5

»Herr Oberst, Herr Oberst! Aufwachen!« Wieder hämmerte die Wache mit der Faust gegen die schwere Eichentür. Schlaftrunken rieb sich Marcian die Augen. In seinem Arm lag Cindira. Lancorian, dem alten Zweifler, war es doch noch gelungen, ihr das Leben zu retten. Er hatte seine ganze Kraft in das Mädchen fließen lassen, hatte versucht, ihr auf magische Weise das Blut wieder zu ersetzen, das sie verloren hatte. Später hatte der Zauberer ihm erzählt, wie er selbst dabei die Kälte des Todes zu spüren bekam. Boron, der Herrscher über Leben und Tod, duldete nicht, wenn ihm Sterbliche ins Handwerk pfuschten. Und Lancorian hatte nach dieser Heilung selbst lange gebraucht, um wieder zu Kräften zukommen.

Rein äußerlich war Cindira völlig wiederhergestellt. Nicht einmal eine Narbe war auf ihrer Schulter zurückgeblieben; nur kam sie Marcian jetzt etwas stiller und in sich gekehrter vor. Aber er mochte sich auch irren. Schließlich kannte er das Mädchen ja kaum.

Ein erneutes Klopfen an der Tür riß Marcian aus seinen Gedanken. Vorsichtig befreite er sich aus der Umklammerung des schlafenden Mädchens, nahm ein Bettlaken und ging zur Tür. Dort erwartete ihn ein aufgeregter Wachposten. »Herr, ihr müßt sofort mit mir in den Palas kommen. Wir haben endlich Nachricht vom kaiserlichen Heer. Dort wartet eine Baronin, die sich zu uns durchschlagen konnte.«

Einen Augenblick starrte Marcian den Mann fassungslos an. Er konnte nicht glauben, daß es jemanden gab, der sich während der Namenlosen Tage durch die Reihen der Orks schlagen würde. Er selbst hatte für diese fünf Tage jede Operation verboten, denn nichts, was man in dieser Zeit unternahm, konnte zum Guten geraten. Die Macht des Bösen regierte, und jeder vernünftige Mensch verbarrikadierte sich in seinen vier Wänden und betete. Er hatte sich zwar auf andere Weise vergnügt, doch dabei sorgsam darauf geachtet, kein Kind mit Cindira zu zeugen. Was immer in den Tagen zwischen den Monaten Rahja und Praios gezeugt oder geboren wurde, hatte eine finstere Seele. Und ausgerechnet jetzt schaffte es ein Bote, nach Greifenfurt durchzukommen, wo seit Wochen jede Verbindung zum Prinzen abgebrochen war?

»Geh! Und hole die anderen Anführer. Ich ziehe mich um und komme gleich!« befahl Marcian der Wache.

»Die anderen sind schon unterrichtet und wahrscheinlich schon auf dem Weg.«

»Gut, Mann, dann geh auf deinen Posten zurück.« Ohne die Wache noch eines Blickes zu würdigen, lief Marcian in seine Turmkammer zurück, um sich hastig anzukleiden.


Als Marcian im Festsaal des Palas ankam, waren die anderen Anführer schon versammelt. Lysandra die Amazone, Oberst von Blautann, sowie Darrag der Schmied und Zerwas der Henker, die von den Greifenfurter Bürgern zu Milizkommandanten gewählt worden waren. Unter ihnen saß eine Frau. Sie war verletzt und machte den Eindruck, daß sie sich nur noch mit letzter Kraft aufrecht halten konnte.

Der junge Reiteroberst war der erste, der sprach: »Der Prinz ist tot.« Die Worte trafen Marcian wie ein Schlag ins Gesicht. »Das kann nicht sein! Das glaube ich nicht. Das ist ein Trick der Orks! Was glaubt ihr, warum ausgerechnet ein Bote mit so schlechten Nachrichten zu uns durchkommt? Das ist ein Trick, und ihr fallt wie die Idioten darauf herein!«

Wieder war es Oberst von Blautann, der ihm antwortete: »Diese Frau ist über jeden Zweifel erhaben. Das ist die Baronin Ira von Seewiesen, Hauptfrau in der kaiserlichen Armee und seit der Schlacht um Gareth Mitglied der kaiserlichen Leibgarde. Ihre Loyalität steht außer Frage. Außerdem ist sie keine Botin. Sie ist den Orks entkommen. Sieh sie doch nur an! Es ist ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt. Vor einigen Tagen ist sie bei einem Scharmützel mit den Orks in Gefangenschaft geraten. In demselben Gefecht hat sie auch den Prinzen sterben sehen.«

»Und wenn sie Feldmarschall Haffax persönlich wäre! Ich glaube nicht, daß der Prinz tot ist! Das können die Götter nicht zulassen! Holt Lancorian aus seinem Bett! Ich möchte, daß er ihre Gedanken liest. Einen Magier kann man nicht belügen. Vorher glaube ich ihr kein Wort.« »Ihr beleidigt mich.« Obwohl die verletzte Baronin sich nur zitternd auf ihrem Stuhl halten konnte, versuchte sie sich zu erheben. Doch mit einem Seufzer sank sie in den Sessel vor dem großen Kamin zurück. »Wenn ich nicht so schwach wäre, würde ich auf der Stelle Satisfaktion von euch fordern.«

Dieser lächerliche Ehrenkodex des Offizierskorps. Die Besten waren ständig darauf versessen, sich gegenseitig umzubringen. Argwöhnisch musterte Marcian die Frau. Sie mochte wirklich den Rang bekleiden, den Alrik von Blautann angegeben hatte. Ihr Körper war durchtrainiert, der Schwertarm muskulöser als der linke Arm, an dem sie im Kampf den Schild trug. Wie schwer sie verletzt war, konnte Marcian schlecht einschätzen. Sie sah nicht besser als diejenigen aus, die bei der hochnotpeinlichen Befragung der Inquisition lange Widerstand leisteten. Ihr Gesicht war von Schlägen entstellt, ihre Augenlider so angeschwollen, daß sie kaum noch sehen konnte. Die Nase war gebrochen und das Haar von Blut verklebt. An den Armen hatte man ihr mit Messern Hunderte von kleinen Schnitten beigebracht. Was man ihr sonst noch angetan haben mochte, konnte Marcian nur ahnen. Sie hatte sich eng in einen dunklen Umhang geschlungen, den ihr wohl einer der Wachposten überlassen hatte. Alle Soldatinnen, die er kannte, hätten sich lieber selbst umgebracht, statt lebend in die Hände der Orks zu fallen. Hinter der Kriegerin stand jetzt Lysandra. Sie hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt und wirkte auf eine Weise mitfühlend, die über bloße Betroffenheit weit hinausging. So viel Sensibilität hätte er der Amazone nie zugetraut. Marcian wandte sich um und ging zur Wache an der Tür. Leise flüsterte er dem Mann zu, dem ersten Boten zu Lancorian zu folgen und dafür zu sorgen, daß der Magier auch Kräuter und Verbandszeug mitbrachte. Dem zweiten Türwächter trug er auf, Wasser und Wein zu holen. Dann wandte Marcian sich wieder um. »Laßt uns in Ruhe miteinander reden. Ein kühler Trunk wird uns allen dabei gut tun. Diese Nachricht ist zu wichtig, um sie einfach ungeprüft zu glauben. Ich hoffe, Ihr könnt mir mein Mißtrauen verzeihen, Baronin.«

Die Kriegerin gab keine Antwort. Statt dessen starrte Lysandra den Inquisitor an.

»Vielleicht könnt Ihr mir selbst erklären, auf welch verschlungenen Wegen Ihr durch die Linien der Orks bis nach Greifenfurt gekommen seid.« Marcian blickte die Baronin herausfordernd an.

Stolz straffte sich die Frau, lehnte den Kopf an den lederbezogenen Rücken des Sessels und schaute Marcian fest ins Gesicht. Langsam und stockend trug sie ihre Geschichte vor:

»Es war am 26. Tag des Monats Rahja, als Prinz Brin, nur begleitet von seiner Leibwache, aufbrach, um eine Stellung des Zweiten Garether Freiwilligenregiments am Nordrand des Reichsforstes rund fünfzig Meilen von hier zu inspizieren. Kurz bevor wir das Lager erreichten, gerieten wir auf einer Lichtung in einen Hinterhalt. Bogenschützen der Orks hatten sich im Dickicht versteckt. Mit einigen der Leibwächter galoppierte ich auf die heimtückischen Schützen zu. Der Prinz blieb ein wenig zurück. Doch kaum hatten wir die Schwarzpelze erreicht, wurde Lärm vom anderen Ende der Lichtung laut. Ein zweiter Trupp Orks brach hervor. Ich sah, wie der Prinz von seinem Pferd stürzte und den Feinden fast vor die Füße fiel. Ich versuchte, mein Pferd herumzureißen. Dann traf mich irgend etwas am Kopf. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie Prinz Brin von Orks mit blitzenden Klingen umgeben war. Hinter ihm holte einer mit seiner Axt aus, um ihm die Waffe in den ungeschützten Rücken zu treiben. Alle Leibwächter waren zu weit fort, um Brin noch beizustehen. Ich wollte ihn warnen, doch in diesem Augenblick traf mich selbst ein schwerer Schlag. Dann erinnere ich mich für lange Zeit an gar nichts mehr.«

Betroffen schauten sich Marcian und seine Offiziere an. Sie alle kannten Brins selbstlosen Mut; seine Angewohnheit, mit viel zuwenig Wachen auszureiten, und die Art, wie er stets in der ersten Reihe kämpfte, ohne dabei Rücksicht auf sein Leben zu nehmen. So hatte er die Herzen seiner Soldaten erobert, denn jeder wußte, daß der Prinz niemals einen Mann oder eine Frau in eine Gefahr schickte, der er sich nicht auch selbst ausliefern würde. Die Geschichte der Baronin klang glaubwürdig. »Und was geschah dann mit Euch?« unterbrach Marcian das Schweigen.

Die Kriegerin setzte einen Becher mit Wein ab, um ihre Erzählung wieder aufzunehmen. »Als ich erwachte, saß ein in Felle gehüllter Mann neben mir. Ich lag in einem Lederzelt, umgeben von Räucherpfannen, in denen Kräuter brannten. Zunächst glaubte ich, vielleicht von einem Jäger, der mich im Wald gefunden hatte, gepflegt zu werden. Doch dann bemerkte ich, daß auch Orks im Zelt waren. Der Mann an meiner Seite war ein Verräter. Er versuchte, mir Milch zu trinken zu geben, und erklärte mir, daß ich fast einen Tag und eine Nacht ohne Bewußtsein gewesen sei. Mein Kopf schmerzte höllisch. Nach seinen Worten war ich die einzige Überlebende des Gefechtes auf der Lichtung.«

Für einen Moment hielt die Baronin inne. Tränen rannen ihr über die geschundenen Wangen, als sie stockend weiter erzählte: »Er sagte, der Prinz sei tot. Man hätte seinen Kopf abgetrennt und nach Khezzara ins Orkland geschickt, wo er in Zukunft den heiligsten Altar des Tairach schmücken werde.«

Wieder brach die Baronin ihren Bericht ab. Lange suchte sie nach Worten. »Am nächsten Morgen wurde ich dann auf einen Karren verladen, weil ich noch zu schwach zum Gehen war. Wie sie mir schon in der Nacht gesagt hatten, sollte ich ...«

»Wer hat was in der Nacht zu Euch gesagt?« unterbrach sie Marcian. »Was verschweigt Ihr uns?«

Die Baronin blickte zu Boden. Wütend stellte sich Lysandra vor sie. »Kannst du dir wirklich nicht denken, was in der Nacht geschehen ist? Kannst du ihr nicht wenigstens ein bißchen Würde lassen? Du bist so kalt wie Stahl. Gefällt es dir vielleicht, dich am Leiden anderer zu weiden? Frag noch einmal nach dieser Nacht, du seelenloses Monstrum, und du wirst mit dem Stahl meines Schwertes Bekanntschaft machen!« Marcian schaute sich um, doch die anderen wichen seinem Blick aus. »Ich entschuldige mich bei Euch, Baronin Ira. Ich glaube, Lysandra hat recht. Was in dieser Nacht geschehen ist, ist nicht wichtig für uns. Bitte fahrt mit Eurem Bericht fort.«

