»Guten Morgen, Darrag. Man sagt, du seist ein guter Waffenschmied. Ich habe einen Auftrag für dich.«
Darrag musterte den Fremden. Er trug teure Kleidung und einen leuchtend roten Umhang. Das mußte der Augenarzt sein, von dem man in der Stadt erzählte. Ganz offensichtlich kein armer Mann.
»Ihr seht nicht so aus, als sei Euch mit Sicheln oder Pflugscharen geholfen, Fremder. Was soll's sein?«
»Man sagt, Ihr schmiedet die besten Schwerter der Stadt.«
»Wer immer das sagt, muß seit langem mit verschlossenen Augen gelebt haben. Seit die Orks die Stadt besetzt halten, habe ich keine Waffe mehr geschmiedet. Man hat drei Tage auf der Folter versucht, mich zu meiner Kunst zu überreden, doch ich lehnte es ab, für die Schwarzpelze oder irgend einen anderen in der Stadt eine Waffe zu schmieden. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie mich ein Fremder dazu bringen könnte, mit diesem Vorsatz zu brechen. Die glühenden Eisen der Folterknechte waren wesentlich überzeugender, als eure Worte jemals sein könnten. Und auch sie reichten schon nicht.«
»Große Worte und doch munkelt man, daß Ihr es mit Euren Vorsätzen nicht so ernst nehmt, wenn Ihr sicher wißt, daß Eure Waffen in den Händen von Rebellen liegen.«
»Wer sagt das? Seid Ihr ein bezahlter Spitzel der Orks, oder was soll diese Fragerei?« Darrag runzelte die Stirn. Sollte dieser Fremde etwas wissen? Das war unmöglich!
»Nun, ich wäre ein schöner Freund, wenn ich meine Informanten preisgeben würde. Doch wenn Ihr nicht lügt, dann schwört doch bei Ingerimm, dem Gott der Schmiede, daß Ihr die Wahrheit sagt.«
»Ihr gebt mehr heiße Luft von Euch als mein Blasebalg. Auf Euer leeres Gewäsch einen Schwur zu leisten wäre Gotteslästerung.«
»So leugnet Ihr also nicht, daß Ihr den Rebellen Waffen liefert.« »Dreht einem ehrlichen Mann nicht das Wort im Munde herum!«
»Nicht ich bin es, der heißes Eisen traktiert. Das ist doch wohl Euer Beruf, und wie ich sehe, versteht Ihr Euch recht gut darauf.«
Darrag hatte das Hufeisen, auf das er einhämmerte, außer Form geschlagen. Dieser Fremde war eine rechte Plage. Am liebsten wäre er ihm mit einer Eisenstange zu Leibe gerückt, aber die Orks warteten nur darauf, daß er einen Fehler machte, um ihn erneut in die Mangel zu nehmen. Wahrscheinlich war der Fremde deshalb hier. Darrag hatte schon erlebt, wie sich Ehrenmänner an die Besatzer um eines kleinen Vorteils willen verkauften. Sie achtete der Schmied nicht mehr als die Nutten, die sich diesen Blutsäufern hingaben. Wahrscheinlich war sein Gegenüber in Wahrheit so verrottet, wie er auf den ersten Blick als aufrechter Mann erschien. Der Schmied legte das Eisen wieder in die Glut, um mit seiner Arbeit noch einmal zu beginnen. Dann baute er sich mit verschränkten Armen vor dem Fremden auf. Hoffentlich begriff der mal langsam, daß er unerwünscht war.
»Versteh doch, Schmied, ich will den Orks das Fell gerben, und dazu brauche ich ein Schwert. Eine bessere Klinge, als ich an meiner Seite trage! Eine Waffe von dir. Ich weiß, daß du deine Schwerter am Tag der Besetzung nicht in den Fluß geworfen hast. Man braucht dich nur anzusehen, um zu erkennen, daß du ein Kämpfer bist.«
»Ich bin ein Mann mit Frau und Kindern und sonst gar nichts.« »Hast du nicht eben noch selbst verkündet, daß du stolz der Folter getrotzt hast. Das nenne ich den Mut eines Kämpfers. Sich hinter Frau und Kindern zu verschanzen, das paßt nicht zu dir.«
Das Eisen in der Esse glühte rot und konnte wieder bearbeitet werden. »Was würdest du sagen, wenn ich im Auftrag Sharraz Garthais hier stehen würde?«
»Ich würde dir in dein elendes Gesicht spucken. Jedes Wort wäre dann zu schade für dich.« Darrag spürte, daß er bald die Beherrschung verlieren würde.
»Eben sind deine Frau und deine zwei Töchter zum Markt gegangen. Stimmt das?«
Der Schmied antwortete nicht.
»Ich fürchte, heute wirst du lange auf sie warten müssen.«
Darrag hob seinen schweren Hammer. »Verschwinde hier, oder ich werde dir den Schädel einschlagen und das Hufeisen hier vergessen.« »Ich wollte dir doch nur sagen, daß du lange auf deine Frau und die Kinder warten kannst. Diese Nacht werden sich die Orks erst mit deiner hübschen Frau und dann mit deinen kleinen Töchtern vergnügen. Es sei denn, du verrätst deine Mitverschwörer und ...«
Mit einem wilden Schrei sprang Darrag über den Amboß. Er würde es dem Fremden schon zeigen! Sollten sie nur versuchen, seinen Kindern etwas anzutun. Er würde sich diesen Wicht packen und gegen seine Familie eintauschen. Darrag warf den Hammer zurück in die Werkstatt. Er mußte den Kerl lebend haben.
Geschickt tauchte der Fremde unter dem Schmied hinweg. Und versetzte ihm einen Schlag in den Nacken. Ein Stiernacken! Als hätte er nichts gespürt, ging der Schmied erneut zum Angriff über.
Darrag kochte vor Wut. Diesem zappelnden Wicht würde er die Rippen brechen. Schnaubend drehte er sich um und blickte auf ein blitzendes Schwert. Die Nachbarn, die bisher neugierig zugesehen hatten, verschwanden in den Häusern. Mord und Totschlag bedeutete Ärger mit den Orks. Es wäre besser, nichts gesehen zu haben.
»Wenn du willst, daß deiner Familie nichts passiert, gehst du besser mit mir in deine Schmiede. Du handelst zu unbedacht, Darrag. Dein Fehler ist, daß du dich zu leicht reizen läßt. Und jetzt geh.«
Widerwillig drehte der Schmied sich um. Der Fremde hatte recht. Er mußte sich beruhigen. Langsam gingen beide durch die Schmiede ins Haus. Ein sauberer kleiner Wohnraum befand sich hinter der Werkstatt. Mitten auf dem Tisch lag eine Puppe aus Stroh.
Darrag stiegen vor Wut Tränen in die Augen. Wie konnte er seine Kinder retten, ohne seine Freunde zu verraten. Er war verzweifelt. Wieder ertönte die bohrende Stimme hinter ihm.
»Wem hast du Waffen gegeben, Darrag? Nenn mir die Namen! Mit jedem Namen, den du sagst, rettest du ein Leben. Deiner Frau und deinen Kindern würde nichts passieren. Drei Namen will ich von dir, und du wirst sie noch vor Mittag Wiedersehen.«
Darrag schluckte. Er konnte doch seine Freunde nicht verraten. Er wollte nie so werden wie die Feiglinge, die mit den Orks zusammenarbeiteten.
»Ich weiß nicht, was du willst!« antwortete er mit gepreßter Stimme. »Es gibt niemanden, dem ich Waffen gegeben habe, seit die Orks in der Stadt sind.«
»In einer Hinsicht hast du recht, Schmied. Du kannst wirklich nicht wissen, was ich will.«
Der Fremde faßte mit der Linken unter sein Wams, während er mit dem Schwert in der Rechten immer noch nach Darrags Kehle zielte. Er zog einen kleinen Siegelring heraus, der golden glänzte, und warf ihn auf den Tisch neben die Puppe.
»Sieh dir das an, Schmied. Ich bin sicher, so etwas hast du noch nicht gesehen, auch wenn du wahrscheinlich schon viel darüber gehört hast.« Darrag griff nach dem Ring und musterte ihn aufmerksam. Er zeigte einen Greifenkopf. Das Symbol der Inquisition! Wer so etwas bei sich trug und nicht zur Inquisition gehörte, wäre des Todes! Wieder musterte er den Ring. Eine sehr feine Arbeit! Eine solche Fälschung schaffte nur ein ausgezeichneter Goldschmied. Immerhin konnte er den Ring aber auch von einem Toten haben.
»Was soll mir das sagen?« fragte der Schmied. »Daß Ihr auch schon einen Inquisitor getötet habt?«
Statt einer Antwort zog der Fremde eine lederne Rolle aus dem Wams, öffnete sie und holte ein gerolltes Pergament heraus.
»Du kennst die Geschichten, die man sich über das Siegelwachs der Kaiser erzählt. Das Wachs, mit dem die Urkunden der Lehensträger gesiegelt werden, und andere Dokumente, die in den falschen Händen den Wert verlieren sollen?«
Darrag hatte davon gehört. Es war ein dunkelrotes Siegelwachs, das angeblich auf magische Weise seine Farbe änderte und schwarz wurde, wenn es in die falschen Hände geriet.
»Siehst du dieses Dokument?« Der Fremde starrte ihn ernst an. »Ich kann nicht lesen«, antwortete Darrag ärgerlich.
»Du sollst es auch nicht lesen, du sturer Hornochse.« Der Fremde lächelte. »Sieh dir das Siegel an!«
Es war von einem tiefen Rot und zeigte einen Fuchskopf.
»Jetzt nimm du das Dokument, Darrag. Sei vorsichtig und sieh dir genau das Siegel an!«
Unsicher griff der Schmied nach dem Dokument. Das Wachs änderte die Farbe. Darrag erbleichte. Unsicher legte er es auf den Tisch. Er hatte noch nie einen Zauber wirken sehen. Noch immer war das Siegelwachs schwarz.
»Und nun schau noch einmal genau her!« Der Fremde nahm das Pergament, und wieder veränderte das Siegel seine Farbe. Im Nu wurde es dunkelrot. Langsam rollte er das Schreiben zusammen, schob es in die Lederhülle und verbarg es wieder unter dem Wams.
»Gut«, murmelte Darrag, »du bist also ein Mann des Prinzen. Und was willst du von meiner Frau und meinen Kindern? Sie haben niemandem etwas getan. Wir waren immer auf Seiten des Kaiserreichs. Ihr seid ungerecht, wenn Ihr ihnen etwas zu leide tut.«
»Niemand will etwas von ihnen, Schmied. Wahrscheinlich sind sie noch damit beschäftigt, Kohl einzukaufen. Ich sah die drei vorhin aus dem Haus kommen und zum Markt gehen. Meine Geschichte war erfunden. Ich mußte wissen, ob du deine Freunde verraten würdest. Du hast diese Prüfung bestanden, doch solltest du lernen, dein Temperament besser im Zaum zu halten. Sag mir jetzt, auf wen man in dieser Stadt noch im Kampf gegen die Orks rechnen kann! Schon morgen Nacht will ich die Schwarzpelze aus ihrer Zitadelle werfen, doch dazu brauche ich noch Verbündete. Du sollst mir helfen, denn dir traue ich jetzt. Und entschuldige, wenn ich mich erst jetzt vorstelle. Ich bin Marcian, der neue Inquisitor für die Grafschaft Greifenfurt, und trage auch den Rang eines Obristen. Man hat mich geschickt, um diese Stadt von Orks zu befreien. Und ich brauche Männer wie dich. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, wenn ich deine Loyalität zunächst so grausam erproben mußte. - Bevor ich es vergesse: In wessen Auftrag ich hier bin, bleibt zunächst unser Geheimnis. Du sollst der einzige sein, der weiß, daß ich ein Inquisitor bin.«
Marcian reichte dem Schmied die Hand. Darrag zögerte, dann griff er zu und drückte die Hand fester, als nötig gewesen wäre. Der Inquisitor verzog keine Miene. Lancorian fluchte vor sich hin. Eine Schande war es, den exzellenten Wein mit Gift zu versetzen. Er hätte niemals gedacht, daß er so tief sinken würde. Patriotische Gefühle hatte er dabei nicht. Bisher hatte er es nie nötig gehabt, die Welt in Freunde und Feinde zu unterteilen. Es gab nur Leute, die er mochte, und andere, die ihm gleichgültig waren. Er war nie gut in Intrigenspielen gewesen. Und jetzt hatte er auch noch den Eindruck, daß Marcian ihm nicht die volle Wahrheit sagte. Warum war er so versessen darauf, sich mit den Orks anzulegen? Wenn der Sieg der Kaiserlichen so nahe war, warum konnte er dann nicht die paar Wochen warten, bis die Armee des Prinzen vor den Toren der Stadt stand? Warum jetzt einen Aufstand riskieren? Jedenfalls hatte Marcian sein Ziel erreicht. Gerade jetzt mußte er in einem verborgenen Keller vor den Rebellen stehen, um ihnen seine Pläne darzulegen. Lancorian schmunzelte. Wenn er an die Greifenfurter Bürger dachte, konnte er sich nicht vorstellen, daß sein Freund viele Gleichgesinnte um sich geschart hatte. Insgeheim stellte er sich dicke Händler und Tuchmacher vor, für die die Revolte nicht mehr war als ihr liebstes Stammtischthema. Der Erfolg des Unternehmens würde davon abhängen, daß sein Schlafgift wirkte und daß Lysandra mit ihren Freischärlern wie versprochen um Mitternacht vor dem Andergaster Tor auftauchte. Zweifelnd blickte der Magier über seinen Arbeitstisch. Ein Schlafgift war in der ganzen Stadt nicht zu bekommen. Vielleicht wollten ihm die Heiler und Apotheker aber auch deshalb keines verkaufen, weil sie insgeheim unterstellten, daß es bei seiner Arbeit in der Fuchshöhle eingesetzt würde und daß sie es vielleicht sogar am eigenen Leib zu spüren bekämen. Der Gedanke an die Bürger und ihre Doppelmoral ließ Lancorian einen Moment vor Wut erschaudern. Dann blickte er wieder über die Zutaten zum Schlaftrunk. Zwei Alraunenwurzeln, Ilmenblätter, einige schwarze Gänsedaunen und ein wenig Boronwein. Laut Rezeptur hätte eine der Alraunenwurzeln drei mal sieben Tage im Boronwein liegen sollen. Lancorian zuckte mit den Schultern. Das klappte nicht mehr. Da hätte Marcian sich schon ein wenig eher an ihn wenden müssen. Er würde es mit drei mal sieben Stunden probieren. Schließlich mußte der Trunk morgen nacht fertig sein.
