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Darrag der Schmied lehnte an der Brüstung der Ostmauer und sah den Bürgern bei einer Übung an den Geschützen zu. Die Hoffnung auf einen schnellen Entsatz durch die Kaiserlichen hatten mittlerweile alle fahren lassen, und doch stand es um die Moral in der Stadt besser denn je. Die Orks machten einen Fehler, indem sie nicht gegen Greifenfurt vorrückten. Viele waren bereits der Überzeugung, daß die Schwarzpelze sich davor fürchteten, die Mauern berennen zu müssen. Dachte man an Lowangen, das ein ganzes Jahr den Angriffen des Orkheeres standgehalten hatte, oder an das Kloster von Marano, in dem wenige Ritter und Mönche für etliche Tage den Vormarsch der Orkarmee aufgehalten hatten, so konnte man sicher sein, daß auch Greifenfurt nicht schnell fallen würde.

In den letzten zwei Wochen hatte Marcian fieberhaft die Vorbereitungen für die Verteidigung vorangetrieben. Im Umkreis von zweihundert Schritt waren jeder Busch und jeder Baum vor den Stadtmauern gerodet worden, damit die Angreifer über keinerlei natürliche Deckung verfügten. Die wenigen dürren Sträucher, die stehengeblieben waren, dienten als Landmarken für die Geschützbedienungen, die so besser die Entfernungen zu den Angreifern abschätzen konnten. Etliche Karrenladungen voller Steine waren herangebracht worden, damit die wenigen Katapulte in der Stadt auch über genügend Munition verfügten. Der Wahrsager Yonsus hatte sich als guter Mechaniker bewährt und von Marcian das Kommando über alle Geschütze der Stadt erhalten. Mit fünfzig Männern und Frauen war er unermüdlich im Einsatz, um die Artillerie in einen einsatzfähigen Zustand zu bringen. Die langen Jahre des Friedens waren den Böcken und Rotzen, wie man die verschiedenen Geschütze im Wehrheimer Landserjargon nannte, nicht gut bekommen. Die Seile waren verrottet, etliche Metallteile rostig und manche Lafette von Holzwürmern zerfressen. Mit den besten Schreinern der Stadt waren die dringendsten Reparaturen erledigt worden, doch trotz aller Bemühungen konnte man die Artillerie von Greifenfurt nicht anders als bescheiden nennen. Doch das sollte sich ändern. Heute nachmittag würde Darrag mit seinen Rekruten einen Wagenzug zu dem Wald auf halbem Weg nach Greifenfurt begleiten. Dort sollten sie einen Tag lang Bauholz schlagen, um die Vorräte in der Stadt aufzustocken. Das beste Material würde zum Bau neuer Geschütze verwendet werden.

Darrag blickte von der Mauer auf seine Schützlinge. Langsam fingen sie an, sich etwas geschickter im Schwertkampf anzustellen. Hundert Männer und Frauen übten mit Holzschwertern und leichten Lederschilden. Sie hatten zwei große Gruppen gebildet und waren in Schlachtlinien aufeinander zu marschiert. Leider brachen ihre Formationen im Eifer des Gefechts immer wieder auf. Geschah das im Kampf gegen die Orks, würde es das Ende bedeuten. Die Schlachtlinie, in der jeder Kämpfer auch seinen Nachbarn deckte, war der einzige Vorteil, den sie gegenüber den Schwarzpelzen hatten, die den Einzelkampf bevorzugten. Im Gefecht Mann gegen Mann waren die Orks einfach besser.

Darrag feuerte die Kämpfer der Partei an, die zu unterliegen drohte. Sie wichen immer weiter gegen die Stadtmauer zurück. Würden sie die Gegner jetzt nicht zum Stehen bringen, war ihre Sache verloren, denn bald würden sie so sehr zusammengedrängt sein, daß sie kaum noch die Schwerter über die Köpfe erheben konnten.

Gespannt schaute der Schmied dem Übungskampf zu. Die Gruppe vor der Mauer hatte verloren. Die hintere Linie stand bereits mit dem Rükken zur Wand.

