hemden in ein Fach gelegt. Mit vorgestrecktem Kopf schnupperte er an den Hemden. Seine Sinne waren in Dämonengestalt wesentlich schärfer. Das untere Hemd sah abgetragener aus, und obwohl es gewaschen war, hatte es noch immer einen Hauch vom Körpergeruch des blonden Magiers an sich. Er holte es aus dem Schrank und riß einen kleinen Leinenstreifen vom Saum. Dann faltete er es wieder, so gut es mit seinen klauenbewehrten Händen möglich war, und legte es an seinen Platz im Schrank zurück. Vorsichtig schlich er zum Flur zurück.

In den Kammern der anderen Magier verfuhr er ähnlich. Er riß ein Stück vom ledernen Schnürriemen eines Schuhs ab, zog einige Haare aus einem Kamm und stahl ein Schnupftuch. Alles, was er mitnahm, verstaute er einzeln in kleinen Lederbeuteln, die er an die breiten Riemen des Schwertgurts gebunden hatte, der über seine Brust lief. Jetzt galt es nur noch, in die Kammer Eolans einzudringen. Doch der Raum des Erzmagiers lag im oberen Stockwerk. Zerwas stand an der breiten Treppe, die von der Mitte des Flurs nach oben führte, und lauschte. Die Magier hatten ihre Beschwörung oder ihr gemeinschaftliches Gebet beendet. Es war ruhig.

Zerwas fluchte innerlich. Er hätte zuerst nach oben gehen sollen. Jetzt blieb ihm keine Wahl. Er mußte in Eolans Kammer! Langsam schlich er die Treppe hinauf. Fadenscheinige Gobelins hingen von der Galerie, zu der die Stufen führten. Soweit Zerwas erkennen konnte, zeigten sie die Fabeltiere der Elfenwälder. Einhörner, Flußgeister und Pegasi, Wesen, denen man nachsagte, daß sie die Pforten zu verborgenen Welten kannten.

Am obersten Absatz der Treppe machte Zerwas wieder Halt und musterte die Türen, unter denen schmale Lichtschlitze ins Dunkel fielen. Behutsam schlich er über den steinernen Boden auf die Tür zu, hinter der er das Zimmer vermutete, in dem er vorhin die Magier gesehen hatte. Seine Krallen verursachten bei jedem Schritt ein leises Klicken auf den Steinen. Gebannt lauschte er vor der Tür. Es waren mehrere Männerstimmen zu hören. Beruhigt schlich der Henker weiter. Sie schienen ihr Palaver noch nicht beendet zu haben.

Am anderen Ende der Galerie lag Eolans Zimmer. Auch hier fiel Licht unter der Tür durch. Einen Augenblick stand der Vampir still, doch nichts schien sich im Inneren des Raumes zu rühren. Langsam drückte er die Klinke herunter, schob die Tür vorsichtig einen Spaltbreit auf und spähte hinein. Der Raum war verlassen und von Dutzenden Kerzen erleuchtet. Schnell schlüpfte er durch die Tür und schloß sie hinter sich wieder. Ihm gegenüber wies ein großes Fenster auf den Platz der Sonne. Eilig huschte sein Blick über die Einrichtung. Eolan schien weniger penibel als seine Adepten zu sein. Achtlos über einen Stuhl geworfen lag noch sein Prachtgewand herum, das er jeden Abend zu den Offiziersversammlungen anlegte. Zerwas ließ seine Pranke über die prächtige, mit Perlen bestickte und von Goldfäden durchwirkte Robe gleiten. Ein kleines Fädchen blieb an einer seiner Krallen hängen. Das war gut, dachte Zerwas. Dieser Goldfaden sollte den Erzmagier ins Verderben stürzen. Auf der Galerie öffnete sich eine Tür. Stimmen und Schritte waren zu hören.

Für einen Augenblick überlegte der Vampir, ob er es auf einen Kampf ankommen lassen sollte, doch dann huschte er zum Fenster. Buntes Bleiglas zeigte einen lichtdurchfluteten Wald. Matt spiegelte sich das Kerzenlicht auf den Scheiben. Hastig entriegelte er das Fenster und stand mit einem Satz auf dem Sims. Hinter sich hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Zerwas breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. Ein schriller Schrei erklang aus dem Zimmer. Die hysterische Stimme eines alten Mannes. »Es ist wieder da! Ich habe wieder das Flügelschlagen gehört! Der Totenvogel ist gekommen!«


Erschöpft landete Zerwas auf der obersten Stufe seines Turmes. Er hatte seine ›Geschenke‹ weitergegeben. Das Problem der Magier würde bald gelöst sein. Er machte den Schritt in den Abgrund und fand sich im nächsten Augenblick in seinem geheimen Versteck tief unter der Stadt wieder. Müde schnallte er sein Schwert vom Rücken und verwandelte sich in seine menschliche Gestalt zurück. Lange war es her, daß er diese verborgene Kammer unter der Stadt bei seinen magischen Experimenten gefunden hatte. Die Greifenfurter hatten keine Ahnung, worauf sie hier hausten.

