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Das Geräusch von Stahl auf Stein hatte sich verändert. Die Spitzhacke vibrierte spürbar in seinen Händen, und das Zittern setzte sich sacht, aber fühlbar unter seinen Füßen fort, fast als wäre unter den steinernen Bodenfliesen nicht länger massiver Fels. Uriens hielt einen Augenblick inne, setzte die Hacke ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß ab, der ihm in Strömen über Gesicht und Hals lief, in seinen Augen brannte und einen salzigen Geschmack auf den Lippen hinterließ. Es war nicht nur die schwere Arbeit, die ihn schwitzen ließ. Zu der Anstrengung, Stunde um Stunde das schwere Werkzeug zu schwingen, kam der Umstand, daß es noch ziemlich warm für einen Travia-Nachmittag war; dabei müßte eigentlich in wenigen Wochen der erste Schnee fallen.

Aber dieses Jahr war ja ohnehin auf beängstigende Weise anders als alle, die er bislang erlebt hatte - warum also sollte da nicht auch der Winter ausbleiben? Uriens hatte noch vor zwei Monaten schallend gelacht, hätte ihm jemand erzählt, daß er ernsthaft an etwas so Unumstößlichem wie dem Aufeinanderfolgen der Jahreszeiten zweifeln würde, aber seit jenem denkwürdigen Tag vor zwei Monaten war die Welt nicht mehr, wie sie zuvor gewesen war.

Zwei Monate war es her, daß die kaiserliche Armee bei Orkenwall vernichtend geschlagen wurde. Und damit hatte nicht nur die Legende von der natürlichen Überlegenheit des Menschen über die Orks ihr Ende gefunden, sondern auch Uriens Leben als freier Mann. Er hatte die Schlacht zwar wie durch ein Wunder überlebt, war aber mit vielen anderen in orkische Gefangenschaft geraten - was nichts anderes bedeutete als Sklaverei.

Es hatte lange gedauert, bis Uriens den Schrecken der Niederlage überwunden hatte. Sie alle waren in der sicheren Gewißheit ihres Sieges aufgebrochen - schließlich waren sie ein diszipliniertes, kampferprobtes Heer, dem nichts anderes als eine Horde barbarischer, halbtierischer Kreaturen gegenüberstand. Uriens war kein Narr. Er hatte die Möglichkeit seines eigenen Todes durchaus in Betracht gezogen - aber eine Niederlage? Gegen Orks? Einfach lächerlich. Niemals hätte er geglaubt, daß diese beinahe mannsgroßen, schwarz beharrten Kreaturen in der Lage wären, ein diszipliniertes Heer zu schlagen. Orks waren keine Soldaten. Sie waren nicht einmal wirkliche Krieger. Sie waren ... nun, Orks eben. Mit den spitzen Eckzähnen, die wie Hauer aus ihren Unterkiefern ragten, sahen sie schon aus wie Tiere, nicht wie vernunftbegabte Geschöpfe. Dazu kam ihre Sprache - falls man ihre Grunzlaute, mit denen sie sich verständigten, Sprache nennen wollte. Nein - Orks waren keine Gegner. Sie wären Tiere, gefährliche Tiere, aber keine Gegner. Doch alle hatten sich getäuscht. Nicht nur er und seine Kameraden hatten die Kampfkraft der Orks unterschätzt. Einer von ihnen wog in der Schlacht leicht zwei Soldaten auf, und was ihm an Intelligenz und strategischem Geschick fehlen mochte, machte er an Mut und Tapferkeit doppelt wett. Uriens war kein Feigling, aber ihm lief noch heute ein eisiger Schauer über den Rücken, wenn er an die lebende Sturmflut brüllender, schwarzer Ungeheuer dachte, die wie die Berserker über ihre Schlachtreihen hereingebrochen waren und sie niedergemacht hatten. Und auch ihre Heerführer hatten diesen Sadrak Whassoi unterschätzt, den General der Orks, den man jetzt überall den Schwarzen Marschall nannte. Noch eine oder zwei Niederlagen wie bei Orkenwall, dachte Uriens, und das Kaiserreich war verloren. Vielleicht aber war es das bereits. Niemand wußte das genau zu sagen. Seit sie in Gefangenschaft geraten waren, existierte die Welt außerhalb der Reichweite ihrer Ketten praktisch nicht mehr. Nachrichten erreichten die Gefangenen nur äußerst spärlich - was nicht einmal daran lag, daß ihre Wächter sie vor ihnen geheimhielten. Aber einen Ork interessierte für gewöhnlich nur die Frage, wo es etwas zu erobern oder plündern gab.

Uriens holte zu einem weiteren Schlag aus, und wieder erzeugte die Hacke diesen sonderbaren, nachhallenden Klang. Direkt unter seinen Füßen mußte ein Hohlraum sein. Noch immer war keiner der orkischen Wächter zu sehen. Ob er einen der Schwarzpelze rufen sollte? Nein, die würden mit ihrer kehligen fremden Sprache doch nicht verstehen, was er zu sagen hatte. Für einen Moment wog Uriens die schwere Spitzhacke in seiner schwieligen Hand. Dann holte er mit aller Kraft zum Schlag aus, nun wild entschlossen, dem Fußboden des Tempels sein Geheimnis zu entlocken. Vielleicht würde er einen Schatz finden. Der Gedanke beflügelte ihn. Nach einigen wuchtigen Schlägen durchbrach er den Boden. Vorsichtig sah er sich um, was die anderen Arbeitssklaven im Augenblick taten. Die meisten schleppten Steine fort und waren abgelenkt. Nur Karyla schaute gelegentlich zu ihm herüber, wenn sie mit dem Vorschlaghammer eine Pause einlegte. Sie hatte zu einem kaiserlichen Garderegiment gehört und war mit Abstand die stärkste unter den Sklaven. Im Moment war sie damit beschäftigt, ein weiteres Stück der massiven Außenwand des Tempels einzuschlagen.