»Am nächsten Morgen ist ein Ork Namens Sharraz Garthai mit fünfhundert Kriegern Richtung Greifenfurt aufgebrochen. Ihn begleiten der Druide Gamba und etliche Schamanen. Sie sollen die Stadt für den Schwarzen Marschall zurückerobern. Mich hatten sie mitgenommen, um mich während der Namenlosen Tage Tairach zu opfern. Gestern erreichten sie Orkenwall und haben dort ihr Lager aufgeschlagen. So wie ich es verstanden habe, wollen sie dort zunächst auch bleiben. Am Abend kamen sie, um mich an einen Pfahl zu fesseln. Sie gaben mir Kräuter, um meine Widerstandskraft zu erhöhen, und begannen dann mit dem Ritual, um mich langsam zu Tode zu foltern. Es sollte wohl die ganzen fünf Tage dauern. Sie haben mir Hunderte von Messerstichen versetzt, mich geschlagen und mit glühenden Eisen verbrannt. Ich dachte, ich würde wahnsinnig vor Schmerzen. In der Nacht des zweiten Tages waren die Lederriemen, mit denen man mich an den Pfahl gefesselt hatte, so von meinem Blut aufgeweicht, daß ich sie abstreifen konnte. Es gelang mir, mich zu den Pferden zu schleichen, als die Orks in ekstatischen Tänzen ihrem Gott huldigten. Dort mußte ich eine Wache töten und bin dann auf dem schnellsten Weg hierher geritten.« Die letzten Sätze von Iras Bericht hatte auch Lancorian mitgehört, der inzwischen eingetroffen war. Er bat Marcian, die erschöpfte Kriegerin in einen Nebenraum bringen zu lassen, um dort in Ruhe ihre Wunden behandeln zu können.

Als die Baronin herausgetragen wurde, wandte sich Marcian an die anderen: »Selbst wenn die Nachricht vom Tod des Prinzen stimmt, wovon ich immer noch nicht überzeugt bin, ist eines gewiß: Dieses Gerücht darf sich auf keinen Fall in der Stadt verbreiten. Die Bürger würden in Panik geraten.«

»Damit hast du sicherlich recht, nur wie sollen wir diese Nachricht auf Dauer geheimhalten. Vielleicht kommen noch andere mit der Botschaft zu uns. Vielleicht ist sie schon längst in der Grafschaft rund, und wir sind die letzten, die davon erfahren?« Zerwas strich sich über seinen kurzgeschorenen Kinnbart: »Ich glaube fast, es ist besser, den Bürgern die Wahrheit zu sagen.«

»Ich bin dagegen!« entgegnete Oberst von Blautann. »Die Rebellion würde in sich zusammenbrechen.«

»Vielleicht würde es aber auch den Kampfeswillen anstacheln«, meldete sich Lysandra zu Wort. »Der Prinz war sehr beliebt. Wir sollten Rache für seinen Tod nehmen. Ein Angriff auf die Orks, die mit ihren Ritualen beschäftigt sind, könnte sogar Erfolg versprechen.«

»Nein!« Marcian hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das alles ist eine Falle. Was meint ihr, warum sie ihr Lager in Orkenwall aufgeschlagen haben und nicht vor den Toren der Stadt? Wir müßten vierzig Meilen durch offenes Gelände marschieren, um sie anzugreifen. Da wir viele Fußtruppen mitnehmen müßten, brauchten wir zwei Tage, um bis Orkenwall zu kommen. In der Zeit hätte man uns längst bemerkt, und wir würden die Orks nicht mehr überraschen können. An Reitern, die die Strecke schneller schaffen, können wir höchstens zweihundert zusammenbringen. Das heißt wiederum, wir wären hoffnungslos unterlegen. Ein Angriff verbietet sich von selbst. Ich kann mir allerdings denken, daß die Orks wirklich glauben, daß wir durch die Nachricht vom Tod des Prinzen so kopflos werden, daß wir tatsächlich einen solchen Rachefeldzug versuchen, oder wir uns ergeben, weil der Aufstand sinnlos geworden scheint.«

In diesem Moment kehrte Lancorian in den Saal zurück. Er machte ein ernstes Gesicht. »Eines ist sicher«, verkündete der Magier, »die Baronin belügt uns nicht. So schwer verletzt, wie sie ist, war es ein leichtes, ihr meinen Willen aufzuzwingen. Und sie bleibt dabei. Sie hat den Prinzen sterben sehen.« Lancorian schilderte noch einmal die Szene, wie sie die Baronin den Offizieren erst eben erzählt hatte. »Uns bleibt nur eine kleine Hoffnung. Sie hat nicht gesehen, wie den Prinzen der tödliche Axthieb getroffen hat. Vielleicht ist er doch davongekommen. Nur so, wie sie die Lage schildert, ist die Wahrscheinlichkeit nicht groß. Auch daß die Orks sie gefangennehmen konnten, spricht dafür, daß sie die Lichtung als Sieger verlassen haben.«

Bedrücktes Schweigen herrschte unter den Offizieren. Die schwüle Sommerluft sowie die Hitze und der Rauch der Fackeln an den Wänden machten jeden Atemzug zur Qual. Im Osten war das Donnergrollen eines Gewitters zu hören. Blitze zuckten über die Graslandschaft vor der Stadt, doch der erfrischende Regen blieb aus.

»Ich habe mich entschieden«, unterbrach Marcian die Stille. »Wir müssen den Bürgern sagen, was geschehen ist.«


Marcian hatte einen trockenen Hals, und seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. Er haßte es, vor großen Menschenmengen zu reden. Lieber würde er jetzt in die Schlacht reiten. Er stand am Fenster eines der hohen Kaufmannshäuser und blickte über den Platz der Sonnen. Das gewaltige Loch, das die Orks hier ausgehoben hatten, war verschwunden. Die Bürger hatten es mit vereinten Kräften in weniger als einer Woche zugeschüttet. Auch die Sklavenbaracken waren abgerissen worden. Der Platz war nun voller Menschen. Eine unüberschaubare Masse von Gesichtern schaute erwartungsvoll zu ihm herauf. Die Greifenfurter wußten, daß er eine wichtige Rede zu halten hatte, doch worum es ging, ahnten sie nicht. Das Gerücht von der Reiterin, die sich in der letzten Nacht zum Andergaster Tor gerettet hatte, hatte noch nicht die Runde gemacht. Marcian schritt noch einmal ins Zimmer zurück und griff nach der Zinnkaraffe mit Wein. Ein letzter Schluck. Der Wein würde vielleicht ein wenig seine Zunge lösen. Die Hand, mit der er den Pokal zum Mund führte, war naß von Schweiß. Nun mußte er beginnen. Vom Platz war schon ein unruhiges Raunen zu hören. Entschlossen schritt er zum Fenster, blickte noch einmal über die Menge, die sich auch in allen angrenzenden Straßen und Gassen drängelte. Er hob die Hand, und das Gemurmel verstummte.

»Frauen und Männer von Greifenfurt. Freischärler, Ritter und Flüchtlinge, in der letzten Nacht hat mich eine Kunde erreicht, die das Leben von uns allen verändern wird. Eine Reiterin, geschändet und gequält, erreichte die schützenden Tore eurer Stadt, die sich in den letzten beiden Wochen bereits für Hunderte anderer Flüchtlinge geöffnet haben. Der Name Greifenfurt ist gleichbedeutend mit dem Wort Hoffnung geworden. Hoffnung auf ein freies Leben ohne die Knute der Orks. Freunde, ich habe nun die traurige Pflicht, euch zu sagen, daß ein Teil dieser Hoffnung verloren ist. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Prinz Brin im Kampf gegen die Orks sein Leben verloren hat.« Marcian machte eine Pause. Ein Raunen ging durch die Menge. Wieder hob der Inquisitor die Hand, und es wurde still.

»Ich sagte, es ist sehr wahrscheinlich. Es ist nicht sicher, doch es ist meine Pflicht, euch diese Nachricht zu verkünden, bevor falsche Gerüchte die Runde machen. In der letzten Nacht ist es der Baronin Ira von Seewiesen gelungen, aus der Gefangenschaft der Orks zu fliehen. Sie gehörte zur Leibgarde des Prinzen und sah, wie er in einem Gefecht vom Pferd stürzte und von Orks umringt wurde. Sie sah ihn nicht sterben! Dann wurde sie selbst durch einen schweren Treffer ohnmächtig und geriet in die Gefangenschaft der Orks. Erst im Lager der Orks hörte sie vom Tod des Prinzen. - Ich glaube, daß dies alles Lug und Trug ist. Eine bösartige Intrige, um uns unsere Hoffnung zu nehmen, doch ich kann mich auch irren. Aus diesem Grund, weil ich mir selbst nicht mehr sicher bin, was wahr ist und was verwirrendes Gaukelspiel unserer Feinde, kann ich nicht mehr weiter für euch entscheiden. Ich weiß, daß ich mir in den letzten Wochen als Befehlshaber dieser Stadt viele Feinde gemacht habe. Trotzdem kann ich für mich beanspruchen, vor meinem Gewissen immer recht getan zu haben und niemals eigennützig entschieden zu haben. Was ich wollte, war das Wohl des Kaiserreiches und seiner Bürger. Die Entscheidung aber, die heute zu treffen ist, kann ich nicht für euch tragen. Ich möchte nicht in meinem Namen womöglich euer Unglück verschulden.

Ich werde weiterkämpfen, denn das Kaiserreich ist für mich eine Idee, die nicht mit dem Schicksal eines einzelnen Menschen verbunden ist. Sollte der Prinz tot sein, haben wir einen Helden verloren, der sein Leben und seine ganze Kraft dem Fortbestand des Reiches geopfert hat. Doch auch wenn der Prinz tot ist, so ist sein Reich nicht verloren. Er hat es geschafft, die Gefahr von Gareth abzuwenden und die Orks fast wieder über die Nordgrenzen des Reiches hinauszutreiben. Und ich werde für dieses Ziel weiterkämpfen, für das Brin gestorben ist. Würde ich nun aufgeben, hätte ich ihn verraten. Doch dies ist die Entscheidung eines Ritters, der sein Leben seinem Land verschrieben hat. Ich kann es verstehen, wenn für euch Bürger andere Werte gelten. Mir ist wichtig, daß mein Sohn einst nicht den Nacken vor einem Orkherrscher beugen muß. Doch ich entscheide hier nur für mich allein. Ich habe keine Familie, an die ich denken muß, bin nicht dafür zuständig, hungrige Mäuler zu stopfen. Ich habe allein die Rechte und Pflichten eines Ehrenmannes! Doch für euch mag es andere Dinge geben.

Wenn ihr euch den Orks ergebt, werden sie einige von euch bestrafen, um wegen des Aufstandes ein Exempel zu statuieren. Vielleicht werden sie euch allen auch tief in die Taschen greifen, eure Hühner vom Hof stehlen und eure Silbertaler unter dem Bettkasten wegholen. Aber ihr werdet leben. Nicht das Leben von freien Ehrenmännern, aber immerhin werdet ihr nicht tot sein.

Vielleicht werden die Orks auch euren hübschen Töchtern nachstellen, und ihr werdet ihre Bastarde auf den Schößen eurer Frauen sitzen sehen. Aber ihr werdet leben und nicht tot sein!

Nun, für mich kann es ein Leben ohne Ehre nicht geben, auch wenn es meine letzte Freiheit sein sollte, ehrenhaft zu sterben. Ich werde jetzt mein Schwert nehmen und in die Garnison gehen, die ich vor vier Wochen mit meinem Schwert befreit habe. Ich werde dort warten. Und wenn die Orks kommen, werde ich meinen letzten Kampf kämpfen. Wenn ihr euch entscheidet, nicht zu kämpfen, so öffnet den Orks die Tore. Vielleicht werden sie euch die Rebellion dann vergeben. Weist mit den Fingern auf die Garnison und sagt ihnen, daß dort der Rebell sitzt, der für den Tod der Orks, die diese Stadt besetzt hielten, verantwortlich ist.