»Legt die Waffen nieder! Schließlich sollt ihr euch nicht so verprügeln, daß ihr heute mittag nicht mehr marschieren könnt. Die Übung ist beendet. Geht nach Hause, holt euch Verpflegung für zwei Tage und seid zur Mittagsstunde in voller Ausrüstung vor dem Andergaster Tor!« Darrag mußte schreien, um den Lärm der aufeinanderprallenden Holzwaffen zu übertönen.

Müde ließen die Bürger ihre Waffen sinken. Die Ausrüstung der Kämpfer war erbärmlich, und dabei waren diese Hundert noch die besten, die seinem Kommando unterstanden. Vor einer Woche hatte Marcian die Stadt in vier Bezirke unterteilt. Jeder Bezirk unterstand einem Offizier, der alle waffenfähigen Bürger um sich zu sammeln hatte und für deren Ausbildung und Arbeitseinsatz zuständig war. Darrag hatte fast sechshundert ›Kämpfer‹ aufgestellt, doch die meisten von ihnen taugten so wenig, daß sie es nicht einmal zu dritt mit einem Ork hätten aufnehmen können.

Darrag stieg die Mauer hinab. Seine Frau wartete auf ihn. In den letzten Wochen hatten Misira und die Kinder wenig von ihm gehabt. Tagsüber mühte er sich ab, um aus Sensen Speere zu machen. Abends übte er mit seinen Schützlingen auf den Feldern vor der Stadt, und nachts mußte er an den Offiziersversammlungen im Palas der Burg teilnehmen. Doch Misira murrte nicht. Sie hatte sich als starke Frau erwiesen. Schnell war sie zu einer der Unterführerinnen in seiner Truppe aufgestiegen, und einmal hatte sie es sogar geschafft, ihn im Schwertkampf zu besiegen. Sie war zwar viel schwächer als er, aber dafür erstaunlich gewandt. Zerwas hatte ihr einige Übungsstunden im Schwertkampf gegeben, mit dem Resultat, daß sie um Darrag herumgetänzelt war wie eine wütende Hornisse.

Misira stand in der Schmiede. Sie beaufsichtigte die Gesellen, während Darrag die Bürgerwehr drillte. Wieder einmal empfing sie ihn mit besorgtem Gesicht. Nach einem flüchtigen Kuß eilte sie in den kleinen Wohnraum hinter der Werkstatt und kam mit Brot, einem Weinschlauch und etwas Hühnerfleisch zurück, das sie in ein Leinentuch eingeschlagen hatte.

»Mußt du wirklich gehen? Kann nicht ein anderer die Holzfäller begleiten?«

Darrag haßte diese Diskussionen. Seit Yonus der Wahrsager ihr prophezeit hatte, ihr Mann würde nicht in Greifenfurt sterben, gab es jedesmal dasselbe Gerede, wenn er die Stadt verließ.

»Schau, mein Schatz, morgen nachmittag bin ich wieder zurück. Wir haben nicht vor, die Orks zu überfallen. Überraschungsangriffe sind die Sache des Obristen von Blautann und seiner Reiter.« Genausogut konnte er gegen eine Wand reden. Noch immer blickte ihn Misira mißmutig an.

»Und was ist, wenn die Orks euch einmal überraschen? Ein Trupp aus Holzfällern und Rekruten wäre doch ein lohnendes Ziel.«

»Unsinn! Wir haben das gestern alles in der Offiziersrunde durchgesprochen. Die Aufgabe ist völlig ungefährlich. Die Orks bewegen sich seit Wochen nicht vom Fleck. Mach dir keine Sorgen! Die Sache ist völlig ungefährlich.«

»Dann nimm mich doch mit!«

Darrag wurde ärgerlich. »Du weißt doch genau, daß ich dich hier in der Schmiede brauche. Außerdem muß auch jemand nach den Kindern schauen.«

»Unsere Nachbarin kann für einen Tag nach den Kleinen schauen, und deine Gesellen werden auch eine Weile ohne uns auskommen. Ich habe schon alles geregelt.«

»Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Warum muß ausgerechnet ich eine Frau haben, die glaubt, alles über meinen Kopf hinweg planen zu können?«