Er legte die Ilmenblätter und sieben Gänsedaunen in eine kupferne Pfanne, um sie über kleiner Flamme zu rösten. In der Akademie war er als Alchemist nie sonderlich gut gewesen. Seitdem hatte er sich mit diesem Gebiet fast gar nicht mehr beschäftigt. Hoffentlich ging die Sache gut! Es machte ihn nervös, wenn er daran dachte, daß vielleicht Menschenleben vom Erfolg seiner Versuche abhingen.
Die Daunenfedern waren mittlerweile zerfallen und die zerriebenen Ilmenblätter zu schwarzen Krümeln verbrannt. Vorsichtig füllte er das Ganze in einen bronzenen Mörser und zerstieß es zu feinem schwarzen Pulver. Morgen abend würde er alle Ingredienzen zusammengeben und einen starken Schlafzauber auf den Trank legen. Sollte sich das Ganze dann zu einem zähflüssigen Sirup verdicken, dann war sein Zauber geglückt. Mit einem schweren Almadaner Wein vermischt würde der Schlaftrunk schon wirken. Der Wein alleine hatte es schließlich schon in sich.
Selbstzufrieden schmunzelte Zerwas in sich hinein. Er hatte die Gestalt eines kräftigen jungen Mannes angenommen, der ihn vor langer Zeit einmal für eine Nacht beherbergt hatte. Mit kaltem Lächeln erinnerte sich Zerwas an den erstaunten Blick des Holzfällers, als er starb. Man sollte sich in der Einsamkeit der Wälder halt besser überlegen, wem man Tür und Tor öffnete. Hier in der Stadt war es anders. In den letzten Woche hatte er nur noch wenig gemordet, obwohl die Besatzung der Orks im Vergleich zu früheren Zeiten wesentlich bessere Möglichkeiten bot. Als noch Priester in der Stadt waren, hatte er vorsichtiger sein müssen. Deshalb war er auch jetzt hier in diesem Keller. Schon gestern spürte Zerwas, daß sich etwas änderte. Plötzlich war jemand in der Stadt, der auch ihm gefährlich werden konnte. Darrag, der sich für seinen Freund hielt, hatte ihn über dieses Treffen der Verschwörer informiert. Hier zu sein bei dieser Versammlung war wichtig für ihn. Er durfte auf keinen Fall eine so grundlegende Veränderung versäumen. Es gab nun zwei Möglichkeiten, seine Macht zu steigern. Er konnte die Verschwörer an die Orks verraten. Statt die Orks zu überwältigen, würden sie dann in eine Falle laufen. Das gäbe eine blutige Nacht für Greifenfurt. Und genau das war der Punkt. Es würde eine blutige Nacht für Greifenfurt. Sollte er den Aufrührern helfen, bestanden gute Aussichten, die Besatzer aus der Stadt zu werfen. Aber nur vorübergehend. Wenn die Karten für den Prinzen so gut stünden, wie dieser Mann mit den weißen Schläfen hier vor den Verschwörern behauptete, dann wäre es nicht nötig, den Orks eine wichtige Nachschubbasis zu nehmen. Die kaiserlichen Armeen würden die Schwarzpelze einfach überrennen. Wahrscheinlicher war, daß diese Rebellion das Ziel hatte, Kräfte der Orks im Hinterland zu binden und so die Armee zu schwächen, die gegen den Prinzen kämpfte. Wenn dem so war, würden die Orks bald wieder vor den Toren der Stadt stehen. Es würden noch katastrophalere Zustände herrschen als jetzt, und vor allem würde sehr viel mehr Blut fließen. Die Vorstellung vom Leid einer ganzen Stadt erregte Zerwas. Sie würden büßen, was man ihm einst angetan hatte. Er würde zum Rachegott, der diese Stadt in Elend und Vernichtung stürzte. Er wollte die Einwohner leiden sehen. Lange leiden! Genauso, wie er damals im Angesicht der Greifenfurter lange gelitten hatte. Nun würde er zuschauen, wie diese Stadt zugrunde ging.
Wieder lauschte Zerwas auf die Worte des Redners. Er prangerte gerade die Schreckensherrschaft der Orks an und wurde durch zustimmendes Gemurmel bestätigt. Mit lauter Stimme erinnerte der Aufrührer an die sogenannte Blutnacht, als die Orks alle Sklaven einer Baracke niedermetzelten. Bis auf einen, den die Angst in den Wahnsinn getrieben hatte. Und dann sprach er von den Toten der folgenden Nacht, von den fünf Männern und Frauen, die man an Pfähle gefesselt hatte und die man über Nacht grausam tötete. Der neue Tag hatte ihre Leichen mit abgerissenen Köpfen an den Pfählen hängen sehen.
Zerwas schmunzelte,, und die zwanzig Bürger im Keller machten ihrem Unmut durch empörtes Geschrei Luft. Diese Opportunisten, dachte Zerwas. Bislang hatte keiner von ihnen einen Finger krumm gemacht, etwas zu tun. Und dann kam dieser Fremde aus Gareth, redete von Aufstand und schon waren sie Feuer und Flamme.
Wieder musterte Zerwas den Mann mit dem flammend roten Umhang. Er konnte ihm gefährlich werden. Er hatte nicht nur den Willen zur Macht, sondern auch die nötige Intelligenz und Kälte, sich durchzusetzen. Es war nun an der Zeit, sich einzumischen. Er spürte ganz deutlich, an einer Weggabelung des Schicksals zu stehen. Jetzt wurde entschieden, ob er zu ungeahnter Macht gelangte oder den Weg in sein Verderben beschritt. Er hatte sich entschieden. Dann ergriff er das Wort. »Wie soll eigentlich die Garnison gestürmt werden? Die Besatzungen der Stadttore zu überwältigen und betäubte Offiziere zu fangen, das stelle ich mir auch nicht schwierig vor. Aber was ist, wenn das Tor der Garnison verschlossen ist? Und soweit ich weiß, ist es jede Nacht verschlossen, und es gibt keinen menschlichen Sklaven, der es öffnen könnte. Die wenigen, die in der Garnison Frondienste verrichten, werden jede Nacht in Eisen gelegt. Also, wie kommen wir dort hinein?« Der Redner blickte Zerwas fest an, der sich sicher war, mit seiner Frage einen wunden Punkt getroffen zu haben, und entgegnete lapidar: »Wir müssen versuchen, dort jemanden einzuschleusen.«
»Und wie soll das gehen?« Zerwas genoß es, diesen Mann, der sich Marcian nannte, in Schwierigkeiten zu bringen.
»Wir brauchen Freiwillige, die sich in die Festung einschleichen, die versuchen, mit Seilen noch vor Mitternacht heimlich über die Mauern zu kommen.« Marcians Stimme wirkte nicht mehr so fest und sicher wie bisher.
»Ich würde vorschlagen, daß ein starker Mann durch den Fluß schwimmt und über die Westmauer versucht, in die Garnison einzudringen. Wenn überhaupt jemand Wache steht, dann im Torbereich, nicht aber zur Flußseite hin. «Alle blickten auf Zerwas, und zustimmendes Gemurmel erklang. Großgewachsen, mit sorgfältig gestutztem Kinnbart und langem schwarzem Haar war er ein Mann, dessen Erscheinung allein schon Eindruck machte. Gewöhnlich fiel es ihm leicht, überzeugend zu sein. Nur Marcian musterte ihn mißtrauisch. Wahrscheinlich verübelte er ihm diesen begründeten Einspruch, der seine Fähigkeiten als Stratege in Frage stellte. Doch schnell fing er sich und fragte: »Und wer meldet sich für diese Aufgabe freiwillig? Vielleicht solltest du in die Garnison eindringen. Offensichtlich kennst du dich ja bestens aus.«
»Genau daran hatte ich auch gedacht. Ich würde diese Aufgabe gerne übernehmen.« Selbstzufrieden lächelnd lehnte Zerwas sich an die Gewölbewand zurück. »Oder gibt es sonst noch Freiwillige?
Wahrscheinlich ist es sogar schlecht, wenn zu viele versuchen, über die Mauer zu gelangen. Jede weitere Person, die bei diesem Unternehmen dabei ist, bedeutet ein zusätzliches Risiko.«»Gerade weil diese Aufgabe so wichtig ist, solltest du es aber nicht allein versuchen«, erwiderte Marcian. »Fällst du den Orks in die Hände, wird uns niemand das Tor öffnen.«
»Ich bleibe dabei: Der Starke ist am stärksten allein! Andere würden mich nur behindern.«
»Dann werden wir eben zwei Gruppen bilden, die unabhängig voneinander versuchen, in die Garnison einzudringen.« Marcians Stimme klang gereizt. »Ich denke, ich habe gestern in der Fuchshöhle noch einige Mitstreiter kennengelernt, die für eine solche Aufgabe geeignet sind. Jedenfalls scheuten sie nicht davor zurück, damit zu prahlen, was sie nicht schon alles zur Befreiung getan hätten, wenn Greifenfurt ihre Heimatstadt wäre. Sollen die auch ihr Glück versuchen! Doch falls alle Stricke reißen und keine der beiden Gruppen erfolgreich ist, werden wir mit Lysandras Leuten an der Seite auf jeden Fall stark genug sein, um die Garnison ohne Unterstützung von innen zu stürmen. Darrag, kümmere du dich darum, daß wir bis morgen nacht genügend Seile und Wurfanker haben, um die Mauern notfalls im Sturm zu nehmen!«
Marcian hatte die Verschwörer wieder unter Kontrolle. Sollte er nur weiter planen. Zerwas war zufrieden. Die alleinige Autorität dieses Fremden war in Frage gestellt, und er hatte eine wichtige Aufgabe, die er weitgehend allein lösen konnte. Damit war der erste Schritt in eine neue Richtung getan, und er gehörte auf jeden Fall zu denjenigen, die die Zukunft gestalten würden.
Marcian spielte unruhig an seinem Schwertknauf. Dieser Zerwas hatte ihm gerade noch gefehlt! Leise fluchte der Inquisitor vor sich hin. Als hätte er das Problem, die Garnison zu stürmen, nicht schon längst überdacht. Einige der Agenten, die er in die Stadt geschleust hatte, sollten in die Festung am Fluß eindringen, um das Haupttor zu öffnen. Nur konnte er den anderen Verschwörern im Keller davon nichts sagen. Wollte er diese Männer und Frauen auch in Zukunft noch als Agenten einsetzen, durfte man keine offensichtliche Verbindung zwischen ihnen und Marcian herstellen können. Wieder dachte er an Zerwas. Der Mann mit seinem stechenden Blick war ihm unheimlich.
Wieder blickte sich Marcian vorsichtig um. Hier am Platz der Sonne wollte er sich um Mitternacht mit seinen Agenten treffen. Er selbst war viel zu früh. Angestrengt lauschte er auf Schritte im Dunkeln. Dann grübelte er wieder, warum wohl die Orks den Praios-Tempel so vollständig zerstört hatten. Aus Berichten wußte er, daß die Schwarzpelze bisher auf ihrem Feldzug alle Tempel der Zwölfgötter geplündert hatten, doch daß sie jemals einen anderen Tempel so gründlich zerstört hätten, hatte er noch nie gehört. Und dann die Grube! Das Hinreißen der Mauer allein genügte ihnen nicht! Sie hatten das ganze Fundament ausgehoben und begonnen, ein riesiges tiefes Loch zu graben, das fast den ganzen Platz ausfüllte. Am Rand erhob sich ein gewaltiger Schutthügel, in dessen Schatten sich Marcian nun verbarg. Viele Knochen sollen bei den Ausschachtungen gefunden worden sein. Mittlerweile war der Hügel zu hoch, um noch weiter Erde auf ihn aufzuschütten. Die Orks brachten den Abraum deshalb mittlerweile auf Karren vor die Stadt.
So sehr Marcian auch über den Sinn des Unternehmens nachdachte, es blieb ihm rätselhaft. Aus einer der vier Hütten am Rande des Platzes trug der Nachtwind einen lauten Seufzer zu ihm. Er hatte die Sklaven tagsüber beobachtet, wohl vierzig ausgemergelte Frauen und Männer. Auch wenn man hörte, daß es ausnahmslos gefangene Kämpfer waren, würden sie so schnell kein Schwert mehr führen. Die Sklaven in eine gute körperliche Verfassung zu bringen würde eine ganze Weile dauern. Marcian fuhr herum und duckte sich noch tiefer in den Schatten. Schritte näherten sich. Er konnte die große gedrungene Gestalt des IngerimmGeweihten ausmachen. Mit einem leisen Pfiff gab er sich ihm zu erkennen.