Zerwas schmunzelte. Es paßte zu den Hinterwäldlern, die wahre Geschichte ihrer Stadt nicht zu kennen, nicht zu wissen, auf welch schicksalsträchtigem Boden sich ihre Vorfahren niedergelassen hatten. Diese Erde hier barg weit gefährlichere Dinge als seine Gebeine, und das war auch der Grund, weshalb die Orks vor den Toren der Stadt standen. Die Gewölbe, die Zerwas bewohnte, waren einst Teil einer unterirdischen Kultstätte gewesen. Die Elfen und Zwerge hatten diesen Ort zerstört. Doch nicht vollständig. Es mochten auch noch andere Höhlen und Gänge erhalten geblieben sein, und das war es, was die Schwarzpelze suchten, als sie den Praios-Tempel eingerissen hatten. Unter dem Hügel, auf dem der Platz der Sonne lag, mußte sich einst das Kultzentrum befunden haben. Zerwas hatte hier selbst einst nach Höhlen geforscht, hatte versucht, seinen Geist tief unter die Erde zu schicken. Doch es schien alles vernichtet, und noch immer herrschte eine mächtige, ihm übel gesonnene Kraft tief unter dem Platz. Etwas, das sich an seinen Leiden ergötzt hatte, als er hingerichtet wurde.

Der Vampir erinnerte sich, wie damals ein fremder Geist in ihn eingedrungen war, lauernd in ihm saß und sein Sterben verfolgte. Zerwas schüttelte den unangenehmen Gedanken ab. »Sartassa!« rief er in das Halbdunkel des Gewölbes, doch nichts regte sich. Wieder rief er den Namen der Elfe. Vergebens. Sie war jagen, obwohl sie versprochen hatte, niemals ohne ihn zu gehen. Der Vampir fluchte vor sich hin. Sollte sie sehen, was sie davon hatte. Er würde ihr nicht folgen. Wütend warf er sich auf das Bett und starrte die Decke des Gewölbes an. Der Ruß hatte die Bronzeampeln, die an Ketten von der Decke herabhingen, im Lauf der Jahrhunderte schwarz gefärbt. Einige verborgene Luftschächte dienten als Rauchabzug, doch fiel kein Licht durch sie in die verborgene Kammer. Unruhig wälzte er sich auf dem Bett und dachte an Sartassa.


Marcian fluchte vor sich hin. Er haßte diesen Morgen. Vor einer Stunde hatten ihn Wachen aus dem Bett geholt. Es hatte wieder einen Mord gegeben. Diesmal war es ein regelrechtes Massaker. Ein junger Mann und seine drei Kinder waren umgebracht worden. Der Inquisitor stand im Regen vor der ärmlichen Hütte, in der das Verbrechen geschehen war. Er brauchte frische Luft.

Lysandra trat neben ihn. »Der Bestie, die das getan hat, möchte ich am liebsten das Herz herausreißen.«

Marcian blieb stumm. Er hatte eine Wache vor das Haus postiert. Die neugierigen Nachbarn sollten nicht sehen, was dort passiert war. Obwohl er selbst schon schrecklicher Folter beigewohnt hatte, war ihm übel geworden. Drugon, der Vater, lag nackt auf dem Tisch. Seinen abgetrennten Kopf hatte man auf dem Strohlager gefunden, das der Familie als Bett diente. Der Mörder hatte ihm die Brust gespalten und das Herz herausgeholt.

Hauce, den ältesten Sohn, hatte man mit dem Kopf nach unten an einem Seil am Deckenbalken aufgeknüpft. Ihm war die Kehle durchschnitten worden. Der Knabe, er mochte vielleicht fünf sein, erinnerte an ein geschächtetes Lamm. Die beiden kleinsten Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatte der Mörder mit dem Kopf gegen die Bretterwand geschlagen. Ihre Schädel waren geplatzt wie überreife Melonen.

Während die anderen um ihn herum rätselten, wer so bestialische Morde begangen haben konnte, sah der Inquisitor in seinem Geiste den Mörder vor sich. Den anderen war ein wesentliches Detail entgangen. Trotz des bestialischen Gemetzels war nur wenig Blut auf dem Boden der Hütte und in den Strohlagern der Kinder gewesen. Unter dem geschächteten Knaben hätte eine riesige Lache sein müssen. Statt dessen klebten nur einige Tropfen Blut auf dem Boden. Das war das Werk von Zerwas! Doch es wunderte ihn, daß keiner der Nachbarn die Schreie der Familie gehört haben wollte. Es war doch unmöglich, daß ein solches Massaker lautlos geschehen konnte.

Der lockige Odalbert, einer seiner Agenten, schreckte ihn aus den Gedanken auf. Er hatte einen hageren Mann mit eisgrauem Stoppelbart im Gefolge. »Der Kerl hat letzte Nacht gesehen, wie Drugon Besuch bekommen hat. Eine Frau war bei ihm.«

»Erzähl es mir in deinen Worten. Doch sag mir zuerst einmal, wer du bist!« Marcian musterte die zerlumpte Gestalt. Er gehörte wohl auch in dieses heruntergekommene Viertel. Direkt am Fluß lagen die Hütten der Hafen- und Feldarbeiter. Hier lebten Männer und Frauen, die nichts als ihre Muskelkraft zu verkaufen hatten.