Ihr seid Bürger und keine Helden. Ich erwarte deshalb nicht, daß ihr euch wie Helden verhaltet. Solltet ihr mir folgen, so kann ich euch nur Elend, Hunger und Tod versprechen und die Hoffnung, daß die, die überleben, werden ein Leben in Freiheit führen können. Doch viele von euch würden die Freiheit nicht mehr sehen. Vielleicht sind sogar alle dazu verdammt zu sterben. Ich will nicht in Unfreiheit leben. Für mich ist Ehre mehr als nur ein Wort, doch über euer Schicksal mag ich nicht entscheiden. Darum gehe ich nun und warte auf eure Entscheidung. Ich sage ›Nein‹ zur Demut. Ich sage ›Nein‹ zum leichtesten Weg. Doch wenn ihr ein Überleben um jeden Preis wollt, dann sagt nun ›Ja‹ zur Sklaverei.«

Marcian drehte sich um und zeigte der Menge den Rücken. Auf dem Platz war es still geworden. Im Zimmer vor ihm standen seine Offiziere. Lysandra blickte ihn an. »Noch vor wenigen Tagen dachte ich, daß mich nichts in dieser Stadt halten könnte, die unweigerlich zur Todesfalle wird, wenn die Kaiserlichen keinen schnellen Durchbruch schaffen. Jetzt weiß ich, daß ich bleiben werde. Ich gehe mit dir, Marcian, und alle, die in diesem Raum stehen, sind mit dir einer Meinung!« Gemeinsam gingen sie die enge Stiege des Kaufmannshauses hinab, um auf den Platz der Sonne zu treten. Von draußen waren Stimmen zu hören. Vereinzelte Männer und Frauen, die »Nein!« riefen.

Als Marcian und seine Offiziere aus dem Kaufmannshaus traten, waren die einzelnen Stimmen zu Sprechchören geworden. Aus Hunderten von Kehlen ertönte ein »Nein!«

Marcian war ergriffen. Leute, die er nicht kannte, hoben ihn auf ihre Schultern. Wie ein roter Ball auf dem Meer trieb er mit seinem flammenden Umhang über die Menge der aufgewühlten Menschen und immer noch lauter wurde das »Nein«, das zum Himmel erschallte. Die dunklen Wolken des Gewitters der letzten Nacht standen noch immer wie finstere Gebirge über der Stadt.

Am Rand des Platzes befand sich Uriens. Sein zerschundenes Gesicht war zum Himmel gerichtet. Das drohende Gewitter machte ihm Angst. Und wie ein finsteres Gebet wiederholte er immer wieder die Worte: »Der Tod trägt rot. Der Tod trägt rot. Der Tod ...«


»Ich freue mich, daß du meiner Einladung gefolgt bist, auch wenn du mich nicht magst.« Gamba wies mit seiner Hand auf einen Stapel von Wolfsfellen. »Nimm Platz, Sharraz Garthai, du sollst einem ungewöhnlichen Schauspiel beiwohnen.«

»Was hast du vor, Druide? Ich habe keine Zeit für Spielereien. Die Männer sind unruhig, weil unser Opfer für Tairach entkommen ist und wir kein neues finden können. Die Priester legen das als böses Omen für das nächste Jahr aus.«

»Erinnerst du dich, daß ich dir mein Wort gegeben habe, daß uns diese Baronin nicht entkommen wird. Du wirst nun sehen, warum.«

Unbehaglich blickte sich Sharraz im Zelt des Druiden um und betrachtete die Tierschädel, die an den Zeltstangen aufgehängt waren. Schädel von Wesen, wie er sie als Jäger noch nie getroffen hatte. Schädel mit gewundenen Hornern oder mit den Reißzähnen von Raubtieren. Speere und ein Schild lehnten an der Rückwand. Ein großer kupferner Kessel stand davor. Auf den Boden aus gestampfter Erde hatte Gamba verschlungene Zeichen gemalt. Einen Stern mit sieben Zacken. Daneben einen Kreis, in dessen Mitte er stand, und viele Symbole, die Sharraz nicht erkennen konnte. Stern und Kreis waren von einem zweiten großen Kreis umgeben. Vor den Druiden steckten zehn schwarze Pfeile im Boden. Gamba hatte sich mit Amuletten behängt und trug wieder sein Bärenfell. Obwohl es draußen heiß und staubig war, herrschte im Zelt eine beinahe schon angenehme Kälte. Eine Gänsehaut kroch Sharraz über die nackten Arme, und seine Haare stellten sich wie kleine schwarze Borsten auf.

»Du wirst gleich ein wenig Mut brauchen, Sharraz. Für einen Krieger wie dich ist das doch kein Problem, oder? Nun, was immer auch passiert, berühre auf keinen Fall die Zeichen auf dem Boden! Selbst dann nicht, wenn ich dich gleich darum bitten sollte! Hast du das verstanden?«

Der Ork nickte. »Was soll das, Gamba? Was für ein Spiel treibst du mit mir?«

»Setz dich hin und sieh!« Der Druide begann seinen Oberkörper hin und her zu wiegen und unverständliche Worte zu flüstern. Immer und immer wieder murmelte Gamba dieselben Worte, dann schrie er einzelne Silben, um bald wieder in einen Flüsterton zu fallen.

Plötzlich war er still. Sharraz hatte den Eindruck, daß es dunkler im Zelt geworden war. Die wenigen Kerzen waren kurz vor dem Verlöschen. Es wurde noch kälter. Sharraz fühlte sich aus der Dunkelheit heraus beobachtet. Er wollte sich erheben und gehen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Minuten zogen sich ins Unendliche. Der Druide stand völlig bewegungslos, den Kopf in den Nacken gelegt. Eine Windbö ließ das Zelt erbeben. Ganz in der Nähe schlug ein Blitz ein. Der Boden erzitterte, und Sharraz konnte aufgeregtes Rufen aus dem Lager hören. In dem Stern mit den sieben Zacken erhob sich eine Säule aus schwarzem undurchsichtigen Rauch. Bizarre Laute waren zu hören. Erst wie ein Lachen, dann wie das Wiehern eines Hengstes, um schließlich wie ein schmerzhaftes Stöhnen zu klingen. Der Rauch verfestigte sich zu einer Gestalt. Ein großes Wesen auf Pferdebeinen, mit dem Körper eines Kriegers und dem Kopf eines schwarzen Hengstes stand in dem Bannkreis. Die Augen des Geschöpfes leuchteten wie glühende Kohlen, und aus seinem Rücken bogen sich fünf lange Hörner, von denen etwas Dunkles wie Blut herabtropfte.

»Altijar, Herr der Ränke«, hörte Sharraz die heisere Stimme des Druiden flüstern. Die Gestalt wandte sich um und blickte Gamba an. Sie versuchte, ihn zu greifen, doch plötzlich zuckten Blitze aus blauem Licht um ihre klauenbewehrte Hand. Mit einem Schmerzenslaut zog das Geschöpf sich zurück und versuchte, an einer anderen Stelle aus dem siebengezackten Stern auszubrechen. Doch vergebens. Ein metallischer Geruch zog durch das Zelt.

»Altijar, erhöre mich!« erklang wieder die Stimme des Druiden. »Ich möchte dir ein Opfer bringen. Ich will dir zehn Leben schenken. Siehst du die Pfeile im Boden stecken?«

Statt zu antworten, versuchte das Wesen, wieder aus dem Stern auszubrechen. Immer wieder rannte es gegen den Bannzirkel an. Sharraz rutschte so weit zurück, wie er nur konnte.

»Altijar, sei weise, besiege deinen Zorn! Was hast du schon von mir? Ich biete dir zehn Leben statt des einen, das du mir nehmen kannst. Komm zu mir und überzeuge dich von der Wahrhaftigkeit meiner Worte!«

Gamba mußte wahnsinnig sein! Er durchbrach mit seinem Fuß den Schutzzirkel und wischte auch eine Spitze des siebenzackigen Sterns aus. Wieder wieherte die Gestalt wie ein Hengst, dann zerlief sie zu schwarzem Rauch und umhüllte den Druiden.

Als der Rauch sich verzogen hatte, stand Gamba allein in den Zirkeln und starrte Sharraz mit roten Augen an. »Komm zu mir!« sprach er mit Donnerstimme, doch Sharraz blieb, wo er war. Das war nicht mehr Gamba, was er dort vor sich sah. Das mochte wohl noch der Körper des Druiden sein, doch in ihm herrschte nun etwas, das noch finsterer war als die ohnehin schon verlorene Seele Gambas. Dem Befehl nachzukommen hieß, den Kreis zu durchbrechen und sich und seine Leute diesem Geschöpf auszuliefern. Die roten Augen seines Gegenübers schienen sich Sharraz tief in den Kopf zu bohren. Der Ork zitterte, und blanker Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. »Komm zu mir, und ich erlöse dich von allem Übel!« erklang es wieder hämisch aus Gambas Mund.

Sharraz nahm all seinen Mut zusammen und versuchte, dem Blick standzuhalten. Vergeblich! Er starrte auf den Boden, um der Macht der roten Augen auszuweichen. Sein Blick fiel auf die Bannzeichen im Staub. Die gewundenen Linien schienen ihm Kraft zu geben. Nun fand sein Wille zum Widerstand endlich Worte. Er brauchte lange, um das »Nein!« seinen Lippen abzuringen. Dann fügte er hastig, gleichsam als Schutzformel hinzu: »Weiche von mir, elender Dämon!«

Mit einem Schrei des Zorns rannte das Wesen in der Gestalt Gambas erneut gegen den Schutzzirkel an. Doch vergebens! Der Zauber, den der Druide in die Symbole auf dem staubigen Boden gelegt hatte, hielt der Macht des tobenden Dämons stand. Dann wurde die Gestalt in den Zirkeln wieder ruhig. Sie blickte auf die Pfeile, die im Boden steckten. Dann fixierten die bösen roten Augen erneut Sharraz Garthai. »Nicht ich bin hier der Verdammte. Ich werde noch sein, wenn deine Knochen zu Staub zerfallen sind, und selbst wenn die Schamanen, die ihr Wissen von einem auf den anderen weitergeben und die sündige Schrift meiden, deinen Namen vergessen haben werden. Dein Schicksal steht fest. Ich habe Tag und Art deines Todes bestimmt, und du wirst mir nicht entgehen, denn mein ist die Rache!«

In einer drohenden Geste hob der glutäugige Gamba die Arme und begann mit einem unverständlichen und bedrohlichen Singsang. Wie von Geisterhand geführt, lösten sich die schwarzen Pfeile aus dem Boden und hoben sich von einem unheimlichen Glanz umgeben in die Luft. Immer lauter wurden die Beschwörungen des Wesens, das sich Gambas Körper bemächtigt hatte. Immer durchdringender wurde das Licht, das von den Pfeilen ausging. Schließlich überschlug sich die Stimme in immer höher werdenden Kreischlauten, bis schließlich für Sharraz nichts mehr zu hören war, obwohl der Druide noch immer weit den Mund aufgerissen hatte und mit aller Kraft zu schreien schien. Dann schoß ihm ein Schwall Blut über die Lippen. Gamba stürzte vornüber. Wieder schlug nahe dem Zelt ein Blitz ein, und eine gewaltige Sturmbö zerrte an den Lederplanen. Danach war es still.

Sharraz war irritiert. Der Körper des Druiden ruhte sich noch immer nicht. War dies ein neuer Trick des Dämons? Wollte er, daß er nun in Sorge um das Leben des Druiden die Zirkel durchschritt? Falls das sein Plan war, hatte er sich geirrt. Sollte dieser Mensch doch sterben! Sharraz wäre es eine Erleichterung, in Zukunft den heimtückischen Gamba nicht mehr in seinem Lager zu wissen. Ein Röcheln ließ den Ork zu der Gestalt am Boden blicken. Mühsam stützte sich der Druide auf seine Hände und versuchte, sich hochzustemmen. Würgend spuckte er Blut in den Staub und drehte sich zu Sharraz um. Das glühende Rot war aus seinen Augen gewichen. »Nun, Ork, habe ich dir zuviel versprochen? War das kein eindrucksvolles Schauspiel?« krächzte er mit heiserer Stimme.