Vorsichtig bückte sich Uriens, um durch das Loch im Boden zu schauen. Ein modriger Geruch schlug ihm entgegen, und dann spürte er einen schwachen Luftzug auf seinen Wangen. Wie ein langer Finger fiel ein Sonnenstrahl durch das faustgroße Loch, durchmaß vielleicht einen Schritt Finsternis und traf auf eine skelettierte Hand. Am mittleren Finger steckte ein Ring, der golden im Sonnenlicht funkelte. Hastig stand Uriens auf und vergrößerte mit einigen wuchtigen Schlägen das Loch. Dann schaute er sich wieder um. Noch immer beachtete ihn keiner. Langsam ging er in die Knie, blickte noch einmal prüfend umher und schob dann seinen Arm durch das Loch.

Hoffentlich waren da unten keine Ratten! Uriens schluckte und zögerte einen Moment. Nein, er wollte diesen Ring haben! Vorsichtig schob er den Schutt beiseite, der in die Gruft gefallen war. Dann spürte er mit den Fingerspitzen die Hand des Toten. Zögernd tastete er nach dem Ring, dann hatte er ihn. Langsam zog er den Arm zurück. Der Ring steckte noch auf einem Fingerknochen. Wessen Hand das wohl gewesen sein mochte? Uriens zog den Knochen ab und ließ ihn durch das Loch zurück in die Gruft fallen. Der Ring war tatsächlich aus Gold. Er war wie ein kleiner Greifenkopf geformt; durch den weit aufgerissenen Schnabel konnte man den Finger stecken. Mit einem letzten Blick zu den anderen Sklaven ließ er das Kleinod in seinen zerschlissenen Stiefel gleiten. Dort würde der Ring zwar drücken, aber er war sicher aufbewahrt. Dann griff Uriens nach seiner Spitzhacke, um das Loch zu erweitern.

Leider war kaum etwas zu erkennen, obwohl er die Öffnung nun schon um mehr als das Doppelte vergrößert hatte. Uriens legte sich flach auf den Boden, um den besten Blick in die Grabkammer zu haben. Auch wenn man im Halbdunkel nur wenig erkennen konnte, fiel auf, daß diese Gruft erheblich größer war als üblich. Das Skelett lag mit weit ausgestreckten Gliedern auf dem Boden.

Beinahe wie einer, den man aufs Rad geflochten hat, ging es Uriens durch den Kopf. Es schien, als hätte man dem Unglücklichen seinerzeit irgendwelche Pfähle oder Messer durchs Fleisch gerammt.

»Was machst du denn da?« ertönte es plötzlich über ihm. Karyla hatte ihren Vorschlaghammer weggelegt und war herübergekommen.

»Was schaust du dir an?« Mit einem Stoß in die Rippen schob sie Uriens zur Seite, blickte in das Loch und pfiff durch die Zähne. »Da liegen ja Dolche! Waffen! Du weißt, was das heißt! Das ist der Schlüssel in die Freiheit.«

Uriens schaute zu ihrem Vorschlaghammer. »Wie willst du dir mit Dolchen einen Weg in die Freiheit bahnen, wenn du noch nicht einmal mit deinem Hammer einen Orkschädel eingeschlagen hast?«

Verächtlich sah sie ihn an. »Das, mein kleiner Freund, wirst du schon noch merken.« Dann griff sie durch das Loch und angelte etwas heraus. Was Uriens zunächst nicht recht erkennen konnte, entpuppte sich im hellen Sonnenlicht als massiver, schwarz angelaufener Dolch. Es schien, als sei die ganze Waffe aus Silber.

Karyla ließ den Dolch in ihrem zerrissenen Gewand verschwinden und ging zu ihrem Arbeitsplatz zurück. »Hol die Wächter!« rief sie ihm über die Schulter zu. »Und sag keinem, daß ich mir die Sache schon angesehen habe. Tu so, als hättest du das Grab eben erst entdeckt.« Sofort rief Uriens lauthals nach Krohai, dem Oberaufseher über die Sklaven. Wenig später war er umringt von diesen stinkenden, muskelbepackten Kreaturen. Aufgeregt unterhielten sie sich und schauten abwechselnd durch das klaffende Loch im Tempelboden. Außer dem Namen Sharraz Garthai verstand Uriens nichts.

Dann ließ Krohai noch mehr Sklaven heranholen und teilte weitere Spitzhacken unter ihnen aus.

Nach einer Stunde war die flache Grabkammer ganz freigelegt. Behutsam wurden die Trümmer herausgeholt, und Sharraz Garthai, der neu eingesetzte Verweser der von den Orks eroberten Reichsprovinzen, überwachte persönlich die Arbeit. Als die letzten Gesteinsbrocken beiseite geräumt waren, erkannte man, daß das Skelett inmitten eines großen Sonnenkreises lag. Noch sechs weitere Dolche steckten zwischen seinen Knochen. Einer im linken Unterarm, zwei in den Unterschenkeln, zwei waren durch die Augen gestoßen, und der sechste steckte ungefähr dort, wo das Herz war. Karyla hatte ihren Dolch wohl aus dem rechten Unterarm gezogen. Es war recht offensichtlich, daß hier etwas fehlte. Ängstlich blickte sich Uriens zu ihr um. Wenn herauskam, daß sie etwas aus dem Grab genommen hatten, war das ihr Ende!

Inzwischen betrachtete Sharraz Garthai das große Schwert, das auf der rechten Seite halb unter dem Skelett lag. Obwohl der prächtige Zweihänder schon unzählige Jahre in der Grabkammer gelegen hatte, zeigte er nicht die geringste Spur von Rost. Zufrieden grinste der Ork. Dann richtete er sich zur vollen Größe auf und rief in die Runde: »Fehlt hier was? Hat irgend jemand etwas aus diesem Grab genommen?«

Uriens schluckte. Gemurmel machte sich unter den Sklaven breit, die einander unsicher und verängstigt anschauten. Was würde jetzt kommen? Noch einmal blickte Uriens zu Karyla und sah, wie sie verstohlen den Dolch auf einen Erdhaufen fallen ließ und vorsichtig mit dem Fuß verscharrte.