»Ich heiße Karman, Herr. Ich wohne hier schon, seit ich Kind war.« Karman wirkte verlegen und wich den Blicken Marcians aus. »Gestern abend, nach Mitternacht, habe ich gesehen, wie eine Frau die Straße herunterkam. Donnerwetter, sagte ich zu mir, was für ein hübsches Weib. Muß wohl eine Rahjabraut gewesen sein. So eine, die tut, als wär’s für den Tempel und die Göttin, tut's aber in Wirklichkeit nur für die Geldkatze am Gürtel. Hat einen langen roten Kapuzenmantel getragen und war angemalt wie eine Novadihure.

Hat auch so einen bimmelnden Schmuck um den Hals gehabt.« Karman machte eine Pause und spuckte einen gelb-braunen Priem in den Schlamm der Gasse.

»Und was war mit der Frau?« Marcian wurde ungeduldig; Ihm war der Mann zuwider.

»Die ist bei Drugon reingegangen. Er stand an seiner Tür und glotzte in den Himmel. Da ist auch das Weib stehengeblieben. Haben ein paar Worte geredet, und dann ist sie mit ihm rein. Und ich dachte mir noch, ist seine Alte noch nicht kalt, da treibt er es schon vor den Kindern mit einer Nutte.«

»Seine Frau Yasinthe ist vorgestern nacht beim Überfall auf das Orklager umgekommen. Sie gehörte zu meinen Löwinnen.« Lysandra hatte bisher schweigend zugehört, doch jetzt war sie außer sich vor Zorn. »Ich hätte das nie von Drugon gedacht. Ich habe ihn zwar immer für einen Weichling gehalten, doch daß er so etwas macht, hätte ich nicht geglaubt.«

»Und hast du sonst noch was gesehen? Ist nach der Frau noch jemand bei Drugon gewesen?« Marcian war verwirrt. Das paßte alles nicht mehr zu dem Bild, das er sich von den Morden gemacht hatte.

»Ich glaube nicht.« Karman wirkte verschüchtert. »Ich dachte noch, wo nimmt der nur das Geld her für so eine Braut? Als die dann rauskam, hatte sie bloß noch ein helles Kleid an. War schlank wie eine Elfe und hat langes schwarzes Haar gehabt.«

»Und nach ihr ist niemand mehr gekommen?« fragte Marcian ungeduldig.

»Das weiß ich nicht. Ich bin dann nach Hause gegangen und habe mich aufs Ohr gehauen.« Wieder spuckte Karman auf die Straße. Ein dünner Faden geblichen Speichels lief ihm aus dem Mund und tropfte vom Kinn auf seine zerschlissene Jacke.

»Gut, Mann. Geh jetzt nach Hause. Vielleicht werde ich dich noch einmal besuchen.« Marcian schritt noch einmal zu der Hütte hinüber. Die Einrichtung war spärlich. Ein Lager aus Stroh war in einer Ecke hergerichtet. Einige zerknüllte Decken lagen dort. Es gab einen Tisch und zwei Stühle, einen gemauerten Kamin mit einem Topf und einigen Holzschüsseln. Das war schon alles. Neben dem Kamin lagen die Kleider des toten Drugon.

Marcian schritt hinüber. Billige Stiefel, ein schlichtes Hemd und zerrissene Hosen. Und zuunterst lag ein roter Kapuzenmantel. »Der Tod trägt rot«, ging es dem Inquisitor durch den Kopf. Die Prophezeiung des verrückten Blinden. Kannte er die Mörderin? Gab es noch mehr Vampire außer Zerwas?

»Odalbert!« Der junge Magier war nicht mit in die Hütte gekommen. Er hatte sich übergeben müssen, als er die Toten zum ersten Mal sah, und mied es seitdem, das Haus noch einmal zu betreten. Marcian trat heraus. »Such mir alle Frauen in der Stadt, auf die die Beschreibung von dem alten Kerl paßt. Nimm dir noch ein paar Leute, wenn du es nicht alleine schaffst. Bring die Verdächtigen zu Karman und schau, ob er vielleicht eine wiedererkennt. Und du, Lysandra, kümmere dich darum, daß die Toten unter die Erde kommen. Schließlich hast du die Familie gekannt.« Der junge Magier machte sich auf den Weg. Doch die Amazone knurrte wütend vor sich hin. »Meinetwegen können das Schwein hier die streunenden Hunde fressen. Leid tun mir bloß die Kinder.«