Misira schaute bekümmert zu Boden. Darrag taten seine harten Worte leid. Er nahm seine Frau in den Arm und drückte sie an sich. »Bitte versteh doch, daß ich dich nicht mitnehmen kann! Ich könnte nicht mehr kommandieren, vor Sorge, dir könnte etwas zustoßen. Es ist wirklich nicht gut, wenn du mitkommst.«

Misira schluckte. »Was glaubst du eigentlich, wie ich mich fühle, wenn ich auf der Mauer stehe und dir nachschaue, bis du mit deinen Rekruten zwischen den Feldern am Horizont verschwunden bist?«

Darrag drückte sie fester. »Verzeih mir, wenn ich dir solchen Kummer bereite!« Zärtlich hob er ihr Kinn mit seiner schwieligen Hand und blickte sie lange an. »Ich werde morgen wieder hier sein und dich in den Arm nehmen! Und jetzt wünsch mir Glück. Ich muß gehen. Meine Männer warten vor dem Tor.«

Noch einmal küßte er sie, dann machte er sich auf den Weg zum Tor. Darrag haßte Abschiedsszenen.


Der Schmied wischte sich den Staub aus dem Gesicht und blickte an der Marschkolonne entlang. Fast zweihundert Greifenfurter standen unter seinem Kommando: die hundert besten Schwertkämpfer aus seiner Bürgerwehreinheit, ein Haufen bunter, zerlumpter Gestalten sowie dreißig Kutscher, die alle nur erdenklichen Fuhrwerke der Stadt zusammengebracht hatten, und dreißig Bogenschützen, die er von Lysandra zugeteilt bekommen hatte. Alle Freischärler waren beritten und dienten als Kundschafter. Im Grunde galt das Land nördlich von Greifenfurt zwar als sicher, aber Darrag wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Der Schmied blickte zum Himmel. Etwas mehr als eine Stunde mochte es noch dauern, bis sie den Wald erreichten. Der staubige Feldweg, auf dem sich Karren und Fußsoldaten in der Hitze vorwärtsmühten, führte durch eine hügelige Graslandschaft. Vielleicht sollte er auf dem Rückweg einige Feldblumen pflücken, um sie Misira zu schenken. Ein Reiter kam im wilden Galopp über die Hügel geprescht. Es war Bartka, einer der gefürchtetsten Raufbolde unter den Jugendlichen der Stadt. Kurz vor dem Schmied riß er sein bebendes Pferd herum und salutierte.

»Melde gehorsamst, kein Ork so weit das Auge reicht!«

Darrag winkte ihm lässig zu. »Gut, Bartka! Dann mach dich jetzt auf den Weg nach Norden.«

Der junge Bursche blickte ihn verwundert an. »Was soll ich denn dort? Du warst doch selbst mit dabei, als Oberst von Blautann die Garnisonen von Greifenberg und Weihenhorst ausgeräuchert hat. Dort gibt es keine Orks mehr!«

»Über Befehle wird nicht diskutiert! Haben wir uns verstanden?« Einen Augenblick hielt Bartka inne, dann machte er sich auf den Weg. Darrag konnte den Jungen verstehen. Eigentlich müßte die Straße nach Norden sicher sein. Vor einigen Tagen hatte der Obrist erst mit hundert Reitern die kleinen Orkbesatzungen der Dörfer im Norden überfallen. Die Gefechte waren kurz und vernichtend gewesen. Sie hatten mehr als fünffache Übermacht angegriffen und die Orks völlig überrascht. Nachdem die Schwarzpelze abgeschlachtet waren, wurden alle Bewohner der Dörfer in die Stadt gebracht, alles Vieh von den Weiden getrieben und die Kornfelder verbrannt, damit Sharraz Garthai für seine Truppen keine Vorräte aus dem Umland Greifenfurts bekommen konnte. Nicht zuletzt wegen dieser tollkühnen Attacken unter dem Kommando des Reiterobristen hatte sich die Stimmung in der Stadt wieder erheblich gebessert.

Der Schmied beschleunigte den Schritt, um sich wieder an die Spitze der Marschkolonne zu setzen und einen geeigneten Lagerplatz zu bestimmen.