Dann wendete sich Sharraz an ihn. Er hatte kurz etwas mit den Wächtern besprochen und sah Uriens nun mit stechendem Blick an.

»Du hast das Grab gefunden? War sonst noch etwas darin?«

Uriens schüttelte den Kopf. Sharraz winkte nach einem der Wächter. »Wir werden sehen«, murmelte der Ork.

Mit ihren grobschlächtigen Händen begann die Wache, ihn abzutasten und sagte dann irgend etwas zu Sharraz. Kalter Schweiß stand Uriens auf der Stirn. Sharraz zuckte mit den Schultern und wies die übrigen Orks an, alle Sklaven zu durchsuchen, die bei der Freilegung der Grabkammer geholfen hatten.

Karyla hatte sich mittlerweile ein gutes Stück von dem Erdhaufen entfernt, in dem der Dolch steckte. Sie war bereits durchsucht worden und grinste Uriens an.

Nun war der schmächtige Tjolmar an der Reihe. Leise fluchend näherte sich ihm Krohai. Der Junge wich einen Schritt zurück, stolperte in den Erdhaufen und legte im Sturz mit den Armen rudernd den Dolch frei. Krohai stieß einen überraschten Schrei aus, griff mit der Linken nach dem Knaben und nahm mit der Rechten die Waffe auf. Schon war Sharraz an seiner Seite, der vor Aufregung zunächst in der Sprache der Orks auf Tjolmar einredete. Dann beherrschte er sich wieder, blickte den jammernden Jungen kalt an und sagte so laut, daß es jeder auf dem Platz verstehen konnte:

»Der war wohl für den Rücken von einem meiner Männer bestimmt. Nun, wo du dich durch deine Tölpelhaftigkeit selbst verraten hast, wird dir der Dolch bei Sonnenuntergang den Weg zu Tairach weisen. Und alle, die ihr hier steht, werdet dabei zusehen. Das soll euch eine Lehre sein, nicht einmal daran zu denken, sich gegen meine Herrschaft aufzulehnen. Nun schafft diese Knochen auf den Schutthügel und stellt einen Pfahl für die Hinrichtung auf.«

Während der Verweser mit dem kostbaren Schwert den Platz verließ, musterte Uriens Karyla. Die Kriegerin sah bleich aus, aber sie machte keine Anstalten zu sagen, wer den Dolch wirklich gestohlen hatte. Sollte er sie verraten? Nachdenklich machte Uriens sich wieder an die Arbeit. Zunächst einmal galt es, den Wächtern nicht aufzufallen. Würde er noch weiter untätig herumstehen, bekäme er die Knute zu spüren.


Tjolmar hatten sie mitgenommen. Wütend brütete Uriens vor sich hin. In nicht einmal einer Stunde sollte der Junge geopfert werden. Ein Pfahl mit eisernen Ketten war bereits auf dem Schutthügel errichtet worden. Unheimlich grinsend lag der Schädel aus dem Grab neben dem Pfahl. Was würde passieren, wenn er Karyla verriet? Würde man den Jungen freilassen? Würde man beide dem blutgierigen Gott Tairach opfern? Würde man ihn selbst vielleicht auch noch dazustellen, weil er den Vorfall nicht sofort gemeldet hatte? Das Leben eines Sklaven zählte wenig bei den Orks. Bei ihren Siegen gegen die kaiserliche Armee hatten sie mehr als genug Gefangene gemacht. Noch vor einem halben Jahr war er ein eingebildeter Korporal gewesen, hatte einen Zug Thallusaner Bogenschützen kommandiert, und was war er jetzt?

Ein ehrloser Sklave, der feige zusah, wie ein Unschuldiger umgebracht wurde. Nein, er würde das nicht zulassen! Plötzlich riß ihn ein Schlag auf die Schulter aus seinen Gedanken. Karyla!

»Sag mal, mein kleiner Paradesoldat, gibt es nicht noch etwas, worüber wir zwei reden sollten?«

Unsicher sah Uriens die große Frau an, die ihn mit kalten grauen Augen musterte. Was meinte sie? Er hatte sie doch nicht verraten. Was wollte sie noch? Ihn vielleicht umbringen, damit er nichts ausplauderte? »Du schaust mich ja an wie ein Rotzbengel, dem man seinen Brei weggenommen hat. Es gibt etwas, worüber wir reden müssen. Du weißt zu viel, und ich fühle mich nicht wohl dabei, wie du die letzten zwei Stunden verstohlen zu mir herüber geschaut hast. Jetzt werde mal nicht gleich blaß, Kleiner! Ich schlag' dir schon nicht den Schädel ein. Jedenfalls noch nicht. Ich weiß mehr über dich, als du denkst. Deshalb würde ich jetzt gerne sehen, was du in deinen rechten Stiefel gesteckt hast.« Uriens schluckte. Dieses elende Grab hatte nichts als Unglück gebracht. Jetzt wollte sie ihm auch noch den Ring abnehmen! Langsam zog er den Stiefel aus und holte das Kleinod hervor.

Mit schnellem Griff riß Karyla ihm den Ring aus der Hand.

»Bei allen Göttern! Ein prächtiges Stück. So einen Ring habe ich noch nie gesehen. Wahrscheinlich hat er mal irgendeinem Praios-Priester gehört. Diese Sonnenanbeter lieben Gold und betrachten Greifen als Boten ihres Gottes. In Gareth könnte man sicher eine Menge Dukaten dafür bekommen. - Gib mir jetzt deine Spitzhacke!«

Uriens zögerte. Was wollte sie damit? Unsicher nahm er die Hacke in Brusthöhe, um sich gegen die Kriegerin zu verteidigen. Zu leicht wollte er es ihr nicht machen!