»Trotzdem wirst du dafür sorgen, daß alle ein Begräbnis bekommen. Ich glaube nicht, daß Drugon ein schlechter Mann war.« Marcian reichte, was er gesehen hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch die Schaulustigen, die sich mittlerweile auf der Gasse versammelt hatten. Jeder von ihnen könnte der nächste sein. Der Inquisitor wußte nicht viel über Vampirismus, aber das wenige reichte schon aus, ihm gewaltige Sorgen zu bereiten. Vor seinem geistigen Auge sah er die Stadt schon bevölkert von blutgierigen Ungeheuern. Zumindest würden die Orks dann eine böse Überraschung erleben, wenn sie die Mauern stürmten. Marcian wurde immer unruhiger. Gemeinsam mit den anderen Offizieren stand er am Morgen des zweiten Tages des Efferd, des Monats, der dem Gott der Meere geweiht war, auf dem Bergfried der Festung und beobachtete das Lager der Orks. Seit dem nächtlichen Überfall auf ihr Lager hatten sie keinen Angriff auf die Stadt mehr unternommen. Das Geschützfeuer war vollständig eingestellt worden. Statt dessen waren rege Bautätigkeiten zu beobachten. Sie schienen noch mehr Sklaven einzusetzen. Bereits am Vortag konnte man im Hinterland einige Rauchsäulen sehen. Vermutlich abgelegene Gehöfte, die von den Schwarzpelzen gebrandschatzt wurden. Heute morgen hatte er auch beobachtet, wie einige Reiter neue Sklaven aus dem Süden heranbrachten. Die Schanzen vor den Toren der Stadt waren schon jetzt zu regelrechten kleinen Festungen ausgebaut. Sie waren auf allen Seiten von Erdwällen geschützt, vor denen die Sklaven tiefe Gräben ausgehoben hatten. Die Flanken der Erdwälle waren mit dicken angespitzten Ästen gespickt. Ein Reiterangriff auf diese Stellungen war nun unmöglich. Im Gelände rund um die Schanzen waren große hölzerne Schutzwände aufgestellt. Auch dort gingen irgendwelche Arbeiten vor sich. Regelmäßig fuhren Karren vor und wurden voll Erde geschaufelt. Vermutlich waren die Schwarzpelze dabei, dort Fallgruben auszuheben.

»Wenn die so weiterwühlen, haben sie bis Monatsende die Stadt mit einem geschlossenen Gürtel von Verteidigungsanlagen umgeben. Dann kommt, außer vielleicht über den Fluß, niemand mehr hier herein oder hinaus.« Oberst von Blautann stützte sich auf die Zinnen und musterte die Stellungen der Orks.

»Sehr scharfsinnig«, kommentierte Lysandra seine Beobachtungen. »Was sie wohl hinter den Schutzwänden treiben?« warf Marcian fragend ein, um einem Streit zwischen den beiden vorzubeugen.

»Vermutlich werden dort Gruben mit angespitzten Pfählen ausgehoben. Reiterfallen. Das Ganze mit System, und es ist beunruhigend anders als alles, was ich bisher über Belagerungen von Orks gehört habe. Diese Arbeiten sehen so aus, als würden sie direkt nach dem Reißbrett eines kaiserlichen Strategen angefertigt. Genauso würde ich auch vorgehen, wenn ich diese Stadt stürmen sollte und meine Truppen zunächst einmal vor überraschenden Ausfällen zu schützen hätte.« Himgi, der Zwergenhauptmann, der mit den Versorgungsschiffen in die Stadt gekommen war, mußte auf einem Stuhl stehen, um über die Zinnen des Bergfrieds zu schauen. Vor sich hatte er eine Karte auf die Mauer gelegt und verzeichnete dort alle Arbeiten, die er im Lager der Orks beobachten konnte. Besonders sorgfältig malte er dabei auf, wo überall die Schutzwände gestanden hatten. So würden - sie einen Plan der Fallen haben. »Die befestigten Lager vor den Toren fassen jeweils rund zweihundert Krieger. Ich fürchte, damit sind sie zu groß, als daß wir sie noch angreifen könnten. Wie viele Reiter haben wir noch, von Blautann?« Der Obrist runzelte die Stirn und überlegte einen Augenblick. »Wenn wir jedes Pferd der Stadt mitrechnen, können wir rund zweihundertfünfzig Krieger ausrüsten. Aber in meinen Augen ist es ohnehin völlig sinnlos, diese Befestigungen mit Reitern anzugreifen. Wir können unmöglich über die Gräben hinweg die Erdwälle stürmen. Das ist die Aufgabe von Infanteristen.«

»Euer Fazit ist also, daß es uns langsam unmöglich wird, noch irgendwelche Initiative zu ergreifen.« Marcian war während des ganzen Gesprächs unruhig auf- und abgegangen. Jetzt blieb er stehen und musterte den Zwerg.

»So ist das nun mal bei einer Belagerung. Wir sitzen hier wie die Mäuse in der Falle und müssen abwarten, was die anderen tun.« Der Zwerg hielt dem Blick des Inquisitors stand und strich sich über den Bart. »Das einzig Erfreuliche ist, daß die Orks ihre Stellungen auf der anderen Flußseite fast ganz geräumt haben. Sie scheinen auch zu wenig Leute zu haben, um an allen strategisch wichtigen Stellen präsent zu sein.« »Was wird nun weiter geschehen?« fragte Marcian gereizt.

»Das kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen.« Himgi hüpfte von seinem Hocker und trat auf die Falltür im Boden der Plattform. »Wäre ich der Offizier, der dort drüben zu befehlen hätte, würde ich die Stellungen weiter so ausbauen, daß ein Angriff auf sie reiner Selbstmord wäre. Danach würde ich neue Geschütze bauen lassen und die Stadt in Trümmer schießen.«

»Na, das sind ja rosige Aussichten.« Lysandra hieb mit der Faust auf die Zinnen. »Ich wußte doch, daß ich nicht hätte hierbleiben sollen. Kann man irgend etwas dagegen tun?«

»Nichts«, entgegnete der Himgi, öffnete die Falltür im Boden und schritt die Treppe hinab.