Sharraz war immer noch mißtrauisch. Er machte keinerlei Anstalten, dem Druiden zu Hilfe zu kommen. Der Mensch bückte sich indessen stöhnend nach den schwarzen Pfeilen, die auf dem Boden verstreut lagen. Prüfend wog er sie in den Händen, fing an hysterisch zu kichern und flüstere immer wieder: »Es ist gelungen, es ist gelungen ...« Dann brach sein Kichern jäh ab. Argwöhnisch musterte er einen der Pfeile, der im Gegensatz zu den anderen verschlungene weiße Zeichen trug. Gamba legte die Stirn in Falten, musterte erneut den Pfeil und fuhr mit seinen Fingerspitzen vorsichtig über die geheimnisvollen Zeichen. Dicht hinter der Pfeilspitze war eine schwarze Haarlocke um den Schaft geschlungen. Der Druide blickte zu Sharraz, und dem Ork schien es so, als habe er Mitleid. Aber mit wem? Und warum?

Nervös herrschte Sharraz ihn an: »Was soll das? Was hat das alles zu bedeuten? Was gaffst du mich so an? - Rede!«

Doch statt zu antworten, stellte Gamba eine Gegenfrage: »Was hast du Altijar gesagt?«

Ruckartig richtete der Ork sich auf. »Ich habe ihn nicht aus dem Zirkel befreit, ganz so, wie du es mir aufgetragen hast. Was ist los? Was ist mit diesem Pfeil?«

»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte Gamba vor sich hin. Dann blickte er wieder zum Ork. »Manchmal ist es leichter, nichts zu wissen, Sharraz. Ich werde dir nicht sagen, welcher Schatten von nun an über deinem Leben liegt. Du kannst deinem Schicksal nicht mehr entgehen, und die einzige Erleichterung, die ich dir noch verschaffen kann, ist Unwissenheit. Frage mich nicht mehr, was mit dir geschehen wird! Geh nun und sorge dafür, daß morgen vor Sonnenaufgang alle Reiter zum Aufbruch bereit sind. Wir werden Greifenfurt besuchen und uns holen, was Tairach versprochen war.«


Der Klang von Hörnern und Alarmrufe schreckten die Offiziere aus ihrer nachmittäglichen Besprechung auf. Gerade hatte man eifrig darüber debattiert, wie die wenigen Geschütze der Stadt aufzustellen seien, um sie möglichst wirkungsvoll gegen den bevorstehenden Angriff der Orks einzusetzen. Als man gerade nach den Waffen griff, um auf die Mauern zu eilen, erreichte ein Bote den Saal. Atemlos verkündete er, daß mehr als hundert Orks vor den Toren stünden und man forderte, den Oberbefehlshaber der Stadt zu sprechen.

Marcian blickte in die Runde und erklärte mit erzwungenem Lächeln: »Gut, laßt uns gehen! Es wäre doch unhöflich, unsere pelzigen Freunde warten zu lassen.« Mit energischem Schritt verließ er den Saal. Auf dem Hof der Burg warteten bereits gesattelte Pferde. »Wo stehen die Orks?« fragte er die Frau, die sein Pferd hielt. »Vor der Ostmauer. Leider halten sie sich außer Reichweite unserer Bogenschützen.«

Marcian riß sein Pferd herum, gab dem Tier die Sporen und jagte, dicht gefolgt von den anderen, vom Hof der Burg. In der Stadt herrschte Aufregung, ja beinahe Panik. Alles schien auf den Beinen zu sein und sich zur östlichen Stadtmauer zu bewegen. Jedem war klar, daß nun über das weitere Schicksal der Stadt entschieden wurde. Immer dichter wurden die Menschenmassen, die die Straßen blockierten und das Fortkommen mit den Pferden beinahe unmöglich machten. Ängstliche Blicke streiften Marcian. Die Bürger, die ihn gestern noch auf ihren Schultern getragen hatten, schien der Mut bereits wieder verlasen zu haben. Nur wenige wichen seinen Blicken nicht aus.

Innerlich fluchte der Inquisitor und trieb sein Pferd immer rücksichtsloser durch die Menge. Die halbe Stadt würde Zeuge sein, wie er mit den Orks verhandelte. Er mußte auf der Hut sein. Würde ihm nun ein Fehler unterlaufen, konnte alles vorbei sein.

Endlich erreichte er die Stadtmauer, sprang vom Pferd und hastete über ausgetretene steinerne Stufen zum Wehrgang hinauf. Soweit er blicken konnte, drängelten sich Soldaten und Bürger auf der Mauer. Gut zweihundert Schritt entfernt warteten die Orks. Eine langgezogene Reihe von mehr als hundert Reitern auf struppigen kleinen Ponys. Hinter ihm raunte Oberst von Blautann: »Das ist eine günstige Gelegenheit, wenn wir nun unsere Reiter versammeln, können wir sie alle erwischen.« Ruckartig drehte Marcian sich um: »Wir sollten erst hören, was sie zu sagen haben. Außerdem könnte das eine Falle sein. Keine Meile von hier wird die Ebene zu Hügelland. Wenn ich der Anführer der Orks wäre, hätte ich dort mein Fußvolk versteckt und würde nur darauf warten, mit den Reitern als Köder eine Ausfalltruppe in die Falle zu lokken.«

»Marcian hat recht«, mischte sich Lysandra ein. »So wie die Dinge stehen, können wir uns keinen Fehler leisten. Eine Niederlage direkt unter den Augen der Bürger ist das letzte, was wir brauchen können. Lassen wir den Orks lieber den Triumph, uns erfolgreich provoziert zu haben, falls es doch keinen Hinterhalt gibt, als daß wir uns in ein aussichtsloses Gefecht stürzen.«

Drei Reiter lösten sich aus der Kette der wartenden Orks. Der vordere hatte ein zerfetztes weißes Hemd an einen Speer gebunden. Ihm folgten ein massiger Krieger und ein Mensch auf einem Rappen.

»Das sind Sharraz Garthai und der Druide Gamba«, flüsterte die Baronin, die sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte und von Lysandra gestützt wurde.

Als sie bis auf Rufweite herangekommen waren, hielten die Reiter an. Der Druide erhob seine Stimme. »Ist euer Anführer nun endlich aus seinem Loch gekrochen?«

Marcian stieg auf die Zinnen der Brüstung und gab den Bogenschützen auf der Mauer ein Zeichen, ihre Waffen zu senken. Der Wind griff nach seinem Umhang, so daß er fast wie eine rote Flamme um seine Schultern spielte. Mit fester Stimme fragte der Inquisitor: »Was willst du, Verräter?«

»Zunächst möchte ich dein Wort, daß ihr die weiße Fahne des Parlamentärs achtet und uns sicheres Geleit versprecht.«

»So sei es!« antwortete Marcian knapp.

»Gut. Hiermit fordere ich euch auf, die Stadt zu räumen. Allen Kriegern verspreche ich freies Geleit bis zur kaiserlichen Armee. Alle Bewaffneten, die nicht bis morgen früh die Stadt verlassen, haben ihr Leben verwirkt. Allen Bürgern versprechen wir, daß ihnen kein Leid geschehen wird, denn Sharraz Garthai ist sehr wohl bekannt, daß sie am Aufstand keinen Anteil hatten.«

Ein Raunen ging durch die Menge. Marcian konnte aus den Augenwinkeln beobachten, wie kleine Grüppchen miteinander diskutierten. Die Worte des Verräters hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Marcian mußte etwas entgegnen: »Diese Stadt gehört zum Reich. Sie war in ihrer ruhmreichen Geschichte schon immer ein Bollwerk gegen die Orks, und nun, da, wie jeder weiß, ihr Orks wie Hasen vor den Soldaten der kaiserlichen Armee flieht, wird sich Greifenfurt mit Sicherheit nicht ergeben!« Gamba schmunzelte. Genau mit dieser Reaktion hatte er gerechnet. Und nun würde er alle Zuversicht der Bürger vernichten. »Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum euer Anführer nur noch vom Reich und nicht mehr vom so beliebten, so vorbildlichen Prinzen spricht?« Gamba schrie diese Worte hinaus, so daß sie jeder auf der Mauer hören konnte. Dann machte er eine wohl berechnete Pause. Im Geiste labte er sich an der Verwirrung, die er nun beinahe mit den Händen zu spüren glaubte. Da fiel ihm Marcian ins Wort. »Solltest du auf den Anschlag auf das Leben des Prinzen anspielen, so weiß jeder in der Stadt darüber Bescheid. Und schon gestern haben wir entschieden, auch wenn Brin tot sein sollte, werden wir ihn ehren, indem wir uns nicht ergeben.« Für einen Moment verschlug es Gamba die Sprache. Sharraz schaute finster zu ihm herüber. Er hatte diesen Mann im roten Umhang unterschätzt. Das sollte ihm nicht wieder geschehen! Gamba hätte im Traum nicht daran gedacht, daß der Anführer der Greifenfurter Rebellen es riskieren würde, die Geschichte um den vermeintlichen Tod des Prinzen den Bürgern preiszugeben. Nun gut, er hatte eine Waffe in seinem Kampf damit unerwartet verloren. Doch er verfügte durchaus noch über andere Mittel.

»Euer Mut ehrt euch, auch wenn ihr damit euer Leben verspielt. Doch alle, die Zweifel im Herzen tragen, mögen mir nun gut zuhören! Wer immer die Stadt verlassen will, wird am ersten Tag des Monats Praios von uns freies Geleit bekommen. Wer sich nach Sonnenuntergang dieses Tages noch in den Mauern Greifenfurts aufhält, dessen Schicksal ist besiegelt. Und nun fordern wir, was uns gehört! Eine Kriegerin hat sich zu euch geflüchtet. Sie ist Tairach versprochen. Ich verlange sie zurück! Gebt ihr sie nicht heraus, werdet ihr den Zorn des Blutgottes auf eure Häupter ziehen!«

»Daß ihr ein Verräter seid, ist nicht zu übersehen, doch wir hier werden unseresgleichen nicht verraten«, antwortete Marcian stolz.

»Ich weiß, daß es eure Pflicht ist, mir so zu antworten, doch bedenkt, es gibt keinen Priester der Zwölfgötter mehr in der Stadt, der für euer Heil beten könnte oder euch vor dem Zorn Tairachs behüten würde. Es wäre nicht das erste Mal, daß der Blutgott sich holt, was ihm gehört.« Marcian blickte zu der Baronin hinüber. Nein, er würde sie den Orks nicht übergeben. Das wäre ehrlos. »Spar dir deinen faulen Atem! Wir werden keinen aus unseren Reihen opfern. Und deine Götter, die den Rausch träumen von Schamanen entsprungen sind, fürchten wir nicht.« »Wenn es so ist, dann laßt doch die Götter ein Urteil fällen!« Gamba richtete sich in den Steigbügeln auf. Dann zog er einen schwarzen Pfeil aus dem Köcher an seinem Sattel. Die ganze Nacht hatte er daran gearbeitet und ihn mit kunstvollen Runen beschriftet, um zum Schluß einen Fetzen vom Hemd der Kriegerin eng um den Schaft zu wickeln. Der Pfeil trug den Namen der Baronin. Sharraz reichte dem Druiden einen kunstvoll geschwungenen Hornbogen.

Die Bogenschützen auf der Stadtmauer hoben ihre Waffen. Was sollte diese bedrohliche Geste? Wollte ein einzelner Bogenschütze die ganze Stadt fordern? Marcian gemahnte seine Männer zur Ruhe. Dann war wieder Gambas Stimme zu hören: »Seht diesen Pfeil!« Er hob das Geschoß hoch über seinen Kopf. »Er soll über unseren Streit entscheiden. Ich werde ihn nun in den Himmel schießen. Sollten eure Götter auf eurer Seite stehen, so wird er mit Sicherheit in den Wolken verschwinden oder zumindest wieder vor meine Füße fallen, wie es jeder Pfeil tun muß, der senkrecht in den Himmel geschossen wird. Doch hat euer Verhalten den Zorn Tairachs geweckt, so wird er ihn lenken und seine Rache nehmen, denn niemand, der einmal am Opferpfahl für den Blutgott gestanden hat, kann ihm entkommen. Nehmt ihr diesen Vorschlag an? Wenn ihr an die Macht eurer Götter glaubt, kann euch schließlich nichts passieren!«

Marcian blickte zur Baronin. »Ich würde dieses Angebot nicht annehmen!«

»Und alle Bürger müßten glauben, daß wir das Vertrauen in die Götter verloren haben. Nein! Einen so schlechten Dienst werde ich unserer Sache nicht erweisen. Laßt mich los, Lysandra.« Unsicheren Schrittes trat die Kriegerin an die Brüstung. Dann kletterte sie auf die Zinnen, um sich, leicht schwankend, neben Marcian zu stellen.