Karyla funkelte ihn an. »Du kleiner Dummkopf.« Sie nahm ihren schweren Hammer hoch, blickte plötzlich ganz freundlich und fragte: »Wollen wir nicht doch lieber miteinander reden? Ich habe dir doch gesagt, daß ich dir noch nichts tun will.« Im selben Moment rammte sie ihm den Stiel des schweren Hammers in den Magen. Uriens sackte zusammen und rang mühsam nach Atem. Während er noch fiel, trat die Kriegerin nach seinem Kopf. Uriens wurde herumgerissen und lag nun wehrlos auf dem Rücken. Breitbeinig stand sie über ihm. Dann ließ sie den Hammer zur Seite fallen. Bösartig grinste sie ihn an und bückte sich nach der Spitzhacke, die neben ihm lag. »Das machen wir anders, mein Kleiner.«

Verzweifelt blickte sich Uriens um. Nirgends war eine Wache zu sehen. Karyla hatte die Hacke hoch über seinen Kopf erhoben. In Panik versuchte er, sich ihr zu entwinden, doch die Kriegerin hatte einen Fuß auf seine Brust gestellt und drückte ihn zu Boden. Jetzt war es vorbei. Die Hacke sauste auf ihn herab. Mochten die Zwölfgötter ihn gnädig aufnehmen!

Hart schlug die Hacke unmittelbar neben seinem Kopf auf den Tempelboden. Lachend warf die Kriegerin die Spitzhacke beiseite. »Na, hast dich wohl schon in Borons Hallen gesehen! Wie es scheint, hat der Totengott heute noch keinen Gefallen daran gefunden, dich in seinem Reich zu begrüßen.«

Dann setzte sie ernster hinzu. »Das war eine Warnung. Du solltest nicht einmal daran denken, mich zu verraten.«

Mühsam setzte Uriens sich auf. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Sein Bauch schmerzte, und sein Kopf dröhnte. Karyla hockte vor ihm und griff nach etwas auf dem Boden. Uriens sah noch ganz verschwommen. Er rieb sich mit der Hand die Augen. Karyla hielt ihm irgend etwas hin und redete. Dann sah er etwas klarer. Es war der Ring. Sie hatte ihn mit ihrem Hieb in zwei Hälften gespalten.

»... Wir werden jetzt auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sein. Nimm dir schon eine Hälfte. Wenn jeder eine Hälfte des Rings hat, kann keiner den anderen verraten. Würdest du den Orks von der Sache mit dem Dolch erzählen, brauchte ich nur den Ring zu erwähnen und meine Hälfte vorzeigen! Selbst wenn du deinen Teil weggeworfen hättest, denke ich, daß sie mir meine Geschichte glauben würden. Ich brauchte nur zu behaupten, du hättest ihn irgendwo versteckt. Und dann würde ich noch von all den anderen Schmuckstücken erzählen, die du aus dem Grab geraubt hast. Schließlich hast du ja die Grabkammer entdeckt. Ich bin sicher, daß man mir glauben würde! Und dann zaubere mal einen Schatz hervor, wo es keinen gibt. Du würdest wahrscheinlich sogar vor mir sterben, während die Orks auf der Folter Antworten aus dir herausholen wollen, die du beim besten Willen nicht geben kannst. Also sieh ein, daß unser Schicksal von nun an miteinander verbunden ist.«

Lange blickte Karyla Uriens an. Dann drückte sie ihm eine Hälfte des Ringes in die Hand und ging durch die Tempelruine zum Schutthügel. Noch immer war Uriens ganz benommen von ihren Schlägen. In der Ferne donnerte es, und ganz in der Nähe ertönte dumpfer Trommelschlag. Uriens richtete sich auf. Schwarz hob sich der Hinrichtungspfahl auf dem Hügel gegen den blutroten Himmel ab. Wieder donnerte es. Es würde ein Gewitter geben. Eine Wache kam und holte die beiden. Alle Sklaven sollten der Hinrichtung zusehen. Würden die Götter eine solche Ungerechtigkeit dulden?


Uriens fühlte sich schlecht. Tjolmar war tot, und er hatte bei der Hinrichtung zugesehen. Die Götter würden ihn verfluchen! Er war verdammt. Wie konnte er nur zu einem solchen Feigling werden. Es war gräßlich gewesen, die Tairach-Priester zu beobachten, wie sie den armen Jungen ermordeten. Er hatte lange gelitten, bevor er endlich sterben durfte. Noch immer hallten seine Schreie in Uriens Ohren. Karyla hatte bei der Hinrichtung ganz gelassen gewirkt. Ihr schien das alles nichts ausgemacht zu haben. Als die Priester die Opferung beendet hatten, waren sie von oben bis unten mit dem Blut des Jungen bespritzt. Sie mußten ihm Drogen gegeben haben, denn er war bis zuletzt bei Bewußtsein und hatte geschrien, hatte miterlebt, wie sie seinen Körper grausam verstümmelten. Zuletzt schnitten sie ihm das Herz aus der Brust und reichten es Sharraz Garthai. Uriens wurde übel, wenn er sich an diese Szene auch nur erinnerte. Der Stadtkommandant hatte das rohe Fleisch gegessen!

Danach brachte man die Sklaven in ihre Baracken nahe dem Schutthügel, vier grob gezimmerte Hütten, die kaum Schutz gegen Wind und Wetter boten. Solide war hier nur der schwere Balken, der durch die Mitte der Hütte lief und fest im Boden verankert war. In ihn waren Eisenringe eingelassen, an die man sie abends ankettete.

Uriens betrachtete seinen Knöchel. Der Eisenring an seinem linken Fuß hatte das Leder des Stiefels fast durchgescheuert. Ihm ging es immer noch besser als den anderen, denen man diesen Sklavenring ums nackte Fleisch gelegt hatte. Sie waren ständig wund gescheuert und hinkten, wenn es morgens zum Essen ging.