Wenige Augenblicke später waren alle versammelt. Nur die Elfen und der Zwerg fehlten. Er hatte ihnen dringend davon abgeraten, in die Stadt zu kommen. So gut konnte keine Verkleidung sein, daß die Orks nicht gemerkt hätten, wen sie da vor sich haben. Sie sollten morgen um Mitternacht versuchen, über die Außenmauer in die Garnison einzudringen und heimlich das Tor öffnen. Wieder dachte der Inquisitor verärgert an Zerwas. Hoffentlich würde er nicht auffallen und alles verderben. Doch jetzt galt es, sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Mit leiser Stimme sprach er mit seinen Leuten noch einmal seinen Plan durch. Sie sollten alle gemeinsam in der Fuchshöhle gegen die Offiziere vorgehen. Sollte es Schwierigkeiten geben, brauchte er hier Männer und Frauen, denen er vertrauen konnte. Sobald dies geregelt war, würden sie sich in mehrere Gruppen aufteilen.
Die Stadttore mußten schnell in ihre Gewalt gebracht werden, und sobald Lysandra mit ihren Leuten eindrang, würden sie sich die Garnison vornehmen.
Auf Fackelzüge und Aufrufe, die die Bürger aus den Betten holten, würde er verzichten. Damit würde man nur das Überraschungsmoment für den Angriff auf die Garnison verspielen, und militärisch waren bewaffnete Bürger fast ohne Wert. Nein, er würde lieber auf die wenigen Männer, mit denen er gesprochen hatte, und auf die kampferprobten Freischärler vertrauen, die Lysandra vor die Tore der Stadt führte. Als alles besprochen war, trennten sich die Verschwörer wieder. Unauffällig verließen sie den Platz in die verschiedenen Richtungen. Marcian war erleichtert, daß es alle bis Greifenfurt geschafft hatten. Das war ein gutes Omen. In vierundzwanzig Stunden würde sich erweisen, ob die Götter auf seiner Seite waren. Manchmal kamen dem Inquisitor Zweifel, ob er das Richtige tat. Doch nun würde er erst einmal bei Lancorian und einem hübschen Mädchen Ablenkung suchen.
Marican brauchte Ruhe. Fast glaubte er, ein Fieber habe von ihm Besitz ergriffen, als er zur Fuchshöhle zurückkehrte. Lancorian war nicht zu sehen. Wahrscheinlich stand er wieder auf der verborgenen Wendeltreppe, um die Gäste der Mädchen zu beobachten und seine Zauber zu wirken.
Außer dem Inquisitor hielt sich kein weiterer Gast mehr in der Schankstube auf. Einige Mädchen saßen gelangweilt an einem Tisch und warteten auf späte Freier. Neugierig blickten sie zu Marcian hinüber, der Wein bestellt hatte.
Die ersten Becher stürzte er wie Wasser in sich hinein. Marcian wollte sich schnell betrinken, um seiner üblen Stimmung zu entgehen. Er war nervös wegen der nächsten Nacht. Er mußte zu vielen vertrauen. Sollte nur einer der Eingeweihten den Plan zum Aufstand an die Orks verraten, würden sie alle in die Falle laufen, und wer das Pech hatte zu überleben, würde zum Opfer für den Blutgott Tairach.
Seit dem Treffen der Verschwörer fühlte Marcian sich elend. So als würde eine unbekannte Kraft ihm den Lebenswillen und die Zuversicht stehlen. Manchmal fragte er sich sogar selbst, ob der Aufstand sinnvoll sei. Er würde auf jeden Fall etliche Greifenfurter das Leben kosten, und sollte Prinz Brin nicht schnell genug mit seinem Heer erscheinen, konnte der Aufstand sogar die Vernichtung der Stadt und all ihrer Einwohner bedeuten. Daran, daß die Stadt mehr als nur Nachschubbasis für die Orks war, zweifelte Marcian nicht mehr, seit er die tiefe Grube auf dem Platz der Sonne gesehen hatte. So viel Energie würden die Schwarzpelze nur aufwenden, wenn es Großes zu gewinnen gab. Aber was? Mit verschleiertem Blick starrte der Inquisitor zum Tisch der Mädchen hinüber. Der Wein wirkte bereits. Er fühlte sich freier. Auch freier von all den Vorschriften, die der Großinquisitor ihm einzubleuen versucht hatte. Träge musterte er die Mädchen, die mittlerweile gemerkt hatten, daß er herüberstarrte und sich aufreizend in Pose setzten. Eine Blonde stand auf und kam zu ihm herüber. Sie strich ihm übers Haar.
»Na, mein großer Krieger, willst du nicht aufhören, so wild zu stieren, und mich statt dessen dein Feuer aufnehmen lassen?«
Der Inquisitor schätzte Anzüglichkeiten dieser Art nicht. Lallend schob er sie beiseite. Er wollte Cindira, die dunkelhaarige Schönheit aus dem Süden, die ihn schon in der letzten Nacht beglückte. Glücklich hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Genaugenommen seit dem Tag, an dem er seine Geliebte auf dem Scheiterhaufen sah und nicht die Kraft und den Mut fand, ihren Tod zu verhindern. Sein Ruhm und die Inquisition hatten ihn verblendet. Auf Befehl des Barons legte er damals selbst die Fackel an den Scheiterhaufen. Niemals würde er die Schreie seiner Geliebten vergessen, als die Flammen nach ihr griffen, und ihr Betteln um einen schnelleren Tod klang ihm noch in den Ohren. Der Henker hatte ihr vor der Hinrichtung eine zauberkräftige Wurzel in den Rachen geschoben, so daß sie nicht schnell durch die Gnade eines Erstickungstodes erlöst wurde, sondern langsam verbrannte. Man hatte Marcian Vorhaltungen gemacht, wie er sich als Inquisitor auf eine Hexe hatte einlassen können. Seine Gunst beim Baron hatte er verspielt, und man schickte ihn weit fort. Für Jahre war er in Al'Anfa im tiefsten Süden des Kontinents. Er versuchte sich in allen Lastern, die diese sündige Stadt zu bieten hatte. Seine Tarnung war perfekt. Niemand hätte in dem vermeintlichen, reichen Kaufmannssohn, der Nacht für Nacht in den Bordellen und Spielhöllen der Stadt zubrachte, einen Inquisitor vermutet. Marcian hatte die Kunst des Intrigenspiels gelernt. Er kannte den Piraten El Harkir und konnte sich brüsten, ihm zu seinem Plan geraten zu haben, den alanfanischen Hochadmiral Paligan von dessen Flaggschiff zu entführen.
Es war ein Gedankenspiel von ihm gewesen, eine Idee, die er im Rausch dahergelallt hatte. Damals glaubte er sogar, einen Krieg verhindern zu können. Für ihn war es nicht mehr als das aberwitzige Gerede einer durchzechten Nacht. Doch El Harkir hatte diesen Wahn in die Tat umgesetzt, tollkühn im Hafen das Flaggschiff geentert und den Admiral mitten aus seiner Flotte entführt.
Statt so den Krieg zu verhindern, wie Marcian im Suff geglaubt hatte, hatte er die Kampfhandlung geschürt. Vielleicht war es ja sein Schicksal, dachte der Inquisitor, daß alles, was er im Guten begann, sich zu einem schrecklichen Drama verselbständigte. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte er sich für Wochen in einer Rauschkrauthölle im Hafen verkrochen. Er konnte sich nur vage an diese Zeit erinnern. Erst von dem Moment an, als Dorban, sein Leibdiener, ihn dort gefunden hatte und nach Gareth zurückbrachte, konnte er sich wieder klarer erinnern. Der Großinquisitor Baron Dexter Nemrod hatte ihn dazu beglückwünscht, auf diese Weise den Krieg mit verursacht zu haben. Indem sich das Sultanat und Al'Anfa gegenseitig zerfleischten, war die Machtposition des Kaiserreichs nur gefestigt worden.
Fünf Jahre war das nun her. In dieser Zeit hatte er seinen Körper mit endlosen Übungen gestählt. Hatte das Gift der Drogen aus seiner Seele gespült, doch seine Trauer, seine Melancholie hatte er nicht besiegen können. Sein Leben war verpfuscht. Er fühlte sich so niedergeschlagen wie damals in Al'Anfa, und die dunkelhaarige Cindira erinnerte ihn an seine liebste Gespielin aus dieser Zeit. Sie konnte zwar keine neue Liebe in ihm entfachen, doch verstand sie es meisterhaft, ihn vergessen zu lassen.
Marcian rief das Mädchen mit den großen dunklen Augen und der samtenen Haut zu sich herüber. Mit grazilen und selbstsicheren Schritten kam sie zu ihm und blickte den Inquisitor lange an. Er hatte das Gefühl, daß sie bis in sein Innerstes sehen konnte. Daß sie die Wunden spürte, die niemals verheilen würden. Er drückte ihr ein Goldstück in die Hand und flüsterte ihr ins Ohr, daß Lancorian für sie die Illusion einer Villa Alanfanischen Stils auf einer Steilklippe am Meer erschaffen solle. Mit einer prächtigen Terrasse, die aufs Perlenmeer hinausblickte. Er wollte das Geräusch der Brandung hören, während er Cindira liebte. Der helle Klang einer tulamidischen Flöte sollte aus dem Innern des Hauses kommen, und der schwere Duft exotischer Blüten seine Sinne betäuben. Wankend stand Marcian auf und ging zur Treppe zu den Kellergewölben hinüber. Heute nacht wollte er vergessen, bevor er morgen ein weiteres Mal Tod und Verderben in eine Stadt brachte.
Gebannt starrte Marcian durch das kleine Fenster des Verstecks. Die Orks hatten angefangen zu trinken. Es waren fünf, die Offiziere der Garnison. Sie hatten ihre ledernen Rüstungen abgelegt, und alle hatten bereits einen oder zwei Becher Wein mit dem Schlaftrunk hinuntergestürzt. Marcian fand ihre haarigen, muskulösen Körper abstoßend. Auch Cindira war unter den Mädchen, die sich den Bestien hingaben. Marcian schluckte. Er hätte nicht gedacht, daß es ihm etwas ausmachen würde, sie hier zu sehen.
Mit wilden Küssen fiel ein glatzköpfiger Ork über sie her. Sie mußte sich kunstvoll in seinen Armen winden, um nicht durch die vorstehenden Reißzähne seines Unterkiefers verletzt zu werden. Die Nägel seiner starken Hände hinterließen blutige Striemen auf Cindiras Rücken. Marcians Hand krampfte sich um den Griff des Schwertes an seiner Seite. Der Glatzkopf sollte sterben. Gleichgültig, was er Lancorian versprochen hatte. Ein anderes Mädchen stöhnte laut auf, als ihr Liebhaber in sie eindrang.
Marcian wollte an etwas anderes denken, versuchte seinen Blick in die Tiefen der Landschaftsillusion zu lenken, die Lancorian geschaffen hatte, grasbewachsene Hügel und ein strahlend blauer Himmel. Man glaubte sogar, die Hitze des Sommers zu spüren. Am Horizont graste eine Herde Mammuts. Das lustvolle Stöhnen der Orks holte ihn wieder ins Jetzt zurück. Wie lange mochte es noch dauern, bis der Schlaftrunk wirkte?
Einer der Orks taumelte auf die große Amphore zu, die in einem dreibeinigen Metallständer scheinbar inmitten der Hügellandschaft stand. Kurz bevor er sie erreichte, stolperte er, versuchte sich mit rudernden Armen an der Amphore festzuhalten und riß sie samt Ständer zu Boden. Das Gefäß zerbrach. Der dunkelrote Wein ergoß sich über dem Boden. Wie ein Tier versuchte der Ork, den verschütteten Wein aufzulecken. Dann setzte er sich mitten in die Pfütze und begann lauthals zu lachen. Die anderen ignorierten ihn. Sie waren zu sehr mit den Mädchen beschäftigt.
Cindira starrte mit riesigen Pupillen ins Leere. Marcian wußte von Lancorian, daß die Huren Drogen nahmen oder sich betranken, bevor sie sich den Orks hingaben. Marcian spürte eine unbändige Wut in sich. Noch immer war nicht das geringste Zeichen dafür zu erkennen, daß die Orks mehr als nur leicht betrunken waren. Nur mühsam gelang es dem Inquisitor, mit leiser Stimme zu sprechen, als er sich zu Lancorian umwandte.
»Was ist da unten los? Wieso wirkt dein Schlafmittel nicht? Haben diese Ungeheuer zu wenig getrunken, oder sind sie dagegen vielleicht immun?« Mit stechendem Blick fixierte er den Magier. »Oder könnte es sein, daß dein Trank nicht wirkt?«
»Das glaube ich nicht. Ich fürchte, die haben einfach zu wenig getrunken. Wahrscheinlich wird sich die Wirkung noch etwas verstärken, aber daß sie von dem bißchen einschlafen, glaube ich nicht.« Lancorian schluckte.
»Und wie lange dauert es erfahrungsgemäß, bis sie bei den Mädchen vor Erschöpfung einschlafen? Du siehst dir so eine Orgie doch nicht zum ersten Mal an. Also heraus mit der Sprache?« fauchte Marcian seinen Freund an.
»Das wird noch zwei bis drei Stunden dauern.«
Zu lange, dachte der Inquisitor. Bis dahin mußte längst das Stadttor geöffnet sein, und der Sturm auf die Kaserne sollte beginnen. Finster blickte er zu Lancorian hinüber. »Du hast es verbockt«, murmelte der Inquisitor. »Jetzt kann ich mein Wort nicht mehr halten. Wir müssen den Raum stürmen, und es wird Blut fließen. Es tut mir leid.« Die letzten Worte meinte er nicht wirklich so. Er brannte darauf, dem glatzköpfigen Ork, der sich an Cindira vergangen hatte, sein Schwert in den Leib zu rennen. Hastig stieg Marcian die Treppe bis zur Turmspitze hinauf, durchquerte das Zimmer des Magiers und stieg die äußere Treppe hinab, um von der Straße in den Schankraum zu gelangen. Hastig blickte er sich dort um. Es waren nur Mitverschwörer hier. Der Schmied Darrag, die Agenten, die er aus Gareth mitgebracht hatte, und einige mutige Bürger, die schon gestern abend bei der Versammlung in dem Keller dabei gewesen waren.