»Sieh her, Gamba, ich habe überlebt, was du und die Tairachpriester mir angetan haben! Ich vertraue auf meine Götter, auch wenn du sie dann forderst, wenn die Macht des Bösen am stärksten ist. Schieß deinen Pfeil in den Himmel! Ich habe keine Angst vor dir oder den Göttern der Orks, denen ich schon einmal entkommen bin.«

Ein Raunen lief durch die Menge auf der Stadtmauer. Greifenfurt hatte eine neue Heldin. Ein Blitz zuckte vom Himmel. Das konnte ein Zeichen des Praios sein, denn jeder wußte, daß der oberste der Zwölfgötter Frevler mit einem tödlichen Blitz verfolgte. Mit Getöse zog das Donnergrollen über die Köpfe der wartenden Menge hinweg. Seit die Namenlosen Tage begonnen hatten, verschlechterte sich das Wetter immer mehr. Es war drückend heiß geworden, und mehrere Gewitter hatten sich über der Stadt entladen. Jetzt war der Himmel pechschwarz, und die Türme der Stadt schienen fast bis an den niedrigen Himmel zu reichen.

Gamba legte den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen bis zum Zerreißen. Seine Hände waren feucht. Er war sich darüber im klaren, daß er mit seinen Reden die Zwölfgötter gereizt haben mußte, doch er vertraute darauf, daß sie an diesem Tag nicht die Macht haben würden, ihn dafür zu strafen. Noch einen Moment zauderte er, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen. Mit sirrendem Geräusch stieg er fast senkrecht in den Himmel. Wieder blitzte es, als das schwarze Geschoß in den niedrigen Gewitterwolken verschwand.

Einige auf der Mauer begannen zu beten. Ein Loblied auf Praios, den Gott der Gerechtigkeit. Immer mehr Stimmen fielen in den Gesang ein. Die Baronin kniete auf den Zinnen nieder, breitete ihre Arme aus, blickte zum Himmel und stimmte in das Gebet mit ein. Andere schlugen verstohlen ein Schutzzeichen gegen das Böse, da sie einem Gebet allein an diesem finsteren Tag nicht vertrauten.

Auch die Orks wirkten nervös. Viele Reiter hatten Schwierigkeiten, ihre unruhigen Ponys im Zaum zu halten. Ein böiger Wind jagte von Norden über die Ebene.

Da ertönte ein einzelner Schrei von der Stadtmauer. Eine Frau zeigte auf den Himmel. Andere fielen in ihr Schreien ein, und im nächsten Augenblick griff die Baronin nach ihrer Kehle. Ein schwarzer Pfeil steckte zitternd in ihrem Hals. Ein breiter Strom von Blut ergoß sich über den Brustpanzer, den Marcian ihr geschenkt hatte. Dann kippte sie vornüber und stürzte von der Mauer herab.

Triumphierend erhob Gamba seine Stimme. »So wie Tairach diese Frevlerin bestraft hat, so wird er auch diese Stadt bestrafen, wenn ihr uns nicht die Tore öffnet. Der Blutgott hat über euren Sonnengott den Sieg davongetragen. Euer Praios konnte seine Streiterin nicht beschützen, und ebensowenig wird er diese Stadt beschützen können, wenn unser Zorn euch trifft.« Damit rissen der Druide, Sharraz Garthai und der Fahnenträger ihre Reittiere herum und ritten zurück zu ihren jubelnden Leuten.

»Haltet die Bögen unten!« übertönte Marcians Stimme das Chaos auf der Stadtmauer. Gerade hatte er beobachten müssen, wie einige von Lysandras Freischärlern ihre Waffen spannten, um den Parlamentären in den Rücken zu schießen . »Laßt uns die Götter nicht kränken, indem wir so ehrlos ihren Schicksalsspruch in Frage stellen. Lysandra, achte auf deine Männer!«

Die letzten Worte gingen in dem unbeschreiblichen Lärm auf der Mauer unter. Manche warfen sich zu Boden und beteten. Andere schrien lauthals, daß alles verloren sei und man den Orks die Tore öffnen solle. Die meisten drängten in wilder Panik von der Mauer, um in ihren eigenen Wänden Schutz zu suchen. Marcian mußte mitansehen, wie ein alter Mann in dem Gedrängel von der Mauer stürzte, und auch in den engen Gassen mochte es noch Tote geben, wenn er der Flucht nicht Einhalt gebieten konnte. Nur wenige Schritt von ihm entfernt stand eine Frau mit einem Horn am Gürtel. Sie gehörte zu den Freischärlern. Er drängelte sich zu ihr hinüber.

»Gib mir dein Horn!« schrie der Inquisitor, um den Lärm der kreischenden Menge zu übertönen. Die Frau starrte ihn fassungslos an, und er riß ihr das schöne messingbeschlagene Horn vom Gürtel und setzte es an die Lippen. Der dumpfe Ton übertönte das Geschrei vor der Mauer. Noch einmal stieß Marcian ins Horn. Es war nun ein wenig ruhiger geworden. Einige hatten sich umgedreht und blickten zu ihm hinauf, doch die meisten versuchten immer noch, in blinder Panik zu fliehen. Die wenigen, die stehenblieben, wurden zum Hindernis für die, die nichts anderes im Sinn hatten, als so schnell wie möglich von der Mauer und dem Ort des Gottesgerichtes wegzukommen.

Mittlerweile hatten einige handfeste Schlägereien begonnen. Da erhob der Inquisitor die Stimme: »Männer und Frauen von Greifenfurt! Es mag so scheinen, als hätten uns die Götter verlassen, doch morgen sind die Namenlosen Tage vorbei, und Praios wird uns wieder schützen!« »Und wenn die Götter der Orks wirklich mächtiger sind als die Zwölf?« erhob sich eine Frauenstimme aus der Menge.

»Gestern haben wir hören müssen, daß der Prinz tot ist, und heute haben uns sogar die Götter schon verlassen.

Nenn uns einen Grund, warum wir noch kämpfen sollten?« schrie ein bärtiger Mann.

Marcian schwieg. Er wußte nicht, womit er den Menschen noch Mut machen sollte. Da stellte sich Zerwas neben ihn. Ein Schauder durchlief den Inquisitor. Der Henker hatte eine schwarze Rüstung mit kostbaren goldenen Verzierungen angelegt. Es war das erste Mal, daß Marcian ihn in dieser Rüstung sah. Zerwas breitete die Arme aus, und es wurde ruhiger. Alle hingen an seinen Lippen.

»Die Götter sind gegen euch, weil ihr sie verraten habt. Ihr habt geduldet, daß die Orks den Praios-Tempel eurer Stadt niedergerissen haben. Ihr habt zugeschaut, wie dem Blutgott Menschen geopfert wurden, und keiner von euch hat seine Hand erhoben, als die Schwarzpelze die Geweihten aus ihren Tempeln zerrten, um sie in die Sklaverei zu verschleppen. Das war der Dienst, den ihr den Zwölfgöttern geleistet habt. Und ihr erwartet noch, daß sie ihre schützende Hand über euch halten? Wenn ihr nicht für jetzt und alle Zeiten ein gottloses Leben führen wollt, dann erweist ihnen einen Dienst. Zeigt ihnen, daß ihr noch an sie glaubt! Wehrt euch gegen die Orks! Jetzt haben die Götter euch nur ihre Gunst entzogen. Doch öffnet den Orks die Tore, und Greifenfurt wird eine verdammte Stadt sein! Legt Zeugnis ab für euren Glauben! Wehrt euch gegen die Orks, und ihr werdet die Gunst der Zwölfe wiedererlangen können. Die Entscheidung liegt bei euch.«

Die Menge war nun ganz ruhig geworden, und Marcian richtete noch einmal das Wort an sie: »Geht nach Hause und denkt über das nach, was ihr gehört habt! Wer gehen will, soll gehen! Ich werde niemanden aufhalten, der die Stadt verläßt, denn wer die Angst in seinem Herzen trägt und ihr keinen Einhalt gebieten kann, den können auch wir nicht gebrauchen.«

Langsam leerte sich die Stadt vor der Mauer. Durch viele kleine Gassen verstreute sich die Menge. Vom Jubel des Vortages gab es keine Spur mehr. Marcian war sicher, daß morgen viele gehen würden.

Zerwas blickte ärgerlich zu ihm herüber. »Ihr versteht es, den Menschen Mut zu machen! Mußtet ihr die Feiglinge auffordern, ihre Sachen zu packen?«

»Offengestanden, Henker, glaube ich nicht, daß sie uns eine große Hilfe wären. Wenn die Stadt angegriffen wird, muß ich mich auf die, die noch hier sind, verlassen können.«

Dicke Regentropfen fielen vom Himmel. Marcian schlang seinen Umhang enger um die Schultern und schritt die steinerne Treppe an der Mauerseite hinab. Dort warteten immer noch einige Männer mit den Pferden der Offiziere. Er würde vor die Stadt reiten und den Leichnam der Baronin holen. Sie hatte sich tapfer ihrem Schicksal gestellt und sollte nicht zum Fraß der Wölfe und Raben werden.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Lysandra hinter ihm: »Ich komme mit dir.« Schweigend ritten sie durch die engen Gassen der Stadt. Wie in Sturzbächen ergoß sich das Regenwasser von den steilen Giebeln über die Amazone und den Inquisitor. Ohne ein Wort öffneten die Wachen die schweren Torflügel, als sie am Andergaster Tor ankamen. An der Mauer entlang ritten sie bis zu der Stelle, wo die Baronin von den Zinnen gestürzt war. Sie lag in einer Pfütze, das Gesicht mit starrem Blick zum Himmel gerichtet, so als könne sie es selbst im Tod nicht fassen, daß die Götter es zugelassen hatten, daß dieser verfluchte Pfeil sie traf.

Marcian drückte ihr sanft die Augen zu. Dann bemerkte er Lysandras Blick. »Das ist kein normaler Pfeil«, erklärte die Amazone. Noch immer ragte der gefiederte Schaft aus dem Hals der Toten. Marcian griff danach und versuchte, ihn herauszuziehen.

»Das ist sinnlos«, kommentierte Lysandra seinen Versuch. »Die Pfeilspitze hat Widerhaken. Du wirst ihr regelrecht die Kehle zerfetzen, wenn du versuchst, den Pfeil auf diese Art herauszubekommen. Du mußt ihn durch die Wunde drücken, so daß er in ihrem Nacken wieder herauskommt.«

Die Amazone kniete sich neben ihm nieder und drückte mit dem Handballen gegen den Pfeilschaft, um ihn noch tiefer in den Hals zu treiben. Dann drehte sie den Leichnam herum. Wenige Fingerbreit ragte die blutverschmierte Spitze aus dem Nacken. Lysandra griff danach und zog unter sichtlicher Mühe den Pfeil heraus. Dann wusch sie in der Pfütze das Blut von ihm und musterte das Resultat. »Siehst du diese weißen Runen auf dem Schaft? Ich sage dir, dieser Verräter hat ein falsches Spiel mit uns getrieben. Das war kein Gottesurteil! Laß Lancorian den Pfeil untersuchen!«

Der Inquisitor musterte das Geschoß, sagte aber nichts. Dann steckte er den Pfeil in seine Satteltasche. Wieder drehte er sich zur toten Baronin um. Ihm tat leid, wie er sie an dem Abend behandelt hatte, als sie in die Stadt gekommen waren. Nun war es zu spät, sie um Verzeihung zu bitten. Das letzte, was er noch für sie tun konnte, war, ihr ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten. Sie sollte unter dem Altarstein im RondraTempel ruhen.