Draußen blitzte und donnerte es. Die Götter machten ihrem Zorn Luft. Vielleicht würde Rondra, die Herrin der Stürme und Göttin des Krieges, sie dafür strafen, daß sie zugesehen hatten, wie der unschuldige Tjolmar sein Leben ließ. Sollte sie doch die Hütte mit ihrem Blitz in Brand setzen, so daß er und die anderen, angekettet wie sie waren, bei lebendigem Leib verbrennen würden!

Uriens wickelte die Decke enger um seine Schultern und versuchte, sich so in seine Ecke zu verkriechen, daß er nicht in einer der zahllosen Pfützen lag. Karyla schlief. Sie machte ein ganz entspanntes Gesicht. Hatte diese Frau kein Gewissen? Kein Alptraum schien sie zu quälen. Wahrscheinlich hatte sie den Tod von Tjolmar längst verdrängt. Uriens biß sich auf die Lippen. Er mußte einen Weg finden, sie ihrem gerechten Schicksal zuzuführen. Finster brütete er vor sich hin. Wenn er sterben sollte, war ihm das gleichgültig. Er hatte nur Angst davor, so zu sterben wie der Junge am Pfahl. Diese gräßliche Marter. Das war zuviel für ihn. Ein tödlicher Schlag, ein schnelles, schmerzloses Ende - so etwas wünschte er sich. Aber Karyla sollte leiden!

Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Sturmwind rüttelte an den Barakken, und hin und wieder durchzuckte ein Blitz die Dunkelheit. Gleißendes Licht fiel dann durch die tausend Ritzen der Hütte und verwandelte den Raum für Augenblicke in ein bizzares Muster aus Licht und Schatten. Wäre die Welt nur so einfach wie dieses Spiel der Sturmgöttin. Gäbe es nur Hell und Dunkel, Gut und Böse! Uriens wußte nicht mehr, auf welcher Seite er sich sehen sollte. Er mußte den Tod des Jungen sühnen, oder er war verdammt. Verdammt, weil er mit all den anderen bei der Schändung des Praios-Tempels geholfen hatte. Verdammt, weil er einen Toten bestohlen hatte, und verdammt, weil er ein elender Feigling war.

Eine neue Sturmbö ließ die Baracke erbeben. Als wäre er ein lebendiges Wesen, griff der Wind nach der Tür der Hütte und rüttelte an ihr. Uriens gab sich weiter seinen düsteren Gedanken hin. Doch dann schreckte er plötzlich auf. Was war das? Der Wind hatte sich gelegt, und noch immer schüttelte es die Tür. Unsicher blickte Uriens ans andere Ende der Baracke. Wer konnte versuchen, hier einzudringen? Wollte man sie befreien? Die Greifenfurter Bürger hatten bisher nichts für sie getan. Im Gegenteil. Angespuckt und verflucht hatte man sie, weil sie für die Orks den Tempel des Sonnengottes einrissen.

Der Lärm an der Tür hatte sich gelegt. Angestrengt lauschte Uriens. Ein leises Geräusch wie schlurfende Schritte war zu hören. Oder täuschte er sich? Wieder fegte der Sturmwind gegen die Hütte. Für einen Moment war außer dem Toben des Windes und dem Knarren der Bretter nichts zu hören. Dann war das schlurfende Geräusch wieder da. Wer auch immer dort draußen um die Hütte schlich, er würde jeden Augenblick an ihm vorbeikommen. Angestrengt versuchte Uriens, durch einen Spalt nach draußen zu sehen. Zwischen den Sturmwolken stand das Madamal hoch am Himmel und tauchte die Nacht in silbernes Licht. Ein leises Kratzen war zu hören. Ganz so, als würde man mit einem dürren Zweig über die Bretter der Baracke fahren. Nur noch wenige Augenblicke, und die Schritte würden um die Ecke der Baracke kommen. Langsam schob sich eine große Wolke vor das Madamal. Uriens wünschte sich, der Fremde würde ein klein wenig schneller gehen. Das Madamal war ganz hinter den Wolken verschwunden. Man konnte fast nichts mehr sehen. Jetzt kamen die Schritte um die Ecke der Hütte und mit ihnen das kratzende, tastende Geräusch. Suchte der Fremde vielleicht ein lockeres Brett, um es herauszureißen und in die Baracke schauen zu können? Jetzt blieb er genau vor ihm stehen. Das Kratzen wurde heftiger. Ein leises Knirschen und Knacken von splitterndem Holz war zu hören. Der Fremde machte sich an dem Spalt zu schaffen, durch den Uriens in die Finsternis gestarrt hatte.

»Wer dort?« flüsterte er mit heiserer Stimme.

Mit einem leisen Knall splitterte ein Brett der Barackenwand. Dann tauchte ein Blitz die Szene in grelles Licht. Eine skelettierte Hand schob sich durch den verbreiterten Spalt und angelte ziellos in der Luft. Mit einem Schrei sprang Uriens so weit in die Hütte zurück, wie es seine Fußfessel nur zuließ, stolperte über zwei Schlafende und schrie wieder.

Murrend wurden die anderen Sklaven wach. »Halt's Maul!« murmelte sein Nachbar und versuchte, ihn zu treten. Ein anderer fragte verschlafen: »Was ist denn los? Laß uns schlafen!«

»Draußen ist es nicht geheuer!« schrie Uriens mit schriller Stimme. »Irgend etwas versucht, in die Hütte einzudringen!«

Wieder ließ der Sturm die Baracke erbeben.

»Du hast wohl schlecht geträumt?« drang es aus einer Ecke. »Gib Ruhe und leg dich wieder hin.«

Erneut war das Rütteln an der Tür zu hören.

»Da hört ihr?« schrie Uriens. »Es versucht hereinzukommen.«

»Du träumst, du Hasenfuß. Das ist doch nur der Wind!« erklang die verächtliche Stimme von Karyla durch die Hütte.