Als die Nacht hereinbrach, konnte Darrag mit seinem Tagwerk zufrieden sein. Er saß auf einem Baumstamm und nagte an dem Hühnchen, das Misira ihm eingepackt hatte. Die Wagen waren in einem Halbkreis am Waldrand aufgestellt, und die erschöpften Arbeiter hatten etliche Lagerfeuer aus den dürren Ästen entzündet, die man von den Baumstämmen abgeschlagen hatte. Lysandras Freischärler hatten im Wald einige Rehe geschossen, die sich nun an Spießen über den Lagerfeuern drehten, und irgend jemand spielte auf einer Laute alte Kriegerlieder. Den ganzen Tag über hatte Darrag ein ungutes Gefühl verfolgt. Vielleicht lag es daran, daß er zum ersten Mal eine so große Schar anführte. Auch der große schwarze Vogel, der während des Marsches immer wieder über der Kolonne seine Kreise gezogen hatte, erschien ihm als schlechtes Zeichen, doch offensichtlich waren alle Sorgen unbegründet. Nach Sonnenaufgang würden sie noch vier oder fünf Stunden arbeiten müssen, und dann wäre genug Holz geschlagen, um die Karren zu beladen.

Darrag erhob sich, um ein wenig mit dem Lautenspieler zu plaudern. Danach würde er die Nachtwachen einteilen und sich in eine Decke gehüllt unter einem Wagen zum Schlafen legen.


Der Schmied brummte vor sich hin und schritt kräftiger aus, um mit Bartka neben ihm Schritt halten zu können. Der Tag war ein einziges Desaster gewesen. Früh morgens war ein Baum zwischen eine Arbeitsgruppe gestürzt und hatte einen Mann erschlagen und fünf weitere verletzt. Zwei Karren hatten sie mit Achsbrüchen am Wegrand liegen lassen müssen, und jetzt kreiste wieder der große schwarze Vogel über der Kolonne. Immer mehr Köpfe hoben sich, um das auffällige Tier zu beobachten. Ein Jäger hatte ihm heute morgen erzählt, daß es ein Nachtwind sei. Ein Räuber mit scharfen Augen, der allerdings für gewöhnlich nur bei Dunkelheit jagte. Ihn bei Tageslicht zu sehen brachte angeblich Unglück. Darrag mußte die Soldaten von dem Unglücksvogel ablenken! »Wie wäre es mit einem Lied?« schrie er die Kolonne entlang. Zaghaft stimmten einige ein Trinklied an.

»He, heute abend könnt ihr euch einen hinter die Binde kippen, aber jetzt wird marschiert. Barde, spiel uns das Lied der Thalionmel auf!« Lustlos begann der Spielmann auf seiner Laute zu klimpern. Doch bei der dritten Strophe, hatten fast alle eingestimmt. Thalionmel, eine Heilige der Kriegsgöttin Rondra, hatte vor langer Zeit ganz allein eine Brücke gegen eine Übermacht von Wüstenreitern verteidigt. Sie galt als eine der populärsten Heldinnen im Kaiserreich. Viel hatte sie von ihrem Ruhm allerdings nicht gehabt, denn auch sie überlebte das heldenhafte Gefecht nicht.

Langsam besserte sich die Stimmung. Darrag atmete auf.

»Bartka, nimm dir noch zwei Reiter und mach dich auf den Weg in die Hügel! Reite bis zur Straße nach Hundsgrab und halte nach den elenden Schwarzpelzen Ausschau! Und sollten euch unterwegs einige Hasen vor den Bogen laufen, gebt ihnen kein Pardon!«

»Zu Befehl, Kommandant!« Übermütig lachend wendete der Junge seinen Braunen, um zu den Kundschaftern zu reiten, die die Nachhut des Zuges bildeten. Über die Schulter rief er Darrag zu. »Ich werde mir alle Mühe geben, deine Tafel zu bereichern.« Dann gab er dem Pferd die Sporen und ritt an der Kolonne entlang.