Zwei Tage später hatten die Orks ihre Arbeiten vor den Toren beendet. Nun hatten sie alle Sklaven im Hauptlager zusammengezogen und damit begonnen, drei große Rampen aus Erde aufzuschütten. Daß er einen Großteil der Arbeiten der Belagerer nicht sehen und einschätzen konnte, machte Marcian nervös. Wilde Gerüchte kursierten in der Stadt. Das Verrückteste, was er bislang gehört hatte, war, daß die Schwarzpelze hinter den hölzernen Schutzwänden Käfige aufgestellt hätten, in denen sich blutgierige Säbelzahntiger befanden.

Wieder stand Marcian vor einer Wand. Sieben Schritt durchmaß sein Turmzimmer, und er war wohl schon hundertmal auf- und abgegangen. Er wußte sehr wohl, daß seine Offiziere bereits hinter seinem Rücken Späße über diese Marotte machten, doch er konnte einfach besser denken, wenn er dabei umherlief. Er wartete auf Eolan. Schon vor einer halben Stunde hatte er einen Boten zu dem Magier geschickt. Er wollte wissen, ob die Zauberer irgendeine Möglichkeit hatten, auszuspähen, was hinter den Erdaufschüttungen im Hauptlager vor sich ging oder was hinter den Holzwänden vor den Toren der Stadt versteckt war.

Wieder stand der Inquisitor vor einer Wand und drehte um. Da öffnete sich die Tür. Eolan trat herein. Ohne zu klopfen und ohne einen Gruß kam er mitten ins Zimmer. Der Magier stützte sich schwer auf seinen Stock. »Du hast mich rufen lassen, Kommandant?« Seine Stimme klang verbittert.

»Setz dich, Eolan!« Marcian überging das provokative Auftreten des alten Mannes. Mit einem Seufzer ließ der Magier sich auf einem Stuhl nieder. »Ich muß von dir wissen, ob es einen Weg gibt, das Lager der Orks auszuspähen.«

Der Magier schwieg eine Weile und wiegte den Kopf hin und her. Dann begann er langsam und bedächtig zu sprechen. »Es gibt zwei Wege, die Orks auszuspionieren, doch keiner ist leicht. Du verlangst wieder nach Dingen, die im Grunde meine Fähigkeiten übersteigen.«

Marcian starrte dem alten Mann in sein eingefallenes Gesicht. Eolan hatte sich den Schädel völlig kahl rasieren lassen, und er wußte von den ändern Magiern, daß ihr Meister fast den ganzen Tag in Meditation verbrachte. Er war besessen von der Furcht, bald zu sterben, und versuchte, seinen Frieden mit dem Universum zu machen.

»Du sprichst in Rätseln für mich. Von welchen Wegen redest du, und warum willst du sie nicht gehen?«

»Ich könnte einen Dämon beschwören, um unsere Feinde auszuspähen, doch behagt mir der Gedanke nicht. Ich möchte nicht mehr in Sphären vordringen, die uns Menschen eigentlich verwehrt sind. Aus einer Dämonenbeschwörung, die fehlschlägt, kann viel Leid entstehen. Dieses Risiko möchte ich nicht mehr eingehen.«

»Mit anderen Worten, du hast Angst!« schleuderte ihm der Inquisitor entgegen.

»Nenne es ruhig Angst, wenn du es so siehst. Ich denke allerdings, daß es mehr mit Weisheit zu tun hat, wenn man sich nicht mit Kräften mißt, von denen man nicht weiß, ob man sie beherrschen kann. Ich habe lange zu dieser Einsicht gebraucht und dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Jedenfalls werde ich nicht dir zum Gefallen noch einmal einen Fehler machen.«

»Und der andere Weg? Du hast von zwei Möglichkeiten gesprochen.« »Ich weiß, daß einer meiner Adepten sich mit einem Zauber aus dem Volk der Waldelfen beschäftigt hat, der es erlaubt, die Gestalt eines Tieres anzunehmen. Doch weiß ich nicht, wie vollkommen er diesen Zauber beherrscht und was für ein Tier er gewählt hat. Nutzen würde uns ja wohl allein ein ... Vogel.« Eolan hatte eine ungewöhnlich lange Pause gemacht, bevor er das letzte Wort über die Lippen brachte. »Gut!« Marcian begann wieder auf- und abzugehen. »Dann finde heraus, was dein Schüler kann, und setz mich darüber in Kenntnis.« Stöhnend erhob sich der Magier aus dem Stuhl. »Es wird aber in jedem Fall noch einige Tage dauern, denn bevor ich gestatte, daß sich einer meiner Adepten einem solchen Risiko aussetzt, will ich erst persönlich sehen, wie gut er diesen Zauber beherrscht.«