»Meine Gefährten«, sagte Marcian mit hallender Stimme. »Männer und Frauen, die ihr euch entschieden habt, der Freiheit in diesen Stadtmauern wieder Einzug zu verschaffen! Nun ist unsere Stunde gekommen! Wie ein Sturm, der das letzte Herbstlaub von den Bäumen reißt, werden wir die Orks hinwegfegen. Ergreift eure Waffen und folgt mir in den Keller. Dort erwartet uns ein harter Kampf, denn der Wein hat den Bestien nicht die Sinne geraubt. Nackt liegen sie da, verzückt in ihrer Geilheit. Laßt uns ihrem grausamen Spiel mit den Mädchen dieses Hauses ein blutiges Ende bereiten!«
Mit diesen Worten stürmte Marcian die Treppe zum Keller hinunter. Die anderen folgten ihm gröhlend. Das Scharren von Schwertern, die aus den Scheiden gerissen wurden, war zu hören.
Nach wenigen Schritten stand Marcian vor der Tür zum Purpurgewölbe. Er hob die Hand zum Zeichen für die anderen, leiser zu sein und legte sein Ohr lauschend an die Tür. Es schien, als hätte man drinnen nichts bemerkt und die Orgie würde ungehemmt fortgesetzt. Noch einmal dachte Marcian an den Glatzköpfigen und Cindira. Dann stieß er die Tür auf und stürzte mit blankem Schwert in das Gewölbe.
Einer der Orks kniete unmittelbar vor seinen Füßen und versuchte, den verschütteten Wein aufzulecken. Die anderen hatten noch gar nicht richtig begriffen, was hier vor sich ging. Nur der Glatzkopf starrte über Cindira gebeugt wie gebannt zur Tür.
Mit aller Kraft ließ Marcian die Klinge auf den Schädel des vor ihm knienden Orks herabsausen. Der Ork erhob schützend die Hand, doch das Schwert trennte sie ihm glatt vom Arm und grub sich tief in seinen Schädel. Mit gurgelndem Laut sackte er in sich zusammen. Marcian setzte ihm den Fuß auf die Brust, um seine Waffe aus dem toten Ork zu ziehen. Hinter ihm drängten die anderen in das Gewölbe.
Die Orks hatten sich von ihrem ersten Schrecken erholt und versuchten, an ihre Waffen zu gelangen. Der Glatzkopf faßte Cindira um den Hals und zerrte sie mit sich weiter nach hinten, ihren Körper als Schutzschild benutzend. Marcian sprang über einen Gegner hinweg, der sich nach einer Axt bückte. Mit brennendem Blick fixierte er den Glatzkopf und parierte wie in Trance einen Hieb, der von der Seite gegen ihn geführt wurde.
Der Schwarzpelz hatte irgendwie einen Dolch zu fassen bekommen und sich bis zur Rückwand des Gewölbes zurückgezogen. Noch immer hielt er Cindira vor sich. Jeder Angriff Marcians konnte sie das Leben kosten. Der Inquisitor fluchte. Warum ging nie etwas glatt in seinem Leben? Er suchte eine Schwäche in der Deckung seines Gegners. Vergebens! Er war sich zwar sicher, den Glatzkopf besiegen zu können, aber jeder Angriff könnte den Tod des Mädchens zur Folge haben.
Hinter ihm hallte der Keller vor Kampflärm. Es schien, daß die Orks mehr Widerstand leisteten, als er erwartet hatte.
Marcian mußte den Glatzkopf aus der Reserve locken.
»Verkriechen sich die Männer des Sharraz Garthai nun schon hinter Frauen?« Marcian versuchte möglichst gelassen zu wirken, während er seinen Gegner in der gutturalen, wie ein Knurren klingenden Sprache der Orks ansprach. Wütend funkelte sein Gegenüber ihn an. »Ich habe auch gehört, daß ihr in Greifenfurt seid, weil der Schwarze Marschall euch nicht zum Kämpfen gebrauchen kann. Wenn ich dich so betrachte, kann ich dem nur zustimmen.« Vorsichtig hob der Inquisitor die Klinge. Der Schwarzpelz fletschte die Zähne. Bald würde er die Beherrschung verlieren.
Die Reaktion des Orks kam für Marcian völlig unerwartet. Mit einem wütenden Aufschrei stieß er Cindira auf den Inquisitor zu, der blitzartig die Klinge zur Seite riß, um das Mädchen nicht zu verletzen. Unter der Wucht des Aufpralls gingen beide zu Boden, und wie ein Raubtier sprang der Ork mit erhobenem Dolch auf seine Opfer am Boden zu. Genau in diesem Augenblick versuchte Cindira sich aufzurichten, so daß die Klinge des vorschnellenden Orkkriegers ihr tief in die Schulter fuhr.
Marcian rollte sich zur Seite und kam mit katzenhafter Behendigkeit wieder auf die Beine. Ruckartig riß der Ork seine Waffe aus der Schulter des Mädchens. Aus der klaffenden Wunde ergoß sich ein breiter Strom Blut über Cindiras Rücken. Sie hatte das Bewußtsein verloren. Vorsichtig umkreiste Marcian seinen Gegner. Blinder Haß drohte ihn zu ersticken. Er würde diesen Ork nicht einfach nur töten, er würde ihn schlachten. Aus den Augenwinkeln sah er Cindira, die in einer Blutlache lag.
Mit einem heftigen Schlag fegte Marcian den Dolch des Gegners zur Seite und zog ihm mit der Spitze des Schwertes eine tiefe Schramme über die Brust. Einen Moment taumelte der Ork, doch dann fing er sich und versuchte, den Inquisitor mit einem Kopfstoß von den Beinen zu rammen.
Mit einem Sprung zur Seite wich Marcian aus. Der Ork taumelte ins Leere, drehte sich herum und hob mit einem Schreckensschrei den linken Arm, um einen Schwerthieb des Inquisitors abzufangen. Fast ohne an Wucht zu verlieren, trennte der Schwerthieb die Hand vom Arm und fuhr seitlich des Halses in die Schulter des Orks.
Mit gurgelndem Laut ging der Glatzkopf in die Knie und preßte in dem verzweifelten Versuch, die Blutung zu stillen, den Armstumpf gegen seine Brust. Der Dolch war ihm aus der Hand geglitten. Noch immer sah Marcian das Bild der schwer verletzten Cindira vor seinem inneren Auge. Sah quälend langsam, wie ihr der Dolch bis ans Heft in die Schulter glitt.
»Ich ... ergeben ...«, stammelte der Ork mühsam in der Sprache der Menschen. In pulsierenden roten Strömen schoß ihm das Blut aus dem Arm und der Schulter. Mit der unverletzten Hand stützte er sich auf, um nicht vornüber zu kippen. Mit kaltem Blick setzte Marcian ihm die Klinge an den Hals.
»Ich ...« begann der Ork erneut, als der Inquisitor ihm die Klinge durch den Hals trieb und der Schwarzpelz mit einem gurgelnden Laut nach hinten fiel.
Mit einem kräftigen Ruck befreite Marcian sein Schwert und ließ dann gedankenverloren die Klinge fallen. Cindira, schoß es ihm durch den Kopf. Sie darf nicht sterben!
Er kniete sich neben dem Mädchen nieder. Die Wunde in der Schulter blutete nicht mehr so stark. Wie ein dünnes Rinnsal floß das Blut an ihrem Rücken hinunter. Verzweifelt riß sich Marcian einen breiten Streifen Stoff von seinem Umhang, um ihn auf die Wunde zu pressen und die Blutung zu stillen. Erst jetzt merkte er, daß es still geworden war.
Der Kampf hatte aufgehört. Die Männer und Frauen blickten zu ihm herüber. »Laß sie liegen. Sie ist tot«, klang eine tonlose Stimme von irgendwoher.
»Nein!« schrie Marcian. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er sich zusammenreißen mußte, wollte er nicht sein Ansehen bei den anderen verlieren. Für sie war Cindira nur eine Hure. Sie würden nicht verstehen, daß er sich ihretwegen hier aufhielt und der Angriff auf das Andergaster Tor verzögert wurde.
Marcian legte dem Mädchen die Hand auf den Hals. Ganz schwach fühlte er ihren Puls. »Laß mich ihr helfen«, hörte er eine vertraute Stimme über sich.
»Du kannst hier nichts mehr tun.« Lancorian kniete neben ihm nieder. Vorsichtig nahm er den blutdurchtränkten Fetzen von Cindiras Schulter und legte seine Hand auf die Wunde.
»Geh nun und tu deine Pflicht!« brummte Lancorian. Dann murmelte er einige unverständliche Worte und Marcian sah, wie sich die Wunde unter den Händen des Magiers schloß.
»Cindira hat viel Blut verloren. Ich glaube nicht, daß sie diese Nacht überleben wird, aber wenn du jetzt nicht gehst, wird sie umsonst gestorben sein.« Finster blickte der Magier Marcian an. »Mach schon! Geh dein blutiges Handwerk verrichten! Befreie die Stadt. Das hast du doch gewollt!«
Marcian hob sein Schwert vom Boden auf. Die Klinge schien ihm plötzlich unsagbar schwer. Er straffte sich und blickte seine Mitstreiter an. Nur mühsam konnte der Inquisitor ein Würgen im Hals unterdrücken. Dann sagte er mit einer Stimme, deren Kraft und Kälte ihn selbst überraschte: »Vorwärts, lassen wir Lysandra in die Stadt. Laßt uns Tod und Verderben über die Orks bringen! Und macht keine Gefangenen!«
Wieder starrte Marcian auf die beiden toten Orks zu seinen Füßen. An die letzten Augenblicke konnte er sich kaum erinnern. Er hatte die Rebellen zum Tor geführt. Am Gasthaus ›Zum Löwen‹ wartete eine seiner Agentinnen. Eine Jägerin, die in einem kleinen Wagen mit doppeltem Boden Waffen in die Stadt geschmuggelt hatte. Im Stall der Schenke wurde ein letztes Mal der Plan besprochen. Dann waren einige Männer wie im Suff grölend auf das Stadttor zugetorkelt und hatten sich an dem schweren Balken zu schaffen gemacht, der die Torflügel versperrte. Zwei Orks kamen aus dem Inneren der Toranlage und waren erdolcht worden, bevor sie auch nur einen Laut abgeben konnten. Dann stürmte er mit den anderen aus der Deckung. Als erster hastete er die schmale Steintreppe im Inneren des Torhauses empor und betrat den Wachraum. Zwei weitere Orks saßen dort an einem Tisch und würfelten. Was danach geschehen war, wußte er nicht mehr. Die Toten sahen übel aus. Noch immer krampfte sich seine Hand um ein blutiges Schwert. Er hatte seine Gegner regelrecht zerstückelt.
Erst jetzt merkte Marcian, daß auch Darrag der Schmied im Wachraum war. Er schien die Leichen der Orks nicht zu beachten und meldete, daß die Toranlage sowie die ganze nördliche Stadtmauer in der Hand der Rebellen sei. Widerstand hatte es so gut wie nicht gegeben. Außer den vier Orks am Tor war noch zwei anderen bei einem Wachgang über die Stadtmauer aufgelauert worden. Darrag blickte Marcian an, als würde er auf etwas warten. Als das Schweigen quälend wurde, fragte der Schmied: »Sollen wir nun vor dem Stadttor das Feuerzeichen für Lysandra und ihre Freischärler geben?« Marcian nickte, und Darrag veließ ohne ein weiteres Wort den Wachraum.
Der Inquisitor blickte durch eine der Schießscharten, während unter ihm vor dem zweiten Tor bewaffnete Frauen Fackeln schwenkten. Sollte die Amazone jetzt nicht mit ihren Freischärlern in den Feldern vor der Stadt warten, war die Rebellion bereits gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte. Bislang lief zwar alles nach Plan, und seine Mitverschwörer aus der Stadt hatten sich besser geschlagen, als Marcian erwartet hatte, und doch würde alles scheitern, wenn ihnen die Amazone mit ihren waffengeübten Freischärlern nicht beim Sturm auf die Garnison helfen würde. Wieder blickte der Inquisitor über die Felder. Es war kaum etwas zu sehen in dieser Nacht. Dunkle Wolken trieben am Himmel. Er hing seinen Gedanken nach. Ob Cindira noch lebte? Bislang hatte er jedem Menschen, den er mochte, Unglück gebracht. Er wußte, daß man ihn in Gareth hinter vorgehaltener Hand den Boronsboten nannte. Die Leute mieden ihn. Selbst die anderen Inquisitoren. Seit er die Armee verlassen hatte, war er immer ein Außenseiter gewesen. In der Inquisition hatte er nur Neider, weil er schnell zu Amt und Würden gekommen war, obwohl er nicht einmal die Weihen eines Praiospriesters empfangen hatte. Alle anderen Inquisitoren, die er kannte, waren zugleich auch Geweihte des Sonnengottes, des obersten der ZWÖLFGÖTTER. Bei den Agenten, die im Dienste des Kaisers unterwegs waren, sah das anders aus. Hier zählte allein, daß man ihnen zutraute, loyal ihre Aufgabe zu bewältigen. Hier galten nicht so strenge Maßstäbe. Doch die Inquisitoren waren die Verkörperung der Gerechtigkeit, das Gewissen des Reiches. Man sagte, daß selbst der Prinz den Großinquisitor fürchtete. Baron Dexter Nemrod hatte immer schützend seine Hand über Marcian gehalten. Angeblich führte er über jede wichtige Person des Reichs eine Akte. Niemand war so gefürchtet wie er, und die Inquisitoren waren die Vollstrecker seines Willlens.