Der kleine Ausflug würde dem Heißsporn guttun. Hier unter den Marschierenden war er mit seinem Pferd fehl am Platz. Außerdem fand Darrag auch die Aussicht auf einen Braten recht angenehm. Er trennte sich von der Kolonne und schritt ein Stück in die blühende Wiese seitlich der Straße. Ein paar Blumen würden Misira versöhnlich stimmen, wenn er heute abend nach Hause kam.

Der Schmied hatte schon einen ganzen Arm voller Blumen gepflückt, als ihn lautes Geschrei aufblicken ließ. Bartka kam den Hügel heruntergeritten. Der Junge trieb das Tier in halsbrecherischem Tempo den Hang hinunter. Dichtauf folgte ihm ein zweiter Reiter. Der dritte Mann fehlte!

Jetzt schrie er wieder. »Orks! Die Schwarzpelze kommen!«

Die Rufe wären nicht mehr nötig gewesen. Fünf Reiter auf kleinen drahtigen Pferden erschienen auf dem Hügelkamm, zügelten ihre Reittiere und musterten die Kolonne.

»Los, packt sie!« schrie Darrag und gab den berittenen Kundschaftern ein Zeichen. Lysandras Freischärler trennten sich von der Kolonne und trieben die Pferde den Hang hinauf. Inzwischen hatte Bartka fast den Schmied erreicht.

»Ruf sie zurück!« schrie der Junge. »Wir müssen hier weg!« Endlich brachte er sein Pferd neben dem Schmied zum Stehen. Völlig außer Atem keuchte er: »Das ist nur die Vorhut! - Wir müssen weg! - Da kommen über hundert Reiter! - Wenn wir hierbleiben, sind wir verloren!«

»Halt's Maul!« herrschte der Schmied ihn an. »Hast schon mal von einem Fußsoldaten gehört, der in offenem Gelände einem Reiter entkommen ist?«

Besorgt blickte sich Darrag um. Die Stelle war für einen Überraschungsangriff perfekt ausgesucht. Die Straße zog sich zwischen sanften Hügeln hindurch, so daß es schwierig würde, ein flaches Arenal zu finden, das groß genug war, aus den Holzkarren eine Wagenburg zu bauen.

»Nimm dir alle Reiter und brich nach Greifenfurt durch, Bartka. Ihr seid zu wenige, um uns in dieser Schlacht zu nutzen.«

Die Marschkolonne war mittlerweile zum Halten gekommen. Darrag blickte zur Hügelkuppe und fluchte. Die Orks waren verschwunden, und die Freischärler hatten den Gipfel des Hügels erreicht. Lauthals brüllte er: »Kommt zurück, ihr verdammten Hurensöhne!« Doch die Männer waren schon außer Rufweite.

»Bildet eine Wagenburg!« Darrag kletterte auf den Wagen neben ihm, zog sein Schwert und machte eine kreisende Bewegung in der Luft. Langsam setzten sich die Fuhrwerke wieder in Bewegung und verließen die Straße. »Schafft die Wagen auf diesen Hügelkamm! Und du Bartka, mach dich endlich auf den Weg nach Greifenfurt. Es liegt jetzt ganz allein bei dir. Bringst du uns bis heute abend den Obristen mit seinen Kürassieren, findest du hier vielleicht noch ein paar Überlebende.« Der Junge ritt davon. Einen Augenblick schaute der Schmied ihm nach. Er würde es nicht leicht haben. Darrag war sich sicher, daß die Orks Vorkehrungen getroffen hatten, um Reiter abzufangen, die versuchten, sich zur Stadt durchzuschlagen.

»Darrag, das schaffen wir unmöglich.« Der Kutscher seines Wagens hatte sich umgedreht. »Die Ochsen kommen mit den Fuhrwerken nicht den Hügel hinauf. Wenn wir alle absteigen und schieben, kriegen wir die Wagen vielleicht innerhalb einer Stunde da hinauf. Bis dahin haben uns die Schwarzpelze aber längst massakriert.«

Darrag fluchte. »Kommando zurück! Bringt die Wagen an den Fuß des Hügels. Schnell!« Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. Kaum führte er das erste Mal Kommando, ging alles schief. Er hätte in seiner Schmiede bleiben sollen!