Gemeinsam mit Lysandra legte er die Tote über den Rücken seines Pferdes. Als sie die Baronin aufhoben, begann die Wunde noch einmal zu bluten und besudelte Marcians Umhang. Ein böses Omen! Gaben ihm die Götter die Schuld an ihrem Tod? Lysandra schien davon nichts bemerkt zu haben. Jedenfalls sagte sie nichts. Der Inquisitor nahm sein Pferd am Zügel, und sie machten sich auf den Rückweg durch den Regen.


Das neue Jahr begann mit strahlendem Sonnenschein. Ein Morgen, der dem Sonnengott Praios, dem der erste Monat des Jahres zugeordnet war, alle Ehre machte. Nichts erinnerte mehr an die düsteren Gewitterwolken, die in den letzten Tagen über der Stadt gehangen hatten, und doch wirkten die unheilvollen Auswirkungen vom Auftritt der Orks am Vortag weiter. Auf den Straßen drängten sich Bürger und Flüchtlinge, die ihre Habe zusammentrugen, um Maultiere und Wagen zu bepacken. Kinder schrien; allenthalben blockierten Säcke oder gar Möbel, die man kurzentschlossen wieder von überladenen Wagen geworfen hatte, die Gassen und Straßen, und überall ertönte der Lärm lauter Streitereien zwischen Nachbarn, die sich jetzt gegenseitig Feiglinge oder Selbstmörder schimpften.

Das vermeintliche Gottesurteil vom Vortag hatte die Stadt in zwei Lager gespalten, und schon als mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages die beiden Stadttore geöffnet wurden, hatten die ersten Flüchtlinge Greifenfurt verlassen. Von den Orks war weit und breit nichts zu sehen, und die Wagen nahmen ihren Weg auf der Kaiserstraße entweder Richtung Andergast im Westen oder nach Wehrheim im Osten.

Schon vor Sonnenaufgang hatte Marcian Oberst Blautann mit seinen Kürassieren ausgeschickt, um zu überprüfen, wie sicher die Straßen waren. Insgeheim hoffte er darauf, daß die Orks die Flüchtlinge ausplünderten und ihr Wort vom Vortag nicht hielten. Dann würden es sich viele Bürger im letzten Moment noch einmal anders überlegen, doch bislang hatte er keine Meldung von den Reitern erhalten. Es war nun schon Mittag. Der Inquisitor hatte sich in sein kühles Turmzimmer im Bergfried zurückgezogen und überdachte noch einmal die Ereignisse der letzten Tage, als es klopfte.

»Wer da?« rief er unwirsch zur Tür. Ohne die Frage zu beantworten, trat Lancorian ein. Er sah müde und übernächtigt aus. Sein langes, blondes Haar hing in Strähnen vom Kopf, und dunkle Ringe rahmten seine Augen.

»Schlechte Nachrichten«, murmelte der Magier. Er hielt den Pfeil hoch, der die Baronin am Vortag getötet hatte. »Dieser Pfeil ist mit einem Zauber belegt. Um welche Art Magie es sich handelt, ist mir schleierhaft. Ich bin zwar alles andere als ein Experte im Analysieren magischer Artefakte, doch soviel ist sicher, dieser Pfeil ist anders als alles, was mir bislang in die Finger geraten ist. Jeder magische Gegenstand ist von einer unsichtbaren Aura astraler Kraftlinien umgeben. Sie bilden ein kompliziertes Netz, aus dessen Form und Aufbau man Rückschlüsse auf den Zauber ziehen kann, mit dem er belegt ist. Doch das hier ist mir völlig fremd. Eine gute Nachricht gibt es allerdings auch. Ich konnte herausfinden, was die Schriftzeichen auf dem Schaft des Pfeils bedeuten. Hier steht ›Baronin Ira von Seewiesen‹.« Der Zauberer schaute Marcian gespannt an.

Der Inquisitor zog die Stirn in Falten. »Willst du mir damit sagen, daß dieser Pfeil allein dazu diente, sie zu töten.«

»Ich fürchte, wenn ein solcher Pfeil einmal abgeschossen ist, findet er immer den, dessen Namen er trägt, egal, ob der Schütze nun auf sein Opfer zielt oder wie gestern einfach den Pfeil in den Himmel schießt, um ein Gottesurteil zu inszenieren. Dafür spricht auch dieser kleine Stoffetzen, der um den Schaft gewickelt ist.« Lancorian zeigte Marcian einen blutgetränkten Leinenstreifen, der unmittelbar unter der Pfeilspitze einige Male um den Schaft gewickelt war. Der Stoff saß sehr straff und fiel erst bei näherer Betrachtung auf.

»Ich denke, dieser Streifen stammt vom Hemd der Baronin oder irgend einem anderen Wäschestück«, erklärte der Magier. »Wenn meine Vermutungen stimmen, spielt er eine entscheidende Rolle, um diesen Pfeil einsatzfähig zu machen. Man braucht etwas, das derjenige, dem man schaden will, an seinem Körper getragen hat. Etwas, das ein wenig von der Aura des potentiellen Opfers in sich aufgenommen hat. Nur so kann man die Brücke für den Zauber schlagen.«

Marcian wirkte leicht irritiert.

»Man könnte auch einen Vergleich zu einem Bluthund ziehen. Um sein Opfer aufzuspüren, muß man ihn auf die Fährte führen oder besser noch, an einem Kleidungsstück desjenigen schnuppern lassen, den es zu finden gilt«, dozierte Lancorian, der trotz seiner Müdigkeit mehr und mehr in Redelaune kam.

Dem Inquisitor lief ein Schauer über den Rücken. Im Geiste sah er einen schwarzen Pfeil, der seinen Namen trug. »Wie viele von diesen Pfeilen können die Orks wohl haben?«

Der Zauberer zuckte mit den Achseln. »Viele können es eigentlich nicht sein. Solche Artefakte herzustellen ist gefährlich und kostet viel Kraft. Es mag vielleicht fünf oder sechs von diesen Pfeilen geben.«

»Das würde ja schon völlig reichen. Dieser Schwarzmagier, Hexer, Druide oder was immer er sein mag, den wir gestern an der Seite von Sharraz Garthai gesehen haben, braucht auch nur wenige Pfeile. Was glaubst du, was passiert, wenn es hier einen Anführer nach dem anderen erwischt. Wenn Lysandra, ich, du und noch ein paar andere von schwarzen Pfeilen getroffen werden, die scheinbar aus dem Himmel kommen? Ein paar solcher Unglücksfälle und die Greifenfurter öffnen freiwillig ihre Stadttore. Die Orks brauchen uns gar nicht zu belagern. Jetzt wird mir auch klar, warum sie in Orkenwall und nicht vor unseren Stadttoren stehen. Ein Angriff ist erst gar nicht geplant. Sie werden hier ohne einen Schwertstreich als Sieger einziehen.« Marcian sah den Magier hilfesuchend an. »Gibt es irgendein Mittel, mit dem man sich gegen die Pfeile schützen kann?«

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Lancorian. »Vielleicht könnte man etwas tun, wenn man genau wüßte, welcher Art von Zauber auf den Pfeilen liegt, aber so wie die Dinge im Moment stehen, weiß ich nicht weiter.«

Marcian erhob sich aus dem großen Lehnstuhl, in dem er gesessen hatte, und ging zu dem Fenster, das auf die Stadt hinauswies. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dachte nach. Sie mußten einen Weg finden, an diese Pfeile zu kommen. Aber wie?

Marcian wußte nicht, wie lange er nach draußen gestarrt hatte, als er ein Räuspern in seinem Rücken hörte. Der Inquisitor drehte sich um. »Mit Verlaub, ich bin müde. Ich habe die ganze Nacht und den Vormittag in meinem Arbeitszimmer versucht, dem Geheimnis dieser Pfeile auf die Spur zu kommen. Jetzt würde ich gerne schlafen.« Es schien, als würde Lancorian noch etwas verschweigen. Er wirkte bedrückt.

»Entschuldige, ich war so in Gedanken, daß ich dich für einen Augenblick vergessen hatte. Geh nur, Lancorian, aber bitte sei heute abend zur Versammlung der Offiziere anwesend. Wir müssen gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Ich allein weiß im Moment keinen Rat.« Als der Magier schon fast zur Tür hinaus war, eilte ihm Marcian nach. »Warte noch einen Augenblick! Dich bedrückt doch etwas. Was verschweigst du mir?«

Lancorian zögerte. »Heute morgen hat es Streit in meinem Haus gegeben. Die Mädchen wollen gehen. Sie haben einen Karren gepackt und vor einer Stunde die Stadt verlassen. Sie sagten, daß sie nicht in die Hände der Orks fallen wollen, wenn die Stadt gestürmt wird. Selbst das Geschäft als Troß-Huren der kaiserlichen Armee sei ihnen lieber als solche Aussichten.«

Marcian war merklich blasser geworden, als der Magier fortfuhr. »Mach dir keine Sorgen! Cindira ist geblieben, obwohl sie in den letzten Tagen schlecht von dir und deiner Heimlichtuerei redet. Wenn du mich fragst, machst du einen Fehler.«

»Ich frage dich aber nicht!« herrschte ihn der Inquisitor an. »Wenn die Dinge so liegen, haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen.« Der Magier drehte sich auf dem Absatz um und stieg die Wendeltreppe des Bergfrieds hinab.

Marcian ging an das Fenster zurück und beobachtete, wie der Magier Augenblicke später den staubigen Burghof passierte. Es tat ihm leid, ihn so angefahren zu haben. Daß sein Verhältnis zu Cindira schwierig war, wußte er selbst. Erst letzte Nacht hatten sie lange gestritten. Das Mädchen verlangte, daß er sich offen zu ihr bekennen solle. Der Inquisitor versuchte, die Sorgen zu verdrängen und sich mit dringenderen Problemen zu beschäftigen.

So wie es aussah, würde jeder dritte Greifenfurter die Stadt verlassen. Mehr als tausend Bürger packten ihre Sachen oder waren schon unterwegs. Von den zwölfhundert Flüchtlingen, die in den letzten Wochen in den Mauern der Stadt Schutz gesucht hatten, würde auch die Hälfte gehen. Damit würden die Lebensmittelreserven der Stadt zwar deutlich länger reichen, doch nun fehlten auch viele kampffähige Männer und Frauen, und es würde schwieriger, die Stadt zu halten. Der Inquisitor hatte das Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen. Vielleicht sollte er Zerwas aufsuchen? Gestern hatte er mit seiner Rede das Blatt gewendet. Vielleicht wußte er auch diesmal einen Ausweg, auch wenn Marcian es haßte, ausgerechnet bei ihm Rat suchen zu müssen.


Schon mehrmals hatte Marcian vergeblich gegen die schwere Eichentür geklopft. Entweder war Zerwas nicht da, oder er wollte ihm nicht öffnen. Noch einmal musterte der Inquisitor die Turmruine, in der der Henker hauste. Einen ungewöhnlichen Geschmack hatte Zerwas! Sein Heim war früher einmal Teil der Stadtmauer gewesen. Irgendwann mußte es dann ausgebrannt sein. Noch immer wiesen die massiven grauen Steine die Zeichen eines verzehrenden Feuers auf. Vor allem dort, wo der Turm in geborstenen Mauerresten endete, waren die Steine selbst heute noch schwarz vor Feuer. Der hölzerne Dachstuhl mußte damals eingestürzt sein, und einen Teil des oberen Mauerrands hatte er mit in die Tiefe gerissen.

Marcian hatte noch nie die Wohnung des Henkers betreten. Vom Hörensagen wußte er, daß sich Zerwas, nachdem er vor mehr als einem halben Jahr in Greifenfurt aufgetaucht war, die Ruine vom Magistrat gekauft hatte und er das Erdgeschoß wiederherstellen ließ. Er hatte den Auftrag gegeben, statt eines Turmdachs auf drei Schritt Höhe ein provisorisches Dach aus schweren Balken und Holzschindeln Inzwischen die Mauerreste zu ziehen.