Vor dem Tor erklangen gedämpfte Rufe. Marcian schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte durch die Schießscharte. Dutzende Schatten näherten sich vom Rand der Felder. Einige Reiter waren dabei und gut hundert Kämpfer zu Fuß, soweit sich das bei der Dunkelheit überblikken ließ. Marcian wandte sich um und stieg die Treppe hinunter. Im Torbogen stand Darrag und verteilte Wurfanker und Seile an die Freischärler. Neben ihm hatte Lysandra ihr Pferd gezügelt und scherzte mit einigen ihrer Leute, die das Tor passierten. Sie sah aus wie die Inkarnation Rondras. So hatte sich Marcian die Kriegsgöttin immer vorgestellt. Jeder Zoll eine Kriegerin. Lysandra trug einen bronzenen Muskelpanzer sowie polierte Arm- und Beinschienen, auf denen sich rot das Licht der Fackeln spiegelte, dazu einen prächtigen Helm mit einem Kamm aus weißem Pferdehaar. Wo sie sich diese Rüstung wohl beschafft hatte? Sie sah nicht so aus, als hätte sie ein Jahr in einem Versteck in der Wildnis gelegen. Und wenn, dann mußte Lysandra viel Zeit mit Waffenputzen verbracht haben. Marcians eigene Rüstung lag sorgfältig versteckt in einem hohlen Baum ein paar Meilen vor der Stadt. Es wäre unmöglich gewesen, sie unauffällig im Gepäck eines Augenarztes unterzubringen, und so hatte er sich am Morgen, bevor er in die Stadt ritt, von ihr getrennt.
Wieder blickte Marcian bewundernd zu Lysandra. Vor ein paar Nächten, als er die Amazone zum ersten Mal getroffen hatte, trug sie schlichte Lederkleidung. Jetzt war allein schon ihr schwarzer Umhang mit dem aufgestickten weißen Löwen einer Fürstin würdig. Sie würde den Männern und Frauen Mut machen. Und Mut würden sie brauchen, wenn es Zerwas und den Agenten nicht gelungen war, die Tore der Garnison zu erobern. Ein Sturm über die Mauern würde blutig. Doch der Inquisitor hatte keinen Zweifel, daß die Amazone auch in diesem Fall eine der ersten sein würde, die auf den Mauern der Festung stünde. Sie sah wie die Heldinnen in den Sagen der Bänkelsänger aus.
Stöhnend erhob sich Zerwas. Es bereitete ihm jedesmal unsägliche Schmerzen, wenn er seine Gestalt veränderte. Wie ein Dämon hatte er mit den gewaltigen Fledermausflügeln ausgesehen, und noch immer stand ihm das Bild des Turmwächters vor Augen. Die Orks galten als hartgesottene Kämpfer, doch dem Kerl hatte die Angst regelrecht die Kehle zugeschnürt, als er auf den Zinnen des Bergfrieds gelandet war. Der Wächter war nicht einmal mehr in der Lage gewesen, sein Schwert zu ziehen, bevor er ihm die Kehle herausriß. Zerwas wischte sich mit dem Arm über den Mund. Das Blut der Orks brachte ihm zwar genauso neue Kraft wie das eines Menschen, aber es war einfach nicht so schmackhaft. Irgendwie bitter, mit einem leicht metallischen Beigeschmack.
Argwöhnisch betrachtete er seine Hände. Seine Gestalt war jetzt wieder vollständig menschlich, und er war nackt. Sein großes Schwert hatte er sich mit einem breiten ledernen Gurt vor die Brust gebunden. Trotzdem war es beim Fliegen sehr hinderlich gewesen. Jetzt schnallte er sich die Waffe über den Rücken. Um die Taille hatte er sich ein langes Seil gewickelt. Sorgfältig knüpfte Zerwas eine Schlinge und ließ das Seil die Mauer des Turms hinuntergleiten. Die anderen sollten denken, er sei durch den Fluß geschwommen. Das würde auch erklären, warum er nackt war. Vorhin, als das Licht des Madamais für einen Augenblick durch die Wolken gebrochen war, hatte er drei Gestalten auf dem anderen Flußufer gesehen. Das mußten die anderen sein, von denen Marcian bei dem Treffen der Verschwörer gestern nacht erzählt hatte. Zerwas war sich sicher, daß er ihre Hilfe nicht brauchen würde. Es wäre ihm lieber gewesen, die Tore der Festung im Alleingang zu öffnen. Zerwas hob sein Schwert vom Boden und trennte dem Toten den Kopf ab. Der Griff der Klinge verursachte ein angenehmes Kribbeln in seiner Handfläche. Er spürte, wie es den Arm heraufkroch und langsam von seinem Körper Besitz ergriff. Er war unbesiegbar!
Mit einem Ruck öffnete er die Bodenluke, die von der Plattform ins Innere des mächtigen Turms führte. Langsam schlich er die lange, gewundene Treppe hinab und durchsuchte jeden Raum. Die Quartiere der Ork-Offiziere waren leer. Außer dem Wächter auf der Plattform gab es im ganzen Turm kein lebendes Wesen. Erst in den Verliesen, tief unter der Erde fand Zerwas einige angekettete Sklaven. Sie schliefen. Sollten sie bleiben, wo sie waren. Würde er sie jetzt befreien, wären ihm diese ausgemergelten Gestalten nur hinderlich, auch wenn sie alle einmal Krieger gewesen waren. Die Sklaverei hatte ihren Kampfesmut schon lange gebrochen.
Zerwas stieg aus den Kellergewölben wieder nach oben. Nur eine Pforte führte aus dem gewaltigen Turm hinaus. Eine kleine Tür mit schweren Eisenbeschlägen sicherte den Eingang. Daneben lehnte ein Balken, mit dem sie von innen versperrt werden konnte. Die Pforte war unverschlossen. Die Orks fühlten sich in der Festung völlig sicher. Seit sie vor einem Jahr Greifenfurt eroberten, hatten die Bürger keinen nennenswerten Widerstand geleistet.
Vorsichtig öffnete Zerwas die Pforte und blickte über den Innenhof der Burg. Niemand war zu sehen. Er stieß die Tür ganz auf und schaute sich noch einmal um. Dann nahm er den schweren Balken. Er würde ihn auf die andere Seite des Hofs zu den Stallungen bringen. Sollte es beim Angriff doch ein paar Orks gelingen, sich in den Turm zu flüchten, würden sie eine böse Überraschung erleben, wenn sie versuchten, die Pforte von innen zu verriegeln. Er schob das große Schwert wieder in den Ledergurt und band es sich über den Rücken. Dann bückte der Vampir sich nach dem Balken. Das verdammte Ding war elendig schwer. Schmerzhaft verkrampften sich seine Rückenmuskeln, als er den Türbalken anhob. Einen Augenblick konzentrierte sich Zerwas auf die Kräfte des Schwertes. Wieder spürte er, wie das Prickeln durch seinen Körper floß, und plötzlich war der Balken in seinen Armen nicht schwerer als ein dürrer Ast.
Die drahtigen kleinen Orkpferde schnaubten unruhig und schabten mit den Füßen über den Boden, als Zerwas in den Stall kam. Tiere hatten Angst vor ihm. Sie schienen sein wahres Wesen zu erkennen. Aus dem Torhaus, das den Durchgang zwischen der inneren Burganlage und dem großen, vorgelagerten Hof sicherte, drang Licht. Das Grölen der Wächter war bis zu den Ställen zu hören. Im Schatten der Mauer schlich der Vampir bis zu einer steinernen Treppe, die zum Wehrgang führte. Um in das Torhaus zu gelangen, mußte er durch den Turm, der den westlichen Eckpunkt der oberen Burganlage sicherte. Die Mauern stießen hier in einem stumpfen Winkel zusammen. In den früheren Tagen waren auch in den Türmen Mannschaftsquartiere untergebracht gewesen. Wollte er sicher sein, daß ihm keine Orks in den Rücken fielen, mußte er den Turm durchsuchen. Nein, er würde sie nicht in den Betten töten. Da er im Grunde keine Feinde fürchten mußte, konnte er es auch darauf ankommen lassen, daß ihm die Turmbesatzung in den Rücken fiele, wenn der Kampf mit den Torwächtern lang und lautstark würde. Weiter im Süden war an der Mauer ein metallisches Geräusch zu hören. Zerwas beugte sich über die Brüstung. Obwohl er im Dunklen besser sah als tagsüber, brauchte er eine Weile, bis er in der Finsternis etwas erkennen konnte. Es waren die anderen, die versuchten, in die Garnison einzudringen. Sie hatten einen Wurfanker über die Mauer geworfen und kamen nun einer nach dem anderen über die Brüstung geklettert. Sie würden sich um das zur Stadt hin gelegene Haupttor kümmern. Zerwas schmunzelte. Er sollte ein wenig Lärm machen und die Aufmerksamkeit der Verteidiger auf sich lenken. Den anderen würde es dann leichter fallen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie waren schließlich nur Sterbliche. Vorsichtig drückte der Vampir die Pforte des Turms auf und lauschte auf Geräusche aus dem Inneren. Das gleichmäßige Atmen mehrerer Orks war zu hören. Vorsichtig schlich er durch die Tür. Eine Wendeltreppe verband die verschiedenen Ebenen des Turms miteinander. Sowohl über ihm als auch unter ihm schienen Orkkrieger untergebracht zu sein. Langsam schlich er zur anderen Seite der Turmkammer und öffnete die Tür. Nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Torhaus. Plötzlich hörte er über sich einen schweren Seufzer und dann Schritte! Einer der Orks war wach geworden. Langsam kamen die Schritte die Treppe herunter. Nervös blickte sich Zerwas um. Jetzt wollte er noch keinen Kampf. Zunächst mußte er das Tor sichern. Er drückte sich in eine der großen Schießscharten in der Turmwand. Der Ork kam so dicht an ihm vorbei, daß er ihn mit ausgestreckter Hand hätte berühren können. Er war nackt und wirkte schlaftrunken. Mit unsicheren Schritten wankte er durch die Tür, die zum Torhaus führte. Doch er ging nicht zu seinen Kameraden. Sollte der Krieger vielleicht doch etwas gemerkt haben? Vorsichtig schlich Zerwas zur Tür. Der Ork stand auf den Zinnen der Mauer und pinkelte in hohem Bogen in den Fluß. Die Gelegenheit war günstig! Zerwas schlich durch die Tür und geduckt unter den Zinnen entlang. In dem Moment, wo er ihn von hinten greifen wollte, drehte sich der Ork um. Entsetzt blickte er in das Gesicht des Vampirs, der seine mörderischen Zähne entblößte. Zerwas preßte ihm die Hand auf den Mund und zerrte den Ork von der Mauer. Er strampelte verzweifelt mit den Beinen und versuchte sich zu befreien. Zerwas drückte ihm seine Finger in die Augen. Immer verzweifelter wurden die Befreiungsversuche des Orks. Dann erschlafften seine Glieder. Blut floß ihm aus den Augen. Zerwas beugte sich über seinen Hals und schlug ihm die Zähne in die Schlagader. Er wollte wenigstens einen Teil des Blutes haben. In den letzten Monaten hatte er sich sehr zurückhalten müssen, um kein Aufsehen in der Stadt zu erregen. Es wäre eine Schande, jetzt nicht zuzulangen. Sobald er mit den anderen Seite an Seite kämpfte, hätte er keine Gelegenheit mehr, seine Triebe auszuleben.
Als er genug hatte, zog der Vampir das lange Schwert aus dem Gürtel auf den Rücken. Nun galt es dafür zu sorgen, daß es keine Rivalen geben würde. Mit einem kräftigen Schlag trennte er dem Ork den Kopf ab und hob ihn auf. Einen Augenblick starrte er seinen toten Gegner an. Nach menschlichen Maßstäben waren sie sehr häßlich. Mit dem dichten schwarzen Haar, das ihnen am ganzen Körper wuchs, und den wuchtigen Hauern, die aus ihren Unterkiefern ragten, sahen Orks fast aus wie zweibeinige Wildschweine. Es ließ sich auch nicht vermeiden, Haare im Mund zu haben, wenn man sie biß. Orks waren wirklich nicht die idealen Opfer für einen Vampir. Ein Orkvampir würde aus diesem Kerl jedenfalls nicht werden, dachte Zerwas und schleuderte in hohem Bogen den abgetrennten Kopf in den Fluß.
Vorsichtig blickte der nackte Vampir durch die angelehnte Tür ins Innere des Torhauses. Drei Orks saßen beieinander, erzählten sich Jagdgeschichten und tranken dabei. Über eine große Winde konnte hier ein Fallgitter herabgelassen werden, um den Torbogen gegen Angreifer zu schützen.
Wenn er die Kette auf der Winde mit einem wuchtigen Hieb durchtrennte, würde das Gitter herabstürzen. Wie der Mechanismus zu blockieren war, konnte er nicht erkennen. Er mußte also die Kammer besetzen und verhindern, daß die Orks sie zurückerobern konnten, bevor die Rebellen den inneren Burghof gestürmt hatten. Weil das Tor so leicht zu blockieren war, hatte man darauf verzichtet, auch die schweren Torflügel zu verschließen.