Ein Geräusch wie Donnergrollen brandete über die Hügel östlich der Straße. Zwei der Freischärler, die die Verfolgung der Orks aufgenommen hatten, kamen über den Hügel geprescht. Darrag winkte ihnen mit seiner Waffe und zeigte nach Süden. Die Männer hatten verstanden. Sie rissen die Pferde herum und ritten Richtung Greifenfurt. Vielleicht würde es ihnen gelingen durchzukommen.

Wieder brüllte der Schmied harsche Kommandos. Zwei weiteren Wagen waren die Achsen gebrochen, als sie von der Straße auf die Wiese gelenkt wurden. Die Holzstämme rissen sich aus der Halterung und fielen zwischen die Soldaten, die im Laufschritt auf den Hügel zuhasteten. In Panik sprangen sie auseinander. Eine Frau, die Darrag erst gestern als gute Schwertkämpferin aufgefallen war, wurde von einem der Stämme erfaßt und zerquetscht. Neben ihr lag ein schreiender Krieger, dem die Beine eingeklemmt waren. Freunde versuchten, ihn zu befreien. Vergeblich! Mittlerweile nahm die Wagenburg Konturen an. Die ersten Holzkarren standen in einer Reihe parallel zur Straße.

In diesem Augenblick verebbte das gleichmäßige Donnern. Die Orks hatten den gegenüberliegenden Hügelkamm erreicht. Eine gewaltige Reiterschar auf kleinen struppigen Pferden. Mitten unter ihnen glaubte Darrag, Sharraz Garthai zu erkennen. Während sich der Anführer der Schwarzpelze in die Steigbügel stellte und die Wagenburg musterte, schrie der Schmied weitere Befehle. Noch fünf oder sechs Wagen mußten auf die Rückseite des Karrees geführt werden, um die Verteidigungslinie zu schließen.

Sharraz Garthai hob seinen Reitersäbel und schrie einen unverständlichen Befehl in der kehligen Sprache der Orks. Darrag meinte, das Wort ›Tairach‹ gehört zu haben. Das hieß, daß die Orks keine Gefangenen machen würden. Sie wollten Rache für ihre toten Kameraden!

Wie die schwarze Sturmflut ergossen sich die Reiterscharen vom Hügel auf die Wagenburg zu. Noch immer war die hintere Verteidigungsfront nicht ganz geschlossen. Ein Wagen schien sich in der weichen Erde festgefahren zu haben. Verzweifelt hatte ein Dutzend Soldaten in die Speichen gefaßt, um den schweren Karren fortzubewegen.

Darrag sprang in Deckung. Vereinzelte Pfeile schwirrten über den Köpfen der Bürger. Die Orks hatten mittlerweile die Straße erreicht. Höchstens zwanzig Schritt trennten sie jetzt noch von den Greifenfurtern, die mit blanker Klinge hinter der hölzernen Mauer der Wagen warteten. Besorgt blickte der Schmied sich über die Schulter. Schreiend stürzte ein Kutscher vom Bock seines festgefahrenen Wagens. Ein verirrter Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen. Verzweifelt stemmten sich die Ochsen in ihr Joch. Die Tiere waren nicht weniger in Panik als die Soldaten, die immer noch versuchten, den Wagen freizukriegen. Würde die Lücke in der Verteidigungslinie nicht geschlossen, wären sie alle verloren!

Darrag rannte quer durch das Karree. »Jeder bleibt auf seinem Posten. Denkt an das, was ihr gelernt habt! Keiner darf die Verteidigungslinie verlassen!«

Keuchend erreichte er den festgefahrenen Wagen. Hinter ihm hatten die ersten Reiter die vordere Front der Wagenburg erreicht. Lautes Kriegsgeschrei und das Klingen von Schwertern erfüllte die Luft. Auf alle Dämonen der Niederhöllen fluchend, stemmte Darrag sich mit den anderen gegen die Wagenräder. Endlich kam das schwere Fuhrwerk frei. Keinen Augenblick zu spät, denn im selben Moment, als der Wagen in die Lükke geschoben wurde, umrundeten die ersten Orks das Karree. Tobend vor Wut trieben sie ihre kleinen Ponys gegen die hölzerne Mauer. Doch die Greifenfurter kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Sobald ein Krieger fiel, schloß ein neuer Kämpfer die Lücke der Linie.