Wieder klopfte Marcian. Diesmal noch energischer. Er hielt inne. Hatte sich die Tür bewegt? Marcian drückte gegen das Holz. Tatsächlich, die Tür war von innen nicht verschlossen. Neugierig öffnete er. Wahrscheinlich war die Tür nicht richtig ins Schloß geschnappt, als Zerwas gegangen war. Nun, Marcian würde es sich gemütlich machen und auf den Henker warten.

Als Marcian eintrat, verschlug es ihm schier die Sprache. Was Zerwas sich hier eingerichtet hatte, war ein regelrechter Palast. Wo mochte er diese erlesenen Kostbarkeiten während der orkischen Besatzungszeit nur herbekommen haben? Prächtige Teppiche aus der Khom und elegante Möbel aus den edelsten Hölzern füllten den Raum. Es duftete nach Rosenholz und Weihrauch. Vor einem kleinen Boronschrein brannten Räucherstäbchen, wie man sie im Süden Aventuriens benutzte. Auf dem elegant geschnitzten Tisch in der Mitte des Raums lagen mehrere Bücher. ›Das Arcanum‹, ›Almanach der Wandlungen‹ und ›Das große Buch der Abschwörungen‹ waren die auffälligsten Titel. Literatur, die man eher auf dem Tisch eines Magiers als bei einem Henker erwartet hätte.

Verwundert blickte sich Marcian weiter um. Was mochte dieser Mann getan haben? Eine solche Pracht hatte er hier nicht erwartet. Zerwas mußte reich sein. Doch wie konnte ein Henker zu einem Vermögen kommen? Der Inquisitor konnte sich nicht vorstellen, daß man in Mengbilla einen Scharfrichter um so vieles besser bezahlte als im Kaiserreich. An den Wänden hingen auf Haken einige kostbare Waffen. Die prächtige Rüstung, die Zerwas am Vortag getragen hatte, war nirgends zu sehen. Auch der mächtige Zweihänder, den er immer mit sich führte, fehlte. Hinter dem Bett mit seinem dunkelblauen Himmel führte eine Stiege nach oben. Neugierig erklomm Marcian die Stufen, stemmte eine Falltür hoch und befand sich auf dem leicht angeschrägten Dach. Hier waren die Mauern des Turms noch immer pechschwarz. Das Ganze wirkte fast wie ein großer Kamin. Nur die steinernen Stufen, die sich an der Wand des Turms in Spiralen nach oben wanden, hatten die Feuersbrunst überstanden. Jetzt führten sie ins Nichts.

Marcian stieg wieder in den prächtigen Wohnraum hinab. Dort setzte er sich auf einen hohen Lehnstuhl aus Ebenholz und blätterte in den Büchern, die auf dem Tisch lagen.


Nach einiger Zeit ließen den Inquisitor Schritte auf dem Dach erschrekken. Nur wenig Licht drang noch durch die schmalen, hochgelegenen Fenster in den Raum. Es mußte schon fast Abend sein. Jetzt wurde die Klappe zum Dach geöffnet. Wie konnte jemand von dort oben kommen? Als er dort gewesen war, hatte er niemanden gesehen! Und ein anderer Weg führte nicht auf das Dach! Instinktiv griff Marcian nach seinem Schwert.

Schwere Schritte kamen die hölzerne Stiege herab. Marcian sprang auf und sah Zerwas, der nicht minder überrascht wirkte als der Inquisitor. Der Henker faßte sich als erster wieder und fragte süffisant: »Was verschafft mir die Ehre dieses unangekündigten Besuchs?« »Ich wollte mit dir reden. Aber wo kommst du her?« Zerwas musterte sein Gegenüber mißtrauisch. »Das ist doch wohl unschwer zu sehen. Vom Dach natürlich!«

»Das wundert mich. Ich war auf dem Dach und habe dich nirgends gesehen.«

Der Henker lächelte herablassend. »Spionierst du mir nach?«

»Nein!« Marcian blickte ihn fest an. »Trotzdem wüßte ich gerne, wo du herkommst. Man erzählt sich in der Stadt so allerlei über dich. Bist du vielleicht doch ein Magier? Kannst du fliegen?«

Zerwas machte eine wegwerfende Geste. »Weder das eine noch das andere. Bist du bei deinen Beobachtungen vielleicht auch die Treppe hinaufgestiegen?«

»Nein. Warum diese Frage?«

»Ist dir aufgefallen, daß es auf halber Höhe eine Türöffnung gibt?« »Ja, ich erinnere mich.« Marcian fragte sich, worauf der Henker hinauswollte.

»Diese Tür führt auf eine schmale Terrasse. Dort habe ich gesessen und die Sonne genossen. Du siehst, wie Geschichten über mich entstehen. Wärest du nicht ein aufgeweckter Offizier, sondern irgendein Bürger, würde noch heute abend das Gerücht die Runde machen, Zerwas könnte fliegen.«

Marcian gab sich zum Schein mit der Antwort zufrieden. Insgeheim war er sich aber völlig sicher, daß er den Henker durch den Türbogen gesehen hätte, wenn er wirklich auf der Terrasse gewesen wäre. Außerdem erinnerte er sich an eine Geschichte, die Darrag ihm über die empfindliche Haut von Zerwas erzählt hatte. Nein, was immer dieser Mann getan haben mochte, ein Sonnenbad hatte er bestimmt nicht genommen! Doch Marcian stellte keine weiteren Fragen. Statt dessen berichtete er dem Henker von den schwarzen Pfeilen und fragte ihn um Rat.

Zerwas strich sich über den kurzgeschorenen Kinnbart und grübelte. »Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, was zu tun ist. Das beste wäre, sich die Pfeile zu holen, doch glaube ich kaum, daß das einem unserer Männer gelingen könnte. Man müßte unauffällig ins Orklager eindringen und sie stehlen, doch nüchtern betrachtet ist das nichts anderes als eine besonders makabre Art von Selbstmord. Auf der anderen Seite ist unsere Situation aber wohl auch nicht ganz so verzweifelt, wie sie vielleicht im ersten Moment scheinen mag. Schließlich genügt es den Orks ja nicht, allein unsere Namen zu wissen, sie müssen auch noch irgend etwas aus unserem Besitz haben, was sich obendrein leicht an einen Pfeil befestigen läßt. Also ein Haar, einen Stoff streifen oder ein Lederriemchen. Sicher sind die Pfeile nicht ungefährlich, aber sie sind auch bei weitem nicht so leicht einzusetzen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.«

»Du hast recht«, entgegnete Marcian kühl und fuhr nach einer Pause fort: »Du scheinst für einen Henker ungewöhnlich gut in Sachen Magie bewandert zu sein. Auch die Lektüre auf deinem Tisch ist nicht das, was man im Haus eines Scharfrichters erwarten würde.«

Zerwas warf einen flüchtigen Blick zu den Büchern und antwortete mit einem Achselzucken: »Daß ich mich für Magie interessiere, verhehle ich ja gar nicht. Nur leider befähigt einen das Interesse allein noch nicht zum Zaubern. Und habt nicht auch Ihr in diesen Büchern gelesen, als ich hereinkam?«

Marcian entgegnete darauf nichts, er wurde aber das Gefühl nicht los, daß Zerwas ein Geheimnis umgab. Statt Antworten hatte ihm dieser Besuch nur neue Fragen gebracht. Er würde seine Agenten auf ihn ansetzen. Es wurde ohnehin höchste Zeit, sie wieder zu beschäftigen, denn abgesehen von einigen Überfällen auf die Orks, bei denen sie im Gefolge von Oberst Blautann mitgeritten waren, hatten sie seit der Rebellion in der Stadt und der Erstürmung des vorderen Garnisonstores keine ernsthafte Aufgabe mehr gehabt. Sollten sie Zerwas beschatten! Der Inquisitor wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Fast hätte ich es vergessen! Du kommst doch gleich zur Versammlung?«

»Sicher!« Zerwas lachte verschmitzt. »Schließlich hat Greifenfurt im Moment auch nicht allzu viel Unterhaltung zu bieten. Das Bier wird immer teurer, und Gerüchten zufolge sind Lancorian heute fast alle Nutten abgehauen.«

Worauf spielte der Kerl damit an? Wußte er von ihm und Cindira? Sie war immer heimlich in die Garnison gekommen, und nur drei Wächter waren eingeweiht. Schließlich würde es seinem Ruf als Stadtkommandant schaden, wenn die biederen Bürger wüßten, daß er sich regelmäßig mit einer Hure traf. Cindira hatte dafür allerdings kein Verständnis. Marcian schloß die schwere Tür zum Turm energischer als nötig gewesen wäre, und schon im nächsten Moment ärgerte er sich darüber. Zerwas konnte keine Beweise haben, aber diese Reaktion würde seine Vermutungen bekräftigen.


Zerwas setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch Marcian gesessen hatte, und blätterte in den Büchern. Er suchte nach verräterischen Notizen, die er während seiner Studien gemacht haben konnte. Doch er hatte Glück. Diese Bände schienen nichts zu enthalten, woraus der Stadtkommandant auf seine Herkunft oder sein Geheimnis hätte schließen können. Dennoch ärgerte ihn die Neugier und das Mißtrauen. Vielleicht sollte er sich überlegen, wie Marcian zu beseitigen war. Die ganze Art, in der er hier eingedrungen war, und seine Fragen mißfielen dem Vampir. Er griff nach seinem Schwert, das er auf den Tisch gelegt hatte, und streichelte die tödliche Klinge. Noch immer war es ihm nicht gelungen zu ergründen, was ›Seulaslintan‹ eigentlich war. Diese Frage, die jedem anderen absurd vorkommen mußte, beschäftigte den Vampir schon seit Jahrhunderten. Er dachte an jene Nacht in den Bergen, in der er das Schwert gefunden hatte. Damals suchte er mit seinen Freunden in einer Burgruine im Finsterkamm vor einem Unwetter Zuflucht. Nur wenige Wochen war es her, daß er sich mit seinem Vater zerstritten hatte. Er wollte, daß er Schmied würde. Schließlich habe er in seiner Kindheit und Jugend auch nichts anderes gelernt. Doch ihm reichte es nicht, Schwerter für andere zu schmieden. Er wollte selbst endlich eine Waffe führen und hatte auch schnell einige leichtfertige Glücksritter gefunden, denen er sich anschließen konnte. Doch die Nacht in der Ruine beendete seine Karriere als Abenteurer, noch bevor sie begonnen hatte. Ihre Pferde brachten sie damals zum Schutz vor dem Schneesturm im verfallenen Palas unter, und Beorgol, der Thorwaler, fand eine verborgene Treppe zu den Kellergewölben. Auf der Flucht vor der schneidenden Kälte stiegen sie hinab und richteten dort unten ihren Lagerplatz ein. Als ihnen nach einer Weile wärmer wurde, untersuchten sie die Gewölbe, fanden leerstehende Vorratskammern, das Verlies, eine geplünderte Schatzkammer und schließlich die Gruft. In steinernen Sarkophagen und Nischen in den Wänden lagen die Herren dieser Burg bestattet.

Zerwas erinnerte sich noch genau, daß sie sich damals beobachtet fühlten und daß die Auelfe Ilanesse vorschlug, den Plunder doch liegen zu lassen und wieder zum Feuer zu gehen. Doch keiner hörte auf sie. Der Zwerg war der erste, der eine Grabplatte hochstemmte, um nach den Schätzen der Toten zu suchen. Zerwas selbst hatte sich an dem Leichnam in einer rostigen Rüstung zu schaffen gemacht, der unmittelbar hinter der Eingangstür in der Gruft gelegen hatte. Es war eine Frau, von Pfeilen durchbohrt. Im Sterben war sie auf ihr mächtiges, schwarzes Schwert gestürzt. Oder hatte sie es unter ihrem toten Körper verstecken wollen?

Als er nach der Waffe griff, ließ ein kalter Windstoß alle Fackeln verlöschen, die sie mitgeführt hatten. Und dann kam das, was sie bis dahin nur beobachtet hatte, und die Nacht wurde zu einem Alptraum.

Als er wieder zu Sinnen kam, stand er allein im Schnee, das blutverschmierte, schwarze Schwert in seiner Hand. Von seinen Freunden hatte es keiner nach draußen geschafft. Als er sich ein Pferd holen wollte, fand er die Tiere bestialisch niedergemetzelt. Ohne sich nach seinen Kameraden umzuschauen, floh er.