»Welcher Wind?« fragte Uriens. »Jetzt ist es windstill.«

Es wurde ruhig in der Baracke. Draußen war es wirklich windstill. Das Tosen des Sturms hatte sich gelegt. Wieder tauchte ein Blitz die Hütte für einen Augenblick in Licht. Jeder konnte das Rütteln an der Tür hören. Die Tür erbebte in den Angeln und würde dem Ansturm nicht mehr lange standhalten.

»Wer da?« rief Karyla in die Finsternis.

Wie zur Antwort hörte das Rütteln an der Tür auf. Einen Augenblick war nur der erneute Ansturm des Windes zu hören. Dann erklang eine Stimme, dumpf, leise und doch auf unheimliche Weise für jeden in der Baracke deutlich zu verstehen. Zuerst waren nur knurrende Laute zu hören und dann das Wort »Henker«. Einen Augenblick schwieg der Fremde vor der Tür, und dann sagte er unendlich langsam, so als ob er sich an jedes einzelne Wort mühsam erinnern müßte: »Hier - steht - euer - Henker.«

Wimmernd warf sich Uriens auf den Boden. »Das ist der Tod. Boron hat uns seinen Todesboten geschickt, um uns zu strafen.«

Ein gewaltiger Schlag krachte gegen die Tür. Ein Brett zersplitterte. Einige Sklaven begannen, lauthals zu allen Zwölfgöttern zu beten. Andere schrien um Hilfe. Mit Mühe versuchte Karyla, Ruhe zu gebieten. »Was seid ihr für Memmen! Habt ihr vergessen, daß wir alle Soldaten sind! Wer auch immer dort draußen steht. Er macht einen Fehler, wenn er sich mit zehn von uns anlegt. Wir dürfen nur nicht in Panik geraten.« »Wie sollen wir uns denn wehren?« erklang eine andere Stimme. »Wir sind angekettet und haben keine Waffen.«

»Brauchst du zum Töten wirklich eine Waffe?« kam es verächtlich von Karyla zurück. »Laßt mich vor. Meine Kette reicht bis kurz vor die Tür. Ich werde euch zeigen, wie ein Krieger siegt oder stirbt. Auf keinen Fall werde ich hier warten, bis sich mein Schicksal erfüllt.«

Mit einem Knall zersplitterte ein weiteres Brett der Tür. Beim nächsten Schlag hörte man, wie eine Angel aus dem Türrahmen riß. Dann stürzte die Tür in die Baracke. Geschickt wich Karyla aus und wappnete sich, dem Fremden an die Kehle zu springen. Vor der Tür war nur ein Schatten zu sehen. Doch dann zerrissen die Wolken vor dem Madamal. Silbernes Licht erhellte die Nacht, und selbst Karyla machte einige Schritte entsetzt zurück, als sie sah, was im Türrahmen stand.

Auf den ersten Blick sah es aus wie das blutverschmierte Skelett eines Menschen. Alle Sklaven hatten schon Geschichten von Schwarzmagiern gehört, die die Knochen von Toten mit neuem, unheiligem Leben erfüllten. Doch dies hier war anders. Mehr dämonisch als menschlich. An einigen Stellen klebte blutiges, rotes Muskelfleisch an den Knochen. Der Schädel erinnerte an ein Raubtier. Gierige, lange Fangzähne füllten die bleichen Kiefer, und die skelettierten Hände glichen Klauen. Langsam näherte sich das Monstrum Karyla, die ein wenig zur Seite auswich. Alle anderen Sklaven waren so weit zurückgewichen, wie es ihre Ketten zuließen, und sahen wie gebannt dem ungleichen Kräftemessen zu. Mit einem raschen Schlag versuchte das Monstrum der Kämpferin die Kehle aufzureißen. Behende sprang Karyla zur Seite, und die Klauen fuhren ins Leere.

Karyla stand der Angstschweiß auf der Stirn. Ihr war klar, daß sie diesen ungleichen Kampf nicht gewinnen konnte. Nicht mit der Kette am Fuß. Irgendwann würde ihr kein Spielraum mehr bleiben, um auszuweichen. Aber bis dahin wollte sie durchhalten. Sie hatte als Söldnerin viele Fehler in ihrem Leben gemacht, doch dieser letzte Kampf sollte alles ausgleichen. Wieder wich sie einem der Schläge ihres dämonischen Gegners aus. Sie durfte jetzt nicht feige sein. Dann wäre ihr ein Platz an der Ehrentafel der Kriegsgöttin gewiß. Weglaufen konnte sie ohnehin nicht. Erneut entkam sie einem Hieb. Verzweifelt versuchte sie, nach ihrem Gegner zu treten. Doch geschickt wich dieses Monstrum aus und versetzte ihr einen Schlag in die Rippen. Karyla taumelte. Ein zweiter Schlag traf sie am Arm und riß sie von den Beinen. Dieser Treffer hatte ihr das Fleisch bis auf den Knochen zerfetzt. Mühsam unterdrückte sie den Schmerz. Die Bestie bückte sich langsam nach ihr. Kein Zweifel, gleich würde es ihr die Kehle zerfetzen. Fieberhaft suchte sie einen Ausweg. Vielleicht hatte dieses Monster doch ein wenig Menschliches an sich. Schon oft hatte sie ihre Gegner durch Spott zu Fehlern verleitet. Tödlichen Fehlern!

Mit vor Schmerz gepreßter Stimme stammelte sie: »Du machst es dir verdammt leicht. Eine Gefesselte zu überwinden ist ein Kinderspiel. Ist das deiner würdig? Hol von draußen eine Hacke, um meine Kette zu zerschlagen, und kämpf dann mit mir. So wird das Spiel für dich interessanter.«

Ihre Worte zeigten Wirkung. Das Monstrum verharrte einen Moment. Dann beugte es sich tiefer und griff mit seinen Klauen nach der Kette. Einen Augenblick leisteten die schweren Eisenglieder Widerstand. Dann zerriß die Kette.