Eolan verließ das Turmzimmer. Auch diesmal sagte er kein Wort zuviel. Kein Abschiedsgruß kam über seine Lippen, er schloß nicht einmal die Tür. Marcian ärgerte sich über den alten Mann. Mit der Arroganz, mit der er in den ersten Tagen nach seiner Ankunft aufgetreten war, hatte er besser umgehen können. Daß er ihm nicht wirklich helfen wollte, war unübersehbar. Er würde nun seine Agenten um sich versammeln. Immerhin verfügte er noch über andere Zauberer, die ihm bislang treu gedient hatten. Vielleicht besaßen die drei Magier und die Auelfe weniger Skrupel, was die Beschwörung eines Dämonen anging, oder sie verstanden es, sich in einen Vogel zu verwandeln. Zu guter Letzt blieb auch noch sein Freund Lancorian. Wieder stand Marcian vor der Wand des Turmzimmers. Er wendete, um seinen endlosen Marsch weiter fortzusetzen. Drei Tage hatte es gedauert, bis Marcian Nachricht von Eolan erhielt. Alle anderen Versuche, ohne die Magier aus Bethana auszukommen, waren fehlgeschlagen. Lancorian und die drei anderen Magier beherrschten den Tierzauber nicht. Auch die Elfe Nyrilla konnte dem Inquisitor nicht weiterhelfen. Sie beherrschte zwar den Verwandlungszauber, doch hatte sie die Gestalt einer Wildkatze gewählt und kam somit für einen Spähtrupp gegen die Orks nicht in Frage.

Marcian war ins Haus der Magier am Platz der Sonne gebeten worden. Wie schon bei ihrem ersten Treffen sollte die Verwandlung in dem getäfelten Eßzimmer im ersten Stock stattfinden. Doch kaum war er angekommen, schickte man ihn schon wieder hinaus. Kalakaman, der junge blonde Zauberer mochte es nicht, wenn ihm der Stadtkommandant bei der Verwandlung zusah. Also hatte Marcian das Zimmer verlassen und stand nun wartend auf der Galerie. Er hatte den Eindruck, daß die Zauberer es genossen, ihre Macht ihm gegenüber auszuspielen. Doch blieb ihm keine andere Wahl, als sich ihren Launen zu fügen. Hinter der Tür hörte er, wie laut eine Zauberformel gerufen wurde. Nur ein Wort war deutlich zu verstehen: »Adler.«

Es wäre nicht schlecht, wenn es Kalakaman gelingen sollte, sich in einen Adler zu verwandeln. Als König der Lüfte brauchte er keinen Gegner zu fürchten, und mit scharfem Blick würde er den Schleier über den Geheimnissen der Orks lüften.

Seit vorgestern war beinahe ununterbrochenes Hämmern aus ihrem Haupt-lager vor der Ostmauer zu hören. Die Arbeiten an den drei hohen Erdhügeln waren abgeschlossen. Sklaven hatten Erde auf mehr als fünf Schritt Höhe aufgeschüttet und dann noch eine hölzerne Palisade darauf gesetzt. Das einzige, was man von der Stadt aus jetzt noch beobachten konnte, war, wie mehrmals am Tag auf großen Ochsenkarren Bauholz hinter die Hügel geschafft wurde.

Die Wirkung dieser Heimlichtuerei war enorm. Man redete von gewaltigen Katapulten, die dort gebaut würden, oder von Tunneln, die von hinter den Hügeln bis tief unter die Stadtmauern getrieben würden. Selbst seine Offiziere hatten sich schon zu den verwegensten Spekulationen hinreißen lassen. Lancorian war es gewesen, der erst gestern abend die These aufstellte, bei den drei nebeneinanderliegenden Hügeln handle es sich um eine Kultanlage oder um Gräber für getötete Anführer der Orks. Jedenfalls mußte Marcian dem Geheimnis auf den Grund gehen, oder um ihn herum würden noch alle verrückt werden. Ein Vogelschrei schreckte den Inquisitor aus seinen Gedanken. Er drang aus dem verschlossenen Eßzimmer. Dann hörte er das Geräusch wie Flügelschlagen. Die Tür öffnete sich, und einer der Adepten bat ihn wieder hereinzukommen.

Als Marcian den Raum betrat, hockte der prächtige Vogel, in den sich Kalakaman verwandelt hatte, bereits auf dem Sims des geöffneten Fensters. Sein Gefieder glänzte silbrig und blau. Er war wenig größer als der Unterarm eines Mannes. Blaue Augen musterten ihn kalt, und krächzend schrie ihm der Falke etwas ins Gesicht. Dann stieß er sich ab und schraubte sich auf gewaltigen Schwingen schnell in den Himmel. Alle eilten zum Fenster, um seinen Flug zu verfolgen. Nachdem er genügend Höhe gewonnen hatte, drehte der Vogel nach Süden, dort wo die Orks ihre Verteidigungsanlagen vor dem Stadttor ausgebaut hatten. Dumpfer Hörnerklang war jenseits der Mauern zu hören. Die Schwarzpelze schienen den majestätischen Falken am Himmel bemerkt zu haben. Doch was konnten sie schon tun. Er kreiste weit außerhalb der Reichweite jedes Bogenschützen. Noch immer drehte Kalakaman seine Kreise über dem Südtor.

»Laßt uns jetzt in den Garten gehen! Sobald er nach Osten fliegt, können wir ihn vom Fenster aus nicht mehr beobachten«, erklärte Eolan. Gestützt auf einen seiner Schüler, war er bereits auf dem Weg zur Galerie. Marcian folgte ihm.