Tage später erreichte er halb erfroren Greifenfurt. Ein alter Mann, der auf einem Schlitten Holz in die Stadt brachte, hatte ihn mehr tot als lebendig im Schnee gefunden und mitgenommen.

Als er wieder zu Kräften kam, war auch seine Barschaft erschöpft. Sein Wirt hatte bereits einen Teil seiner Ausrüstung beschlagnahmt, und es sah schlecht für ihn aus, bis er hörte, daß man in der Stadt einen Henker suchte. Es galt, eine Kindesmörderin hinzurichten, und Zerwas meldete sich.

Das Töten verschaffte ihm eine ungewöhnliche Befriedigung. Er benutzte seine neue Waffe als Richtschwert. Zunächst hatte es deshalb Widerstand durch den Magistrat gegeben, doch schließlich verebbten die Einwände, und er blieb länger als nur den Winter. Viel länger! Nur selten verließ er die Mauern der Stadt. Sein Durst nach Abenteuern war gestillt, und außerdem erlebte er an sich selbst ein Abenteuer, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Er entwickelte Fähigkeiten, wie man sie Magiebegabten zuschrieb, und er fand Gefallen an Menschenblut.

Diese grausige Entdeckung machte er an einem Sommertag bei der Hinrichtung eines Raubmörders. Als er ihm den Kopf vom Rumpf trennte, spritzte ihm Blut ins Gesicht. Es lief ihm über die Lippen, und wollüstige Schauder ließen ihn erbeben. Zerwas fühlte sich kräftiger als je zuvor. Damals ahnte er nicht, welche Konsequenzen sich daraus ergeben sollten. Bis er sich zum Vampir entwickelt hatte, dauerte es noch Jahre. Und doch war er sich nie sicher, ob er sich so nennen sollte, denn er war ganz anders als ein gewöhnlicher Vampir. Das Licht des Praios zum Beispiel war ihm unangenehm, aber es brachte ihn nicht um. Allerdings entsprachen die Kreaturen, die aus ihren Gräbern auferstanden, wenn er seine Opfer nicht enthauptete, vollkommen dem allgemeinen Bild von Vampiren. Seine Veränderung mußte mit diesem Schwert in Verbindung stehen. Daß es ›Seulaslintan‹ hieß, wußte er aus einem Traum, so wie er auch manch anderes über die Waffe in bedrückenden Alpträumen erfahren hatte. Ein Traum, der immer wiederkehrte, machte ihn besonders froh, daß er nicht in die Kellergewölbe der Burg zurückgegangen war. So konnte er sich sagen, daß dieser Alp nicht mehr als ein Hirngespinst war. Ein bösartiges Trugbild. Jedenfalls erleichterte es ihn, sich keine Gewißheit über das Schicksal seiner Gefährten verschafft zu haben.

Zerwas versuchte, die trüben Gedanken zu verdrängen. Er hatte schon oft vergebens mit seinem Schicksal gehadert. Würde er sich jetzt nicht ablenken, käme als nächstes die Erinnerung an seine Hinrichtung vor dreihundert Jahren. Die grausame Marter durch die Praios-Geweihten und das Gesicht seiner großen Liebe würden ihn wieder tagelang verfolgen. Selbst zum Festmahl der Offiziere zu gehen wäre noch besser, als weiter hier zu sitzen und in melancholische Stimmung zu geraten. Einen Moment überlegte der Henker, ob er seine Rüstung holen sollte. Dann verwarf er den Gedanken. Für das Essen wäre sie nur unbequem. Draußen war es schon dunkel, als er sich auf den Weg machte. Er erwartete einen langweiligen Abend. Das Wesentliche hatte ihm Marcian bereits erzählt. Am unangenehmsten war ihm die Völlerei, zu der es mit gewisser Regelmäßigkeit bei diesen Offiziersversammlungen kam. Sicher waren die Speisen erlesen, die auf getragen wurden, doch aus dieser Art von Nahrung machte Zerwas sich nicht mehr viel. Allein der Wein vermochte noch seinen Gaumen zu erfreuen.


Es war wieder ruhig in der Stadt. Alle Flüchtlinge waren fort. Wieder fluchte der Vampir über Marcian. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, den Feiglingen zu erlauben, die Stadt zu verlassen. Es mochte der Tag kommen, an dem sie jedes Schwert brauchen würden.

Zerwas passierte das Tor der Festung. Die Wachen grüßten ihn respektvoll, und er schritt über den Hof auf den hell erleuchteten Palast zu. Als der Vampir den großen Saal betrat, erstattete Oberst von Blautann soeben Bericht. » ... Auf größere Gruppen von Orks sind wir nicht gestoßen. Ich glaube, daß außer den Reitern, die wir gestern gesehen haben, noch keine Truppen in der Nähe der Stadt sind. Des öfteren konnten wir beobachten, wie die feigen Flüchtlinge von Orks angehalten wurden. Nach kurzem Gespräch ließ man sie aber immer passieren. Die Orks haben nicht einmal versucht, sie zu bestehlen. Wir haben uns dabei immer im Hintergrund gehalten und ganz nach Befehl jede Konfrontation mit den Orks vermieden.« Der Tonfall des Obristen war merklich kühler geworden. Er blickte zu Marcian hinüber, bevor er mit seinem Bericht fortfuhr. »Einmal haben wir eine der Flüchtlingsgruppen angehalten, um in Erfahrung zu bringen, was die Orks wollten. Ihr werdet es kaum glauben.« Von Blautann machte eine kleine Pause und blickte feixend in die Runde, als Marcian das Wort an sich riß: »Sie haben nach unseren Namen gefragt, richtig?« Dem jungen Obristen klappte der Unterkiefer herunter. Er brauchte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzufinden.

»Wie könnt ihr das wissen? Ich meine, das ist doch absolut ungewöhnlich. Mit so etwas kann man bei Orks doch nicht rechnen. Das sind doch nur primitive Krieger.«

Marcian richtete sich auf und klärte die Versammlung der Offiziere über die schwarzen Pfeile auf. Als er mit seinem Bericht zu Ende war, herrschte ein allgemeines Durcheinander. Alle redeten drauflos, und viele blickten zwischendurch immer wieder verstohlen zu den Fenstern und zur Tür, ganz so, als erwarteten sie, daß jeden Moment ein Pfeil hereingeflogen käme, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Marcian ließ sich Zeit, um die verschiedenen Reaktionen seiner Befehlshaber zu beobachten. An ihrem Verhalten ließ sich abschätzen, wer später im Kampf die Nerven verlieren würde und wem er auch dann noch vertrauen konnte, wenn die Lage verzweifelt war. Schließlich hieb er mit der Faust auf den Tisch. Schlagartig wurde es still im Saal.

»Es besteht kein Anlaß zur Panik. Solange die Orks nicht etwas aus eurem persönlichen Besitz in Händen haben, nutzen ihnen die Pfeile wenig.«

Lancorian mischte sich ein. »Fühlt euch aber nicht zu sicher! Es gibt Zauber, mit denen sich ein Magier zum Beispiel in eine harmlose Taube verwandeln kann, um in eurem Quartier einen Stoffetzen oder auch nur ein einzelnes Haar zu suchen. Haltet Türen und Fenster fest verschlossen, wenn ihr nicht in euren Räumen seid. Ich weiß nicht, mit welcher Art Magie bei Orks zu rechnen ist. Vielleicht können ihre Schamanen auch Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. Also, seid wachsam! Berichtet mir sofort von der kleinsten Unregelmäßigkeit. Und laßt nirgendwo etwas liegen! Das gilt vor allem für die, die auf Ausritten die Stadt verlassen. Schon ein paar Fäden, die ein Dornbusch aus einem Umhang reißt, können zu eurem Verderben werden. Und redet euch untereinander nicht mit Namen an, wenn ihr nicht ganz sicher seid, daß kein Ork euch belauschen kann. Schließlich kennen die Schwarzpelze und ihre Schamanen nur die wenigsten von uns. Macht es ihnen also nicht leichter!«

»Und was ist, wenn es Verräter in unseren Mauern gibt?« Zerwas hatte die Frage gestellt und blickte herausfordernd in die Runde. »Kann ich jedem an diesem Tisch trauen?«

»Wenn wir einander nicht mehr vertrauen, ist unsere Sache schon jetzt verloren!« ergriff Marcian das Wort, bevor die Männer und Frauen Zeit hatten, über die Tragweite der Frage nachzudenken. Er schaute finster zu Zerwas hinüber. Diesen Gedanken auszusprechen grenzte schon fast an Hochverrat. »Viele von euch sind Offiziere der kaiserlichen Armee und Ehrenmänner, und alle, die an diesem Tisch sitzen, haben mir die Treue geschworen. Ich glaube nicht, daß es in dieser Runde einen Verräter gibt. Und doch ist es anzuraten, vorsichtig zu sein. Es wäre leichtfertig, jedem Bürger der Stadt zu trauen. Daß wir vorsichtig sein müssen, steht völlig außer Frage.«

»Willst du damit andeuten, daß wir unsere Wäsche in Zukunft vielleicht besser selbst reinigen sollten?« Eine junge Ritterin aus dem Gefolge des Obristen von Blautann hatte die Frage gestellt.

»Prüfe, ob du deiner Waschfrau vertrauen kannst, und beantworte dir dann diese Frage selbst«, erwiderte Marcian.

»Blindes Mißtrauen wird nur auf uns zurückfallen. Keiner von euch sollte außerhalb dieser Runde über die schwarzen Pfeile reden. Für die meisten wird es besser sein, von dieser Bedrohung nichts zu wissen. Außerdem bringen wir so auch niemanden auf den Gedanken, uns vielleicht an die Orks zu verraten. Und nun laßt uns genießen, was die Tafel zu bieten hat! Es wird ohnehin wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis hier Schmalhans Küchenmeister ist.«

Doch es kam keine richtige Stimmung mehr auf. Das Essen verlief sehr ruhig, und schon früh verließen die Offiziere in kleinen Grüppchen den Saal.


Nach dem Essen traf Marcian sich mit seinen Agenten. Schon vor Wochen hatte er befohlen, allen Fremden, die sich in der Stadt aufhielten, Quartiere in der Burg einrichten zu lassen. So hatte er Gelegenheit, sich unauffällig mit seinen Leuten zu treffen. Die wenigen anderen Fremden, die nicht zu seinen Agenten zählten, hatten die Stadt verlassen. Marcian konnte ihnen nicht einmal verübeln, daß sie Angst davor hatten, hier ihr Leben zu verlieren. Übrig waren nur seine Leute: die Jägerin, die in ihrem Karren Waffen in die Stadt geschmuggelt hatte, die Auelfe Nyrilla und die Halbelfe Sartassa, die aus völlig undurchsichtigen Gründen in die Dienste der Inquisition getreten waren, dann der Zwerg, dem Marcian reine Gier als Motiv unterstellte. Das galt auch für den Söldner, dem er das Kommando über die ehemaligen Sklaven, die alle einmal Soldaten der kaiserlichen Armee gewesen waren, anvertraut hatte. Es waren allerdings nur fünfzig Schwerter. Sie würden bei einem entschlossenen Angriff der Orks schnell aufgerieben sein. Zu guter Letzt hatte Marcian noch die drei Magier Odalbert, Yonsus und Riedmar. Obwohl sie die Überprüfungen der Inquisition überstanden hatten, mißtraute er ihnen. Für Uneingeweihte waren die drei ein Heiler, ein Wahrsager und ein wandernder Pflanzenkundler und Kräutersammler. Marcian hatte allen von seinem Mißtrauen gegenüber Zerwas erzählt. Sie würden zwar auch weiterhin den Aufgaben nachgehen, die man ihnen in der belagerten Stadt übertragen hatte, doch jedem blieb noch genug freie Zeit, um ein Auge auf den Henker zu haben. Einigen traute er auch zu, ohne weitere Fragen Zerwas zu ermorden, falls er es fordern sollte. Der Inquisitor erschrak über diesen Gedanken. Warum haßte er den Mann so, daß er an Mord dachte? Lag es daran, daß er seine Autorität nicht zu akzeptieren schien?

Загрузка...