Wohl tausendmal hatte Karyla selbst versucht, sich ihrer Sklavenkette zu entledigen. Nichts hatte sie damit erreicht. Und dieses Monstrum zerriß sie mühelos wie einen Bogen Pergament. Wenn sie in diese Klauen geriet, würde sie zerfleischt wie ein ROTPÜSCHEL, das der Habicht geschlagen hat. Ohne noch einen Moment weiter zu überlegen, nutzte Karyla die Gelegenheit und stürzte auf die offene Tür zu. Doch irgend etwas hinderte sie daran, die Schwelle zu überschreiten. Es war, als würde sie gegen eine unsichtbare Mauer rennen. Verzweifelt suchte sie einen Durchschlupf. Dann zerrte sie eine Klauenhand grausam herum. Der nächste Hieb riß ihr das Fleisch von der Brust. Ihre Rippen brachen wie dürre Äste. Blut quoll ihr über die Lippen. Nur verschwommen sah sie noch, wie sich das Monstrum über sie beugte, als wolle es ihr mit den Fangzähnen die Kehle herausreißen. »Rondra, sei mir gnädig!« dachte Karyla noch, als ihr ein neuer Schmerz die Sinne raubte.


Sharraz Garthai war äußerst zufrieden mit sich. Er genoß das Vertrauen des Schwarzen Marschalls. Nach dem großen Sieg bei Orkenwall hatte er ihn als Verweser der neuen Provinz Finstermark eingesetzt. Es war leicht, die Menschen hier zu unterdrücken. Die vernichtenden Siege der Orks hatten jeden Widerstand gebrochen. Nur selten hatte er jemanden hinrichten lassen. Vielleicht sogar zu selten. Die Tairach-Priester murrten und sagten, der Blutgott bekomme seinen Tribut nicht. Nun, heute hatte man ihm Tribut gezollt. Obwohl sich dieser Mensch äußerst unwürdig verhalten hatte. Er war ein Krieger gewesen, den sie wie all die anderen Sklaven bei Orkenwall gefangen hatten. Doch statt sich wie ein Krieger zu verhalten, hatte er bei der Hinrichtung ohne Unterlaß geschrien. Diese Nackthäute waren einfach zu schwach. Nun wo Ashim Riak Assai die Stämme geeint hatte und Sadrak Whassoi die Krieger anführte, würde ihnen nichts mehr widerstehen können. Die sieben Dolche, die man heute mittag gefunden hatte, würde er Marschall Whassoi schicken. Es war wichtig, sich seine Freundschaft zu erhalten. Das prächtige Schwert wollte Sharraz selbst behalten. Diese Klinge war etwas Besonderes. Sie war mehr als nur ausgezeichnet gearbeitet und perfekt ausgewogen. Irgendeine Kraft wohnte in ihr. Das konnte er deutlich spüren, und vor wenigen Stunden hatte ihn sein Schamane noch vor dieser Waffe gewarnt. Konnte ein Schwert Unglück anziehen? Geschichten gab es genug über verfluchte Waffen. Er selbst hatte aber noch nie eine dieser Waffen gesehen. Als er das mächtige Schwert zum ersten Mal berührte, hatten sich seine Haare gesträubt, er war einen Moment lang erschrocken, doch jetzt war es angenehm, den Griff der Klinge zu berühren. Sharraz erinnerte sich wieder an seine zahllosen Kämpfe. Er würde gerne wieder mit dem schwarzen Marschall in die Schlacht ziehen. Diese Waffe brauchte Blut, ging es ihm durch den Kopf. Sie hatte viel zu lange im Grab gelegen. Das konnte nicht gut für ein solches Schwert sein.

Draußen heulte ein Sturm. Das Gewitter hatte sich verzogen. Heute würde er nicht mehr in die ›Fuchshöhle‹ gehen. Das ehemalige Offiziersbordell im Torturm war zu seiner liebsten Abwechslung geworden. Sehr schnell hatten sich die Liebesdienerinnen dieses Hauses auf die neuen Herren der Stadt eingestellt. Doch das Beste waren nicht die Huren, sondern der Magier des Bordells. Er konnte beliebige Illusionen erzeugen, um den Spaß an der Sache noch zu verfeinern. Sharraz schmunzelte in sich hinein.

Plötzlich riß eine Sturmbö die hölzernen Fensterläden des Turmzimmers auf. Fluchend stürzte Sharraz durch das Zimmer und stolperte über einen Schemel. Der Wind hatte alle Kerzen im Raum gelöscht. Das matte Glimmen der herabgebrannten Holzscheite im Kamin verstärkte mehr die Dunkelheit, als daß es Licht spendete. Es kam Sharraz ungewöhnlich kalt vor. Sein Nackenhaar sträubte sich. Etwas stimmte nicht! Er hatte den Eindruck, daß außer ihm noch etwas im Zimmer war. Er bedauerte, das Schwert bei seinem Lehnstuhl gelassen zu haben. Er wurde aus der Dunkelheit beobachtet. Hatte er da nicht ein Atmen gehört? Jetzt war es wieder still, abgesehen vom Heulen des Sturms.

»Sharraz, du hast etwas, das mir gehört!« tönte es aus der Finsternis. Unsicher griff der Ork nach dem Dolch an seinem Gürtel.

»Laß das, es würde dir ohnehin nicht nützen!« sagte die Stimme. Wer es auch war, er beherrschte die Sprache der Orks. Bei Feinden hatte Sharraz das nur selten erlebt. Er nahm die Hand vom Griff des Dolches. »Setz dich wieder in deinen Sessel, und ich werde mich dir zeigen!« ertönte es.

Sharraz gehorchte. Er mußte sich wieder beruhigen. Was konnte ihm schon passieren? Ein Schrei von ihm, und Wachen würden den Raum stürmen. Die Stimme machte ihm Angst. Sie hatte einen Klang, wie er ihn noch nie gehört hatte. Oder war das nur seine Angst? Ein Schatten näherte sich dem Kamin. Noch einige Schritte, und er würde den Fremden sehen.