Wieder musterte der Vampir die Orks. Einer von ihnen hatte sein strähniges Haar zu federgeschmückten Zöpfen zusammengeflochten. Er wirkte muskulös und gewandt. Auf diesen Krieger würde er aufpassen müssen! Prüfend wog Zerwas sein Schwert in der Hand. Eine prächtige Waffe aus einem dunklen, fast schwarzen Metall. Die Klinge war geflammt, und die Enden der vergoldeten Parierstange zeigten zwei Drachenköpfe. Das fast anderthalb Schritt lange Schwert war so ausbalanciert, daß man es sowohl mit einer als auch mit beiden Händen führen konnte. Im engen Wachraum würde er aufpassen müssen, um nicht ausmanövriert zu werden. Eine so große Waffe war hier von Nachteil. Trotzdem war es an der Zeit, ›Seulaslintan‹ Blut kosten zu lassen. Zerwas meinte zu spüren, wie sich die Klinge vor Begierde zu töten und die Seelen der Opfer zu verschlingen, regelrecht in seinen Händen wand. Mit einem Krachen trat der Vampir die Tür auf und stand im Wachraum. Erschreckt starrten die Orks ihn an. Dann griffen sie nach ihren Waffen, doch für den ersten war es bereits zu spät. Mit einem tödlichen Pfeifen schnitt ›Seulaslintan‹ durch die Luft und fuhr dem vordersten Ork, noch während er aufsprang, tief in den Leib. Zerwas trat ihm in den Rücken und riß die Klinge aus dem toten Gegner. Die beiden anderen schrien mittlerweile nach Leibeskräften Alarm. Der Tisch, an dem sie eben noch zusammengesessen hatten, stand nun zwischen ihnen und dem Vampir. Der Ork mit den Zöpfen gab seinem Kameraden ein Zeichen. Sie würden versuchen, ihn von beiden Seiten gleichzeitig anzugreifen, dachte Zerwas und ließ seine Klinge hin- und herpendeln, um mal den einen und dann den anderen zu bedrohen. Mit einem Kampfschrei griffen beide gleichzeitig an.
Zerwas sprang auf den Tisch und hieb im nächsten Augenblick dem einen Ork die Waffe aus der Hand. Mit einem raschen Blick über die Schulter, erkannte er, wie der Krieger mit den Zöpfen mit seiner Axt ausholte, um ihn von den Beinen zu holen. Zerwas machte einen halsbrecherischen Sprung nach vorne, warf das schwere Schwert so nach oben, daß es mit der Spitze in einem der Deckenbalken stecken blieb und landete auf der anderen Seite des Tisches. Krachend fuhr die Axt seines Gegners in die Tischplatte.
Doch schon war der zweite Ork wieder um den Tisch herum und bedrohte Zerwas mit dem Schwert, das er mittlerweile wieder aufgehoben hatte.
Der Vampir zog seine immer noch zitternde Waffe aus dem Deckenbalken und hielt den Gegner auf Abstand. Auch der Zopfträger hatte seine Waffe wieder befreit und suchte nach einer Lücke in der Deckung des Vampirs. Wieder riefen beide Orks lauthals Alarm. Vom anderen Hof waren ein lautes Kettenrasseln und ein dumpfer Aufschlag zu hören. Die anderen Rebellen mußten das Haupttor gestürmt und die Zugbrücke herabgelassen haben.
Kurz blickten die beiden Orks sich erschreckt an, Zerwas nutzte die Gelegenheit. Mit einem Schrei stürzte er vor, holte mit der Klinge aus und führte einen Schlag von der Seite. Sein Gegner versuchte, das Schwert zur Deckung zu heben, doch die Wucht des Schlages riß ihm den Arm zur Seite. Mit einem knirschenden Geräusch glitt ihm das große Schwert zwischen die Rippen und schnitt durch Fleisch und Knochen. Der Ork war nicht einmal in der Lage zu schreien. Den entsetzten Blick auf die Klinge geheftet, ging er langsam in die Knie. Schon auf der Schwelle zum Tod, schien er zu begreifen, was ›Seulaslintan‹ ihm antat, schien zu ahnen, daß er nicht allein sein Leben verlor, sondern auch das Unsterbliche, das mit schwacher Flamme in jeder Kreatur leuchtete. Entsetzt riß er den Mund auf, griff mit den Händen nach der dunklen Klinge, um sie aus der tödlichen Wunde zu ziehen, und fiel dann kraftlos in sich zusammen.
Wie vom Blick einer Schlange gebannt, hatte der Ork mit den federgeschmückten Zöpfen den Tod seines Freundes beobachtet. Nun wich er vorsichtig vor Zerwas zurück. Der Vampir konnte sehen, wie seinem Gegner der Angstschweiß auf der Stirn stand. Immer darauf bedacht, mindestens einen Schritt Abstand zu halten, wich er weiter nach hinten zurück. Erst jetzt erkannte der Vampir, daß er seinen Gegner unterschätzt hatte. Er stand unmittelbar vor der Winde, über die die Kette des Fallgitters lief. Nur noch einen oder zwei Schritte und der Ork könnte den Hebel lösen, mit dem die Winde gesichert war.
Zerwas fluchte und ließ sein Schwert fallen. Völlig verblüfft starrte der Ork ihn an. Mit dem Fuß stieß der Vampir die Waffe in eine Ecke des Raums. Es klappte! Sein Gegner hatte die Winde vergessen. Weit mit der Axt ausholend, stürzte er auf ihn zu. Geschickt wich Zerwas zur Seite aus, konnte aber nicht verhindern, daß der Ork im letzten Moment die Richtung änderte und ihn mit der Axt streifte. Für einen Augenblick klaffte ein langer, schmerzender Schnitt in seinem Arm, doch dann begann die Wunde, sich langsam zu schließen. Sein Gegner bemerkte dies im Eifer des Gefechtes nicht. Erneut holte er mit der Waffe aus, um dem Vampir diesmal den Schädel zu spalten, doch Zerwas sprang vor und rammte dem Ork seinen Kopf in den Magen. Beide kippten nach vorne. Mit eisernem Griff versuchte der Vampir seinem Gegner die Axt zu entwinden. Der Ork war zwar bedeutend schwächer, doch sehr geschickt. Es gelang ihm, seinen Arm frei zu bekommen und die Axt wegzuschleudern.
Zerwas versuchte, ihn nun zu erwürgen. Verzweifelt wehrte sich der Ork mit der linken Hand, während er mit der rechten nach seinem Gürtel tastete, um an sein Messer zu gelangen. Mit letzter Kraft gelang es ihm, dem Vampir die Klinge in den Unterleib zu treiben. Mit lautem Aufschrei warf sich Zerwas nach hinten, kam schwankend auf die Beine und griff nach dem Messer in seinem Bauch. Die Klinge schmerzte höllisch, doch er wußte, daß eine solche Wunde ihn nicht töten konnte. Mit vor Schmerzen verkrampfter Hand griff er nach dem Heft des Dolches und riß sich die Waffe aus der Wunde. Dann mußte er sich auf die Kante des Tisches stützen. Ein breiter Strahl Blut quoll aus seinem Leib. Für einen Augenblick konnte er seinen Feind nur verschwommen sehen. Der Ork bückte sich nach der Axt und ließ ihn nicht aus den Augen, schien aber damit zu rechnen, daß er jeden Moment zusammenbrechen würde. Dann hörte die Wunde auf zu bluten, und der Schmerz ließ nach. Zerwas faßte den Dolch fester, fixierte seinen Gegner, der langsam mit erhobener Axt näher kam, um dann in fließender Bewegung den Dolch zu werfen. Für jedes Ausweichen war es zu spät. Die Klinge drang tief in die Brust des Orks ein, der entsetzt rückwärts taumelte. Fassungslos starrte er Zerwas an, der sich umdrehte, um sein Schwert aufzuheben. Als er die Klinge in den Händen hielt, aber waren Schritte vom Wehrgang zu hören. Kampflärm klang vom vorderen Hof der Garnison. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Rebellen auch das zweite Tor stürmten. Er mußte nicht mehr lange durchhalten! Das Schwert ließ ihn die Schmerzen vergessen. Auch hatten sich beide Wunden bereits vollständig geschlossen, und Zerwas fühlte sich nur etwas geschwächt. Mit zwei schnellen Schritten stand er neben der Tür zum Wehrgang. Dem ersten, der die Tür passieren wollte, hieb er ›Seulaslintan‹ in den Leib, so daß sich eine tiefe, klaffende Wunde über dessen Brust zog und der Ork schreiend in die Arme seiner Kameraden zurücktaumelte. Mittlerweile war auch Lärm von der gegenüberliegenden Tür zu hören. Krachend flog sie auf; mehrere Gestalten zeichneten sich im Türrahmen ab. Es wurde ernst!
Nun gut, dachte Zerwas, er hatte es ja nicht anders gewollt. Mit einem Schrei stürmte er zur gegenüberliegenden Tür und ließ sein Schwert über dem Kopf kreisen. Dem ersten Gegner hieb er mit einem glatten Schlag durch den Hals den Schädel vom Kopf. Doch die anderen drängten nach. Der Tote wurde in den Raum geschoben und fiel zur Seite. Die Orks hinter ihm waren mit Schwertern oder Speeren bewaffnet. Auch in seinem Rücken hörte Zerwas die Gegner näher kommen. Wieder ließ er das Schwert tödliche Kreise über seinem Kopf ziehen. Die Orks achteten sorgsam darauf, außerhalb der Reichweite der tödlichen Waffe zu bleiben. Von hinten traf ihn ein Speer in den Rücken. Zerwas zuckte herum, aber nur um im selben Augenblick von der Seite einen Schwerthieb in den Arm zu erhalten. Er mußte den tödlichen Kreis der Gegner durchbrechen. Blindlings stürmte er vorwärts und hieb dem Ork vor ihm mit einem Schlag den Speer entzwei, um ihm dann eine schwere Armwunde beizubringen.
Plötzlich ließ ein metallisches Rasseln den Raum erbeben. Zerwas blickte zur Winde des Fallgitters und sah die Kette ablaufen. Tödlich verletzt, hatte sich der Ork mit den Zöpfen gegen den Hebel des Sperrmechanismus geworfen und die Kette gelöst. Mit einem dumpfen Schlag hörte er das Gitter zu seinen Füßen auf den Torboden fallen. Vom Hof erklang lautes Fluchen. Die Orks ließen sich indessen nicht aus der Ruhe bringen. Wieder riß der Vampir das Schwert hoch und zog seine tödlichen Kreise. Einer der Orks wurde von der Klinge wie von einem schwarzen Blitz im Gesicht getroffen und stürzte gurgelnd nach hinten. Ein weiterer rammte Zerwas einen Speer in den Rücken, so daß die Spitze ihm zur Brust heraustrat. Darauf traten alle Gegner ein Stück zurück, um ihn sterben zu sehen. Die Schmerzen waren so entsetzlich, daß sie nicht einmal durch die magischen Kräfte ›Seulaslintans‹ völlig aufgehoben werden konnten.
Zerwas mußte den Speer aus der Wunde ziehen, sonst würde sie nicht heilen und der Blutverlust würde ihn immer mehr schwächen. Mit dem gehetzten Blick eines Tieres blickte der Vampir in die Runde. Die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Etwas stimmte nicht! Der Geruch von schwelendem Fleisch stieg ihm in die Nase. Der Schaft des Speeres! Er mußte aus Eschenholz sein!
Der Vampir würde an dieser Wunde sterben, wenn nicht schnell etwas geschah. Langsam verließen ihn die Kräfte. Mit einem letzten Aufbäumen warf er sich gegen die Rückwand des Wachraums. Der Aufschlag trieb den Speer noch tiefer in die Wunde. Die Spitze ragte nun auf Armeslänge aus seiner Brust; langsam ging er in die Knie. Wirbelnde Lichtkreise zuckten vor seinen Augen. Er ließ das Schwert fallen. Die Schmerzen nahmen jetzt, wo ihm die magischen Kräfte der Waffe fehlten, ein schier unerträgliches Maß an.
Gebannt starrten die Orks zu Zerwas hinüber, während er mit beiden Händen das Stück des Speerschaftes umklammerte, das aus seiner Brust ragte. Das Holz brannte wie glühendes Eisen in seinen Handflächen. Dann riß er an der Waffe. Mit einem Ruck konnte er den Speerschaft ein Stück weiter herausziehen. Einer der Orks kam mit erhobenem Schwert auf ihn zu, er wollte seinem Leiden ein Ende machen. Plötzlich blieb der Ork wie gebannt stehen. Zerwas blickte auf seine Hände. Sie begannen sich zu verwandeln. Er war dabei, jegliche Kontrolle über seinen Körper zu verlieren. Er fauchte die Orks an und entblößte dabei seine Fangzähne. Erschrocken wichen sie zurück. Dann zog der Vampir noch einmal mit aller Kraft an dem Speer. Endlich. glitt die Waffe ganz aus der Wunde. Ein Schwall Blut quoll hervor und Zerwas spürte, wie ihm Blut in den Mund schoß. Er mußte an sein Schwert gelangen, oder er würde sterben. Sterben! Er hatte es für unmöglich gehalten. Das wäre ihm niemals geschehen, wenn nicht dieser verfluchte Speerschaft gewesen wäre. Normale Waffen konnten ihn nicht töten! Er war ein Vampir! Ein Erzvampir! Ein Fürst der Nacht! Er spürte, wie er sich wieder in einen Menschen zurückverwandelte. Ein schlechtes Zeichen! Der Tod war ihm nahe. Er hörte ein Geräusch wie von mächtigen Flügeln. Zerwas kippte nach vorn und fiel auf sein Schwert. Ganz langsam spürte er seine Kräfte zurückkehren. Er vernahm Lärm von den Mauern rechts und links des Torhauses. Er sah, wie sich die Füße der Orks zu den Türen des Wachraums bewegten. Der Vampir rollte sich auf die Seite. Im Türrahmen vor ihm kämpfte ein großer Mann mit einem schweren Hammer. Darrag! Alles schien so weit weg zu sein. Wie in unendlicher Ferne sah er den Schädel des Orks unter einem Hammerschlag des Schmiedes platzen. Dann stand Darrag vor ihm, kniete sich nieder und strich ihm über den Kopf. »Du brauchst nicht mehr zu kämpfen. Wir haben gewonnen! Die Orks sind besiegt. Sie waren so sehr mit dir beschäftigt, daß sie uns nicht einmal daran hinderten, an Seilen über die Mauer zu klettern, als das Fallgitter heruntergestürzt war. Du bist ein Held.« Mit diesen Worten wand er ihm sanft das schwarze Schwert aus der Hand, das der Vampir noch immer umkrampfte. Er wollte aufschreien, doch wie schwarze Wellen rissen ihn die Schmerzen fort aus dieser Welt, und Zerwas sank in Ohnmacht.