Als die Gruppe den Garten erreichte, kreiste der Falke bereits über dem Hauptlager der Orks. Aus der großen Höhe mußte er ohne weiteres erkennen können, was sich hinter den Hügeln verbarg. Da entfuhr einem der Adepten ein Fluch. Mit ausgestrecktem Arm wies er in den Himmel. Links von Kalakaman, noch einige hundert Schritt entfernt, war ein schwarzer Punkt zu erkennen. Ein mächtiger Vogel stieß auf den verwandelten Magier zu. Dieser erkannte die Gefahr und versuchte, nach Westen zur Stadt hin zu entkommen. Eolan hatte dem jungen Zauberer eingeschärft, sich auf keinen Fall irgendeinem Risiko auszusetzen. Der schwarze Vogel holte schnell auf. Währenddessen gelang es dem Falken, in weiten Kreisen an Höhe zu gewinnen.

Der schwarze Vogel erschien riesig. Noch war er zu weit entfernt, als daß man seine Größe hätte schätzen können, doch war er deutlich größer als der Falke. Ganz so, als ahnte er, daß der andere ihn nicht angreifen würde, hatte er den kräfteraubenden Steigflug abgebrochen und befand sich nun unterhalb Kalakamans.

»Das muß ein anderer Magier sein.« Eolans Stimme klang heiser. »Er verhält sich sehr klug. Er will auf jeden Fall verhindern, daß Kalakaman hier in der Stadt landet. Sobald er tiefer geht, wird er ihn angreifen.« »Und warum wehrt dein Schüler sich nicht?« Marcian hatte von Anfang an nicht verstanden, warum der alte Magier seinem Adepten verboten hatte, sich auf einen Luftkampf einzulassen.

»Er wäre dumm, sich zum Kampf zu stellen. Kalakaman hat zwar jetzt den Körper eines Falken, und er kann auch fliegen, doch ist es töricht zu glauben, er wäre ebenso geschickt wie ein Blaufalke. Er hat erst wenige Male diese Gestalt angenommen. Ihm fehlt die Erfahrung im Luftkampf. Ist sein Gegner mit der Vogelgestalt, die er gewählt hat, vertrauter, wird es ihm leichtfallen, meinen Schüler zu besiegen.« Eolan hatte vor Wut die Fäuste geballt und starrte in den Himmel. Mittlerweile waren die beiden Vögel über der Stadt. Nun konnte man den Schwarzen besser erkennen. Seine Spannweite mußte mehr als drei Schritt betragen. Kopf, Flügelspitzen und Brust des Vogels waren schneeweiß, der Rest des Körpers von tiefem Schwarz. Wer immer sich hinter dieser Gestalt verbarg, er hatte klug gewählt. Der schwarze Vogel war ein Königsadler, der seltenste unter den Adlern Aventuriens. Legenden rankten sich um diesen mächtigen Vogel, und es gab Königreiche, in denen es unter Todesstrafe verboten war, Jagd auf ihn zu machen. Sein Erscheinen würde den meisten Bürgern als ein Omen gelten.

Noch immer versuchte Kalakaman, weiter an Höhe zu gewinnen. »Das ist keine Lösung, Junge«, murmelte Eolan vor sich hin.

»Warum?« Marcian verstand den Einwand des alten Mannes nicht. »Weil er nicht ewig am Himmel bleiben kann. Kalakaman hatte mit einem kurzen Erkundungsflug gerechnet. Eigentlich sollte er jetzt schon wieder im Garten sitzen.«

»Wo ist das Problem?« Marcian wandte den Blick nicht vom Himmel. Der Königsadler hatte begonnen, langsam höher zu steigen. Entweder würde er den Adepten so bald erreichen, oder der junge Magier mußte immer weiter in den Himmel fliehen. Doch statt aufzusteigen, schwankte der Falke unsicher in der Luft. Es sah ganz so aus, als hätte er mit schweren Winden zu kämpfen.

Auch Eolan verfolgte den verzweifelten Wettkampf und ließ sich Zeit mit der Antwort. Immer wieder murmelte er: »Komm zurück, du mußt es wagen!«

»Warum fliegt er nicht einfach davon?« Marcian hatte den Eindruck, als würde der Falke immer mehr zum Spielball der Winde. Er kam kaum noch von der Stelle, und der Königsadler würde ihn bald eingeholt haben. »Warum fliegt er nicht einfach in einen Wald und versteckt sich dort?«

»Weil er das nicht kann!« Eolans Stimme war verzweifelt. »Er wird vom Himmel stürzen. Er muß sich jetzt entscheiden. Du scheinst das Wesen der Magie zu vergessen. Heute kann fast kein Zauber mehr gewirkt werden, der von ewiger Dauer ist. Kalakaman hat nur einen Teil seiner Kräfte aufgewandt, um sich in den Falken zu verwandeln. Während er den Zauber sprach, mußte er sich entscheiden, wie lange die Verwandlung andauern sollte. Wir hatten abgesprochen, daß er nur wenig Kraft aufwenden sollte, weil er nur einen kurzen Flug vor sich hatte. Mit diesem Duell war nicht zu rechnen, und deshalb wird er sich bald zurückverwandeln. Geschieht das in der Luft, ist es sein sicherer Tod, sollte er aber ...« Eolan brach mitten im Satz ab.