Vor Schreck krampften sich Sharraz' Finger in die Sessellehnen. Es kostete Mühe, nicht in Panik aufzuspringen. Was da vor ihm stand, war so groß wie ein riesiger Mann und sah auch entfernt so aus. Aber nur entfernt! Das Wesen war nackt. Nackt auf eine Art, die den Verstand kosten konnte. Es trug nicht nur keine Kleider, es sah so aus, als wäre es frisch gehäutet. Blut tropfte vom rohen Fleisch dieses Ungeheuers auf den Boden vor dem Kamin. Auch das Gesicht hatte nur mit viel Vorstellungskraft menschliche Züge. Doch erinnerten die langen Fangzähne mehr an einen Wolf. Und erst die Krallen, die dort saßen, wo man Hände erwartet hätte!

»Betrachte mich als einen Gesandten deines Blutgottes. - Euer Opfer heute abend hat ihn sehr erfreut. Doch es war zu wenig Blut! Er hat mich geschickt, um seinen Tribut einzutreiben. Ich habe ihm noch neun Leben gegeben. Du wirst die Toten in einer der Sklavenhütten am Tempelplatz finden. Den einzigen, der noch lebt, schone! Er kennt den Tag, an dem der Tod dich hier in Greifenfurt suchen wird. Nur wenn du die Stadt verläßt, kannst du deinem Schicksal entgehen. Behandle ihn gut! Ich habe ihm seinen Hochmut ausgetrieben. Er ist nun einer, den die Hand der Götter berührt hat. Und man sieht es ihm an! Viele würden einfach sagen, er ist wahnsinnig, aber das ist falsch. Er hat nur mehr gesehen, als Menschen verkraften können. Gib ihm seine Freiheit! Sorge dafür, daß er genug zu essen und ein Dach über dem Kopf bekommt, denn manchmal wird er mir als Diener nützlich sein. - Und nun gib mir das Schwert, das man heute gefunden hat. Es ist nicht für die Hände Sterblicher bestimmt.«

Sharraz zögerte einen Moment. Konnte dies ein Bote Tairachs sein? Dieser blutende, verstümmelte Körper? So etwas hatte er noch nie gesehen, ja noch nicht einmal davon gehört. Er würde dem Fremden gehorchen. Eine Stimme in seinem Inneren riet ihm dazu. Es war die Ahnung, daß er sich diesem Wesen nicht widersetzen konnte.

Sharraz griff nach dem großen Schwert, das an seinem Sessel lehnte. Vorsichtig reichte er es der Kreatur, die ein zufriedenes Grunzen von sich gab. Dann bewegte sich dieses Geschöpf der Finsternis auf das Turmfenster zu, stieß kraftvoll die Läden auf und verschwand in der stürmischen Nacht.

Sharraz stürzte zum Fenster. Angestrengt blickte er in die Dunkelheit, aber es war nichts mehr zu sehen. Was auch immer das gewesen sein mochte, die Nacht hatte es verschluckt. Dann rief er nach seinen Wachen. Er mußte sehen, was bei den Sklavenbaracken vorgefallen war.


Der Anblick, der sich Sharraz und seinen Kriegern bot, war schrecklich. Zerrissene Leiber bedeckten den Boden der Hütte. Was er hier sah, erinnerte ihn an etwas, daß er vor Jahren gesehen hatte, als er in einem strengen Winter auf der Jagd in eine sehr einsame Bergregion gekommen war. Dort hatte er die Reste einer versprengten Orkfamilie entdeckt, die einem Rudel Wölfe zum Opfer gefallen war. Noch einmal musterte er die Toten. Warum auch immer die Sklaven getötet worden waren, das Monster schien es nicht auf ihr Fleisch abgesehen zu haben. Dafür war erstaunlich wenig Blut zu sehen. Sollte dieses Geschöpf doch ein Gesandter Tairachs, des Blutgottes, gewesen sein?

Der Überlebende, der angeblich prophetische Gaben haben sollte, war schwer zu finden gewesen. Er sah nicht besser aus als die Toten. Sein Gesicht war zerfetzt. Sharraz war sich nicht sicher, ob der Mann überhaupt noch diese Nacht überstehen würde. Es schien jener Kerl zu sein, der am Morgen das Grab gefunden hatte. Sharraz wußte, daß er vor seinen Männern eine Erklärung abgeben mußte, sonst würde es die wildesten Gerüchte und vielleicht sogar Unruhen geben. Die meisten fühlten sich ohnehin nicht wohl in der Stadt.

»Das ist ein Zeichen der Götter!« erhob Sharraz seine Stimme. »Tairach hat unser Opfer gnädig aufgenommen und sich noch mehr Blut geholt. Das ist ein Beweis seiner Gnade. Wir werden die Heere der Menschen zermalmen, so wie er diese Sklaven zermalmt hat. Wir werden ihm unseren Dank beweisen und morgen noch ein Opfer bringen.«

Ehrfürchtiges Gemurmel erhob sich unter den Kriegern. Kein Zweifel, sie hatten Sharraz geglaubt.

»Wir werden finden, wonach wir für Aikar Brazorach suchen. Vergeßt nicht, daß wir für ihn, den göttergesandten Streiter hier sind, den Sohn des Jenseits und Bewahrer der Vergangenheit. Er allein wußte noch, was unter dem Tempelhügel liegt. Haben wir es erst gefunden, werden unsere Armeen unschlagbar sein.«

»Was ist mit dem Mann, der überlebt hat?« fragte einer der Krieger. »Er ist von Tairach gezeichnet. Wenn der Gott ihn verschont hat, wird er vielleicht durch dessen Körper zu uns sprechen, so wie die Geister der Ahnen in die Schamenen einfahren. Bringt ihn zum besten Heiler der Stadt. Er darf nicht sterben!«

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