Zerwas wurde von einem unerträglichen Brennen wach. Er lag im hellen Sonnenlicht auf dem Burghof. Neben ihm in langer Reihe die anderen Verwundeten der letzten Nacht. Das Schwert hatte wohl Darrag hinter dem Vampir an die Burgmauer gelehnt. Er mußte hier weg. Die Sonne würde ihn zwar nicht töten, aber weiter schwächen. Mühsam versuchte Zerwas sich aufzurichten. Er hatte nicht die Kraft, alleine zu stehen. Er mußte sein Schwert in die Hände bekommen, dann würde alles besser werden. So war es bisher jedenfalls immer gewesen. Zerwas musterte seinen Körper. Überall, wo er nicht bedeckt gewesen war, hatte sich seine Haut rot verfärbt, so wie bei einem Menschen, der im Hochsommer stundenlang der Sonne ausgesetzt war. Nur war jetzt nicht Sommer! Der Vampir sammelte alle Kräfte, um nach dem Schwert hinter sich zu langen. Wie lächerlich. Schon dazu hatte er kaum die Kraft. Mühsam näherte er seine Hand Zoll um Zoll der Klinge. Dann konnte er sie endlich mit ausgestreckten Fingern berühren. Sofort spürte er, wie neue Kraft in seinen Körper flöß. Er konnte ›Seulaslintan‹ jetzt umklammern und zu sich herüberziehen.
»Du scheinst ja wirklich richtig vernarrt in dein Schwert zu sein!« erklang eine Stimme. Darrag, der Schmied, stand vor ihm. »Gestern nacht habe ich noch gedacht, du würdest sterben. Hat dich ja ganz schön böse erwischt gehabt. Wenn ich es nicht besser wüßte, hätte ich glatt geglaubt, daß man dir diesen Speer, der unter dir lag, durch deine Brust gestoßen hat.« Darrag lachte ihn an. »Aber dann würdest du ja nicht mehr hier liegen, und wir hätten dich wie die anderen Toten heute morgen auf dem Boronsanger vor der Stadt beerdigt.«
Gequält lächelte Zerwas zurück. »Das ist wohl wahr. Ich habe gestern noch mal Glück gehabt. Plötzlich waren diese haarigen Kerle überall um mich ...«
»Du hast auch ganz gut abgeräumt!« bestätigte ihm der Schmied. »Schon jetzt erzählt man sich in der Stadt die wildesten Geschichten über dich, Henker. Du allein mußt sieben oder acht Orks getötet haben. So viele hat nicht einmal Lysandra geschafft, und sie kämpft wie ein Dämon. In der Stadt nennt man dich schon jetzt überall Zerwas der Orkentod.«
Wieder lächelte der Vampir. Dann durchlief ihn erneut eine Welle des Schmerzes. Die Wunde, die er durch den Speer mit dem verfluchten Eschenholzschaft empfangen hatte, brannte noch immer, und auch die anderen Verletzungen konnten nicht verheilen, solange er in der Sonne lag. Mühsam richtete er sich ein wenig auf. »Darrag, kannst du mich von hier wegtragen?«
Der Schmied blickte ihn irritiert an. »Ich glaube nicht, daß der Medicus das erlauben würde. Du bist schwer verletzt und sollst ruhig liegen.« »Aber die Sonne schadet meiner vornehmen Blässe.« Mit Mühe brachte Zerwas so etwas wie ein Lächeln über die Lippen. »Sieh mich doch nur an. Ich bin jetzt schon ganz verbrannt. Ich trage die Verantwortung. Ich müßte mich auf dich stützen, und du bringst mich auf die andere Seite des Hofes in den Schatten.«
Darrag schien nicht ganz überzeugt. Also machte Zerwas von sich aus einen Versuch, sich auf sein Schwert gestützt hochzustemmen, um dann den Hof zu überqueren. Noch bevor er richtig stand, wurde dem Vampir wieder schwarz vor Augen. Er sank nach vorne und fiel in die Arme des Schmiedes.
»Na schön, du sollst deinen Willen haben.« Darrag hob ihn hoch, als wäre er leicht wie eine Feder. »Wenn ich dich nicht rübertrage, würdest du dich bei dem Versuch, in den Schatten zu kommen, glatt umbringen. Wie kann man auch nur so empfindliche Haut haben!«
Noch immer hielt Zerwas sein Schwert umklammert, so wie ein Kind seine Puppe im Arm hält. »Eine schöne Waffe hast du da!« brummte Darrag. »Ich habe selber ja schon viele Schwerter geschmiedet und noch viel mehr gesehen, aber so ein Schmuckstück ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht untergekommen.«
»Du hast das Schwert in der Hand gehalten?« Ängstlich blickte der Vampir den Schmied an. »Was war das für ein Gefühl?«
»Was soll das schon für ein Gefühl gewesen sein? Die Waffe liegt sehr gut in der Hand, und ich habe mich gewundert, wie leicht sie ist. Du machst aber ein ganz schönes Aufheben um das Schwert. Ich wollte es dir nicht wegnehmen. Doch hätte ich es nicht genommen, würde es noch immer oben beim Tor im Wachraum liegen, oder irgendein Bürger hätte das Schmuckstück mitgenommen.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, erwiderte der Vampir. »Es ist nur so, daß man sagt, die Waffe sei verflucht. Es ist ein Henkerschwert, das schon vielen Menschen den Tod gebracht hat. Die Waffe ist sehr alt. Ich habe sie während meiner Dienste in Mengbilla erhalten. Niemand anders wollte sie haben. Faßt ein anderer als ein Henker diese Waffe an, so sagt man, würde ihm großes Unglück widerfahren, und zum Schluß würde er selbst durch ein Schwert sterben. Vielleicht verstehst du nun, warum ich mir Sorgen mache.«
Der Schmied blickte ihn an und dann zu dem Schwert. »Was für ein Glück, daß ich nicht alle Ammenmärchen glaube.« Er zuckte mit den Schultern. Seine Stimme hatte etwas unsicher geklungen. Zerwas war überzeugt, daß Darrag in Zukunft diese Waffe nicht mehr berühren würde. Gerade weil er ein Schmied war, mußte er wissen, daß diese Geschichten mehr waren als nur Ammenmärchen und daß verfluchte Schwerter nicht allein in der Phantasie alter Frauen und verschreckter Kinder existierten.
»Wie verhalten sich denn die Bürger?« wollte Zerwas wissen.
»Ein Jahr lang haben sie gegen die Orks nicht die Hand erhoben, aber seit die Stadt befreit ist, tut jeder so, als sei er schon immer der größte Widerstandskämpfer gewesen. Die Freischärler, die hier vor ein paar Tagen noch von den meisten als Banditen beschimpft wurden, sind jetzt Helden der Stadt. Ohne ihre Hilfe wäre der Aufstand gescheitert, denn obwohl wir die Festung fast im Handstreich genommen hatten, leisteten die Orks unerwartet viel Widerstand. Wir haben nicht einen von ihnen lebend gefangennehmen können. Ich glaube, Lysandra und ihre Kämpfer hatten auch nie die Absicht, Gefangene zu machen.«
»Und wie soll es weitergehen?« fragte der Vampir.
»Marcian hat heute morgen eine große Rede auf dem Platz der Sonne gehalten. Er hat versichert, daß bereits jetzt kaiserliche Truppen auf dem Weg nach Greifenfurt seien und daß wir die Stadt nur ein paar Tage halten müßten. Außerdem hat er durchblicken lassen, daß es für die Bürger besser sei, sich in den nächsten Tagen von ihrer besten Seite als treue Untertanen zu zeigen, weil mit einer Untersuchung der Inquisition zu rechnen sei, wer hier mit den Orks zusammengearbeitet habe und wer nicht. Und ich kann dir sagen, Geschäfte mit den Besatzern hat hier fast jeder gemacht. Aber was rede ich? Das ist dir ja wohl auch nicht entgangen. Im Moment sind fast alle, die laufen können, damit beschäftigt, die Grube auf dem Platz der Sonnen wieder zuzuschütten. Marcian will dort so schnell wie möglich einen Schrein zu Ehren des Praios errichten lassen, um die Bluttaten, die dort von den Orks im Namen Tairachs begangen wurden, vergessen zu machen. Auch soll eine Tafel mit den Namen der Helden, die in der letzten Nacht bei der Befreiung der Stadt ihr Leben gelassen haben, errichtet werden. Ich bin froh, daß du nicht auch auf dieser Tafel verewigt wirst. Heute morgen war ich schon einmal bei dir, und da warst du noch näher bei den Toten als bei den Lebenden.«
Zerwas lächelte den Schmied an. Er fühlte sich schon besser. Es tat ihm gut, aus der Sonne gekommen zu sein, und die Kraft seines Schwertes trug dazu bei, seine Heilung zu beschleunigen. Nur die Speerwunde würde lange brauchen, bis sie gänzlich ausheilte. Er mußte zurück in seine geheime Kammer, um sich dort in Ruhe auszukurieren. Vielleicht sollte er auch jemanden töten. Frisches Blut würde ihn stärken und die Heilung vorantreiben.
Darrag stand auf. »Ich muß zurück zu meinen Leuten. Heute nacht soll ein großes Fest gefeiert werden. Die ganze Stadt ist schon in Aufruhr. Man schmückt die Straßen mit Girlanden aus Zweigen und Frühlingsblumen. Mehr als ein Dutzend Ochsen sind geschlachtet worden und drehen sich schon über dem Feuer, und ich soll bis Sonnenuntergang für den Wirt vom Löwen noch einen Spieß fertig machen, auf den sechs Hühner passen. Also, sieh zu, daß du schnell wieder auf die Beine kommst. Dein Sonnenbrand ist jedenfalls wieder weg. Schau nur, du hast schon wieder so blasse Haut, wie ich sie seit jeher von dir kenne.« Der Schmied klopfte Zerwas noch einmal auf die Schulter und ging quer über den Burghof zum Tor. Noch einige Stunden und er würde wieder laufen können, überlegte der Vampir. Er mußte hier weg. Der Medicus durfte ihn nicht noch einmal untersuchen. Es ließ sich nicht verhindern, daß dem Arzt dabei auffallen würde, wie ungewöhnlich schnell die Wunden heilten. Er würde Fragen stellen. Fragen, auf die es keine Antworten gab. Vielleicht würde der alte Mann auch Verdacht schöpfen. Darauf konnte er es nicht ankommen lassen. Zerwas gehörte zu den Helden der letzten Nacht, und als Held hatte man auch etwas Spielraum, sich ungewöhnlich zu benehmen. Er würde in sein Versteck verschwinden und erst wiederkommen, wenn er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war.