Der Falke hatte sich entschieden. Er legte die Flügel an und schoß in halsbrecherischem Sturzflug auf den Boden zu. Nur um Augenblicke verzögert folgte ihm der Adler, an dem er pfeilschnell vorbeigestoßen war. Bald erwies sich der Königsadler als schneller. Schon drohte er den Falken einzuholen, als der Vogel geschickt zur Seite wegdrehte und in einem langgezogenen Bogen wieder an Höhe gewann.

Mit breit gespreiztem Gefieder bremste der Adler seinen Flug und versuchte, ebenfalls wieder an Höhe zu gewinnen. Doch jetzt stieß der Falke auf ihn herab.

Für jedes Ausweichen war es zu spät, und die beiden Vögel wurden zu einem stürzenden Knäuel aus Federn, als der Falke dem Königsadler seine Fänge in den Rücken trieb. Bis in den Garten konnte man die schrillen Schreie der kämpfenden Raubvögel hören. Der Falke hatte nur den Vorteil des überraschenden Angriffs gehabt. Jetzt löste sich der Adler. Kalakaman geriet in seiner Vogelgestalt ins Trudeln. Einer seiner Flügel schien verletzt zu sein.

Mit kräftigen Schlägen flog der Adler einen kleinen Bogen und stieß dem stürzenden Falken hinterher. Gnadenlos stieß sein Schnabel vor. Federn stoben in die Luft. Gellend war der Schrei des Falken zu hören. Wieder löste sich der Adler, während der Falke offensichtlich am Ende seiner Kräfte auf den Boden zustürzte. Triumphierend schrie der mächtige schwarze Vogel seinen Sieg hinaus, während der Blaufalke in wenigen Augenblicken tot sein würde.

»Nein!« schrie Eolan. »Nein!«

Und dann geschah das Wunder. Knapp über den Dächern der Stadt breitete der Falke wieder die Flügel aus, bremste den Fall und segelte auf den Garten des Magierhauses zu. Der Königsadler stieß hinterher, doch es war zu spät. Schon verschwand der Falke zwischen den Bäumen. Während seine Adepten weiter den Adler im Auge behielten, stürmte Eolan auf den Falken zu, der wie tot unter einem Baum lag. Blut sickerte durch sein blaues Gefieder, und er atmete nur noch schwach. Dann durchlief ein Zittern den Körper des Vogels, seine Krallen begannen sich zu verformen, und der kleine Körper begann unkoordiniert zu zucken. Die Krallen verschwanden in den langen dünnen Zehen, die langsam dicker wurden und sich zu einem zarten Rosa verfärbten. Gleichzeitig bildeten sich am ganzen Körper des Vogels die Federn zurück, verschwanden in blasser Haut, während alle Gliedmaßen auf abscheuliche Art anzuschwellen begannen.

Marcian wandte den Blick ab. Allein das letzte, was er gesehen hatte, würde ihn noch lange in Alpträumen verfolgen. Ein schwellender Kopf, halb Mensch halb Vogel, der ständig widerliche Ausbuchtungen trieb und kurz vor dem Zerplatzen schien. Erst als er ein eindeutig menschliches Stöhnen hörte, riskierte es Marcian, sich wieder umzudrehen. Eolan kniete neben dem blonden Zauberer und versuchte, ihn aufzurichten. Tiefe blutende Schrammen zogen sich über Kalakamans Rücken. Auch an Brust und Schulter war er verletzt.

»Was hast du gesehen?« Marcian mußte es wissen. Vielleicht würde der Magier seinen Verletzungen erliegen. Würde er jetzt nicht sprechen, mochte alles umsonst gewesen sein.

»Laß meinen Schüler in Ruhe!« herrschte ihn Eolan an.

»Aber ich muß es wissen ... Jetzt!«

»Da war nichts.« Kalakamans Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Marcian beugte sich zu ihm hinab. »Was?« Er konnte nicht fassen, was er hörte.

»Da war nichts.« Die Stimme des jungen Zauberers klang nun ein wenig fester. »Hinter den Holzwänden war nichts. Nichts als Gras. Und hinter den Hügeln waren Gerüste aus Balken, doch ich konnte nicht genau erkennen, wozu sie dienten. Der Bau war noch nicht weit genug fortgeschritten.«

»Jetzt reicht es.« Harsch unterbrach Eolan seinen Schüler. »Du sprichst mir kein Wort mehr. In deinem Zustand hast du jede Anstrengung zu vermeiden. Und du, Marcian, verlasse den Garten! Wie du siehst, hast du uns wieder einmal Unheil gebracht.« Die jungen Adepten hatten inzwischen eine Decke aus dem Haus geholt. Sie rollten den Verletzten auf das Tuch und trugen ihn auf sein Zimmer. Marcian blieb allein unter den Bäumen zurück. Er blickte zum Himmel. Der Königsadler war verschwunden. Langsam schritt er zu dem Portal, das aus dem Garten auf die Straße führte. Dort standen überall Menschen und diskutierten. Der Kampf am Himmel hatte großes Aufsehen erregt, und viele hielten den Triumph des Königsadlers für ein schlechtes Omen.

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