Marcian hatte schon am Nachmittag nach dem Sieg die Gemächer des Sharraz Garthai im Bergfried bezogen. Was wohl aus dem Ork werden mochte? Der Inquisitor konnte sich nicht vorstellen, daß man dem Verweser der neuen Provinz den Verlust der wichtigsten Stadt verzeihen würde. Auf der anderen Seite hatte auch der Schwarze Marschall erst vor wenigen Wochen eine wichtige Schlacht verloren, und den Kopf hatte ihn das nicht gekostet. Noch heute morgen erzählte er den Bürgern, daß es nur noch wenige Tage, im schlechtesten Fall vielleicht zwei Wochen, dauern würde, bis der Prinz mit seiner Armee vor den Toren der Stadt stünde. Er wußte es natürlich besser. Der Schwarze Marschall hatte sich längst von der Niederlage erholt, und seine Truppen waren immer noch stark genug, um der Armee des Prinzen die Stirn zu bieten. Die Kaiserlichen würden Glück und einen großen Sieg brauchen, um bis nach Greifenfurt durchzubrechen. Diesen Sieg mußte es spätestens bis Anfang des Sommers geben, denn sonst würden die Bauern und auch viele Adlige die Armee des Prinzen verlassen, um zu Hause die Ernten einzubringen. Nur mit den Berufssoldaten aus den Garnisonen war die Armee zu klein, um einen Angriff auf die Orks zu wagen. War nicht zum Monat Praios eine Entscheidung gefallen, konnte es sein, daß Greifenfurt erst im nächsten Frühling befreit würde. In diesem Fall wären Marcian und alle Bürger in der Stadt verloren. Ohne die Freischärler Lysandras hatte er kaum brauchbare Kämpfer. Die Frage war auch, wie lange er sie in der Stadt behalten konnte. Die Amazone hätte am liebsten schon heute nachmittag Greifenfurt wieder verlassen. Sie schien die Gefahr zu ahnen, der sie und ihre Leute hier ausgesetzt waren. Würde Greifenfurt belagert, gäbe es kein Entkommen mehr. Auch wenn er ihre Grausamkeit nicht mochte, mußte Marcian schon zugeben, daß ihm Lysandras Fürsorge für die Kämpfer an ihrer Seite gefiel. Von den eigenen Leuten wurde sie geradezu vergöttert. Der Inquisitor mußte sie hier in der Stadt behalten! Sie gehörte zu denjenigen, zu denen die Leute auch in hoffnungsloser Lage noch aufschauten. Ihr würde man bis zuletzt glauben, daß es noch die Möglichkeit der Rettung gab. Er hingegen würde sich mit der Zeit unbeliebt machen. Er mußte alle unangenehmen Aufgaben übernehmen. Mußte für Recht und Ordnung sorgen, mußte falsche Versprechungen machen und die Lebensmittel der Händler enteignen, falls es zu einer Belagerung kam. Es würde nicht lange dauern, bis er kaum weniger verhaßt sein würde als die Orks. Aber das war für einen Inquisitor nichts Neues. In diesem Amt hatte man keine Freunde. Wieder dachte Marcian an Lysandra. Sie mußte in der Stadt bleiben! Noch vorhin auf dem Fest hatte sie gesagt, daß sie morgen am späten Nachmittag mit ihren Leuten die Stadt verlassen wollte. Gutes Zureden nutzte nicht. Also mußte sie so krank werden, daß sie einen Arzt brauchte. Dann konnten sie nicht in die Wälder zurück. Der Inquisitor hatte auch Gifte unter seinen vermeintlichen Heilsalben versteckt, die er zur Tarnung als Augenarzt mit in die Stadt brachte. Für den Anfang wäre es vielleicht gut, Lysandra mit einem schweren Brechdurchfall und Fieber ans Bett zu fesseln. Morgen wollte er sie zum Frühstück im Palas der Burg treffen. Das war die Gelegenheit! Es würde auf jeden Fall vor dem Aufbruch wirken. Vielleicht würden sogar noch mehr Freischärler aus den Wäldern kommen, wenn erst einmal bekannt war, daß die Amazone auf Dauer ihr Lager in der Stadt aufgeschlagen hatte.
Der Vampir schlenderte über die Stadtmauer. In ein oder zwei Stunden würde es wieder Tag werden. Nur wenige Wachen waren eingeteilt. Nach dem Kampf um das Torhaus der Garnison wurde er von allen Soldaten mit Respekt behandelt. Man grüßte ihn freundlich, klopfte ihm auf die Schulter und redete hinter vorgehaltener Hand, daß er wohl über magische Kräfte verfügen müsse, da er sich so schnell von seinen Wunden erholt habe. Zerwas lächelte bitter. Wäre das nur so einfach! Seine Wunde in der Brust heilte nicht, und zu einem Medicus oder zu einem Zauberer konnte er damit nicht gehen, ohne sich zu verraten. Selbst die Kraft seines Schwertes hatte hier ihre Grenzen. Er fühlte sich immer noch schwach und würde keinen ernsthaften Kampf mehr bestehen, solange nicht etwas geschah. Er dachte wieder an die Bäckerstochter. Schon früher hatte er den Eindruck, daß sie ihm anders als anderen Männern nachschaute. Manchmal hatte er sie auch auf seinen Spaziergängen in den frühen Morgenstunden getroffen und ein wenig mit ihr geplaudert. Sie trug dann frisches Brot zu den Häusern der reichen Bürger.
Sein Weg hatte den Vampir in der Nähe des Tors gebracht. Dort lag auch das Haus des Bäckers. In der Backstube brannte bereits Licht, während es in allen Häusern ringsherum noch dunkel war. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen, und selbst die Wachen am Tor waren nicht mehr sonderlich aufmerksam.
Zerwas überlegte. Es war besser, wenn Lucilla glaubte, sie hätte ihn getroffen. Der Vampir versteckte sich in einer Gasse und beobachtete die Tür der Backstube. Er brauchte nicht lange zu warten, bis das blonde Mädchen mit einem großen Korb voller Brot auf dem Rücken aufbrach, um die Kunden ihres Vaters zu beliefern. Unauffällig folgte er ihr, hielt sich im Schatten der Häuser und überholte sie in einer Seitenstraße, um scheinbar zufällig ihren Weg zu kreuzen.
Kaum, daß sie ihn sah, rief sie: »Meister Zerwas, ich bin froh, Euch auf den Beinen zu sehen.« Mit schnellen Schritten kam sie auf ihn zu. »Ihr glaubt gar nicht, was man sich für Geschichten über Euch erzählt. Ihr gehört zu den größten Helden der Stadt, und jedermann wundert sich über Euer plötzliches Verschwinden.«
»Nun wie Ihr seht, bin ich noch hier«, entgegnete der Vampir mit gewinnendem Lächeln. »Was erzählt man sich denn über mich?«
»Manche behaupten, daß Ihr ein Streiter der Götter seid. Daß es Eure Aufgabe war, uns in höchster Not zu helfen, und daß Ihr deshalb auch wieder verschwinden mußtet, als die Garnison erobert war.«
Zerwas blickte ihr tief in die Augen. »Sehe ich aus wie ein Unsterblicher?«
Das Mädchen kicherte. »Natürlich nicht, das ist ja auch nur das Geschwätz der Dienstmägde. Andere erzählen, daß Ihr so schwer verletzt worden seid, daß Euer Leben verwirkt sei und Ihr Euch an einen abgelegenen Ort zum Sterben zurückgezogen hättet. Ich habe mir große Sorgen um Euch gemacht. Gestern mittag war ich bei Eurem Turm und habe lange geklopft, doch nichts rührte sich.«
»Nun, ich werde wohl spazieren gewesen sein, so wie jetzt. Haltet Ihr mich eigentlich auch für einen Helden?«
»O ja. Nachdem alles vorbei war, ist mein Vater in der Garnison gewesen, um zu schauen, was es dort zu sehen gab. Er hat mir von den vielen toten Orks beim oberen Tor erzählt, und daß Ihr fast alle allein erschlagen habt. Jeder in der Stadt hält Euch für einen Helden.«
»Und würdet Ihr einem Helden einen kleinen Gefallen tun?«
Das Mädchen schaute Zerwas verwundert an. Dann errötete sie. »Was wollt Ihr denn?« fragte Lucilla keck.
»Wenn Ihr mir einen Kuß geben würdet, dann wäre das mein schönster Siegeslorbeer.«
Die Bäckerstochter errötete noch mehr und wich verlegen einen Schritt zurück. »Ihr wißt doch, daß ich dem Sohn des Seilers versprochen bin. Mein Vater hat die Heirat schon kurz nach meiner Geburt ausgemacht.« »Gewiß, das ist mir bekannt, doch soweit ich weiß, hat ein Kuß noch keine Jungfrau entehrt. Ihr hättet die Macht, mich für einen Augenblick den Schmerz meiner Wunden vergessen zu lassen. Und wenn Ihr erlaubt, würde ich ein Pfand von Euch in meinem nächsten Kampf tragen. Wißt Ihr eigentlich, daß Ihr ein wunderhübsches Mädchen seid? Für Euch zu sterben, wäre der schönste Tod, der einen Helden treffen könnte. Für einen Kuß von Euch würde ich alle Dämonen der Niederhöllen fordern.« Zerwas machte einen Schritt auf das Mädchen zu und blickte sie schmachtend an.
Lucilla wich nicht weiter zurück.
»Laßt uns in eine dunkle Gasse gehen«, erwiderte die Bäckerstochter. Zerwas folgte ihr ein Stück. Dann fragte er: »Vielleicht sollten wir zur Südmauer in den Rondratempel gehen. Er ist verlassen, seit die Orks die Stadt besetzt haben.«
Lucilla blickte ihn zweifelnd an. »Glaubt Ihr nicht, daß die Göttin uns zürnen könnte?«
»Sicher nicht. Wir brauchen ja auch nicht das Heiligtum zu betreten. Schon der Hof vor dem Tempel ist von der Straße her nicht mehr einzusehen.«
»Worauf wollt Ihr hinaus? Mein Vater würde mich in Schimpf und Schande aus dem Haus jagen, wenn ich meine Jungfräulichkeit verliere.«
»Glaubt Ihr nicht, daß Euer Vater lieber einen Helden zum Schwiegersohn hat als den Bengel, den ein einfacher Seiler in die Welt gesetzt hat. Macht Euch keine Sorgen, ich werde mit ihm reden, und Ihr sollt eine Morgengabe von mir erhalten, wie sie diese Stadt schon seit Generationen nicht mehr gesehen hat«, wieder lächelte der Vampir. »Wißt Ihr, Lucilla, seit ich Euch das erste Mal morgens so allein auf der Straße gesehen habe, geht Ihr mir nicht mehr aus dem Sinn.« Das war nicht einmal gelogen, dachte Zerwas. »Ich verzehre mich nach Euch. Ihr habt in mir ein Feuer entfacht, wie ich es noch nicht kannte.«
Lucilla lächelte verlegen. Sie schritten durch das Tor, das den Rondratempel von der Straße abschirmte. Alles war ruhig. Es würde noch mehr als eine Stunde dauern, bis die Sonne aufging. Zerwas blickte sich um. »Niemand kann uns sehen. Bitte erfüllt mir meinen Wunsch, und noch heute nachmittag werde ich mit Eurem Vater über unsere Hochzeit sprechen.«
Lucilla beugte sich vor. Schüchtern berührte sie seine Lippen. Zerwas griff in ihr langes, blondes Haar und beugte ihren schlanken Körper zurück. Sie mochte vielleicht gerade sechzehn Jahre sein und stand noch auf der Schwelle zwischen Mädchen und Frau. Sie duftete köstlich. Unverbraucht, unschuldig. Zerwas war sich sicher, daß sie noch nicht die wahren Freuden der Liebe kennengelernt hatte. Fester preßte er ihren jungfräulichen Körper an sich. Lucilla stöhnte. Ein bislang unbekanntes Gefühl schien in ihr zu erwachen. Sie war so voller Jugend und Kraft. Zerwas überschüttete sie mit Küssen. Vergrub seinen Kopf in ihrem köstlich duftenden Haar. Seine Zunge streichelte ihren Hals. Wieder stöhnte das Mädchen.
Der Vampir spürte, wie er sich verwandelte. War er eben noch erregt, so beherrschte ihn jetzt allein der Gedanke an ihr warmes Blut. Wieder liebkoste er ihren Hals. Heftiger jetzt als beim ersten Mal. Seine scharfen Zähne ritzten ihre Haut. Ein Tropfen Blut benetzte seine Lippen. Eine tierische Gier übermannte ihn. Er brauchte mehr. Ihr Blut bedeutete sein Leben! Er biß zu. Erschrocken gab das Mädchen einen spitzen Laut von sich. Doch dann ließ sie sich in seine Arme zurücksinken. Er wußte, daß seine Bisse keine Schmerzen bereiteten, wenn man sich nicht wehrte. Sie würde langsam entschlafen.
Der Vampir wischte sich mit der Hand über den Mund. Lucillas Blut war köstlich gewesen. So wie nur das Blut einer Jungfrau sein konnte. Mit einem Anflug von Bedauern blickte er auf den leblosen Körper zu seinen Füßen. Nie mehr würde sie die Freuden einer Liebesnacht erfahren. Der Sohn des Seilers mußte sich nach einer neuen Braut umschauen. Nun galt es, die verräterischen Spuren an ihrem Hals zu beseitigen. Zerwas griff nach dem Messer an seinem Gürtel. Es war mühselig, auf diese Weise ihr Haupt vom Körper zu trennen, und es kostete viel Kraft, das Messer durch ihre Nackenwirbel zu treiben. Schließlich gab der Knochen mit einem trockenen Knacken nach, und das Haupt des Mädchens rollte beiseite. Noch immer sah sie schön aus. Ihr Gesicht war wie in Trance verzaubert. Zerwas haßte sich dafür, ein so wunderbares Wesen vernichtet zu haben. Vielleicht hätte sie ihn wirklich lieben können? Doch das war nicht sein Weg. Er mußte nun darüber nachdenken, wie er den Tod des Mädchens den Orks anlasten konnte. Er würde sie skalpieren! Die Zholochai, einer der mächtigsten Stämme der Schwarzpelze, verfuhren so mit erschlagenen Gegnern. Vielleicht würde man glauben, daß ein einzelner Ork nachts über die Stadtmauer gekommen sei, um so seine Mannbarkeit unter Beweis zu stellen. Jedenfalls würde man niemandem, außer vielleicht Lysandras Freischärlern, eine solche Tat zutrauen.
Zerwas beugte sich über Lucillas Haupt und setzte sein Messer an ihrer Schläfe an. Das Mädchen starrte ihn mit toten blauen Augen an. Er kam sich sehr schäbig vor. Das nächste Mal würde er niemanden mehr töten, den er kannte. Sein Messer durchschnitt ihre Kopfhaut. Mit einem letzten Ruck trennte er ihr das Haupthaar vom Schädel und blickte schaudernd auf die schreckliche Wunde. Er mußte nun gehen. Keiner durfte ihn hier sehen. Das Haar des Mädchens versteckte er unter seinem Wams. Er würde es in seinem Turm im Kamin verbrennen. Schon jetzt spürte er, wie sich die Wunde in seiner Brust schloß. Das Opfer des Mädchens war nicht vergebens gewesen.
Vorsichtig schlich er durch die dunklen Gassen. Mit dem ersten Hahnenschrei erreichte er den verfallenen Türm, in dem er schon vor einem halben Jahr sein Quartier bezogen hatte. Derselbe Platz, den er schon einmal vor mehr als dreihundert Jahren bewohnt hatte.