Die Schwachpunkte der Verteidigungslinie lagen dort, wo die Deichseln der Wagen aneinanderstießen. Die schmalen Stangen lieferten keine Deckung, denn die Ochsen waren ausgeschirrt und in der Mitte des Wagenvierecks getrieben worden. Immer wieder versuchten die Orks, an diesen Stellen durchzubrechen. Darrag stand wie ein Fels im Gefecht. Er strahlte Ruhe und Zuversicht aus, auch wenn er sich insgeheim in sein Schicksal ergeben hatte. Etliche Pfeile staken in seinem großen Schild und ließen ihn immer schwerer werden, während er mit seiner breiten Klinge auf die Reiter eindrosch.

Plötzlich übertönte ein KriegsHorn den Kampflärm, und die Orks wichen zurück. Während die Reiter vom Karree zurückwichen, musterte der Schmied seine verbliebenen Truppen. Viele waren verwundet. Mit aufmunternden Worten mischte er sich unter die Kämpfer, lobte ihre Standhaftigkeit und versuchte, sich die Gesichter der Toten nicht zu merken.

Die Orks hatten sich inzwischen auf den gegenüberliegenden Hügel zurückgezogen. Über die Wagen hinweg war zu sehen, wie Sharraz Garthai neue Befehle ausgab und die Schwarzpelze sich zu einer langen Linie formierten.

»Springt mir diesmal nicht so gnädig mit diesen Bestien um!« brüllte Darrag, während er beunruhigt beobachtete, wie die Orks die Schwerter in die Scheiden steckten und nach ihren Hornbögen griffen. Ohne Eile kamen sie den Hügel herab. Sie würden sie umzingeln und mit Pfeilen niederschießen!

»Alles in Deckung! Springt hinter die Wagen und bleibt dort, bis sie versuchen durchzubrechen.« Neben Darrag bohrte sich ein Pfeil ins Holz. Die Orks hatten nun einen weiten Kreis um die Wagenburg gezogen und beschossen die Verteidiger aus allen Richtungen. Sie konnten sich dabei viel Zeit lassen, denn im Karree gab es keine Schützen, die das Feuer erwidern konnten.

Dann ertönte wieder das Horn, und mit lautem Gebrüll trieben die Orks in erneutem Sturmangriff ihre Ponys gegen die Barrikaden. Darrag war einer der ersten, der bereit zur Verteidigung hinter den Wagendeichseln stand. Ein mächtiger Krieger versuchte, sein Reittier über das Hindernis zu jagen. Das Pony stieg auf die Hinterbeine, und Darrag hieb ihm mit einem gewaltigen Streich beide Vorderläufe ab. Laut wiehernd brach das Tier zusammen. Der Krieger rollte sich seitlich ins Gras. »Tötet die Pferde!« brüllte Darrag über den Kampflärm. »Ohne ihre Reittiere sind sie nur noch halb so viel wert.« Da stand der Krieger, dessen Pony er abgeschlachtet hatte, wieder vor ihm. Wütend schwang er eine gewaltige Streitaxt. Doch der Schmied tauchte unter dem Hieb hinweg.

»Du wirst sterben!« fauchte der Ork ihn in gebrochenem Garethi, der Sprache des Kaiserreichs, an und holte erneut zum Schlag aus. Diesmal trieb er die Klinge seiner Axt tief in den Holzschild des Schmiedes. Die Wucht des Schlages lahmte Darrags linken Arm, doch die Axt des Gegners hatte sich verkeilt. Mit zusammengebissenen Zähnen riß er den Schild ruckartig nach hinten, so daß dem Ork der Griff der Axt aus der Hand glitt.

Der Krieger wich zurück, zog seinen schweren Säbel und schaute herausfordernd zu Darrag herüber. »Komm!« rief er ihm entgegen.

Doch der Schmied durfte die Schlachtlinie nicht verlassen. Würde er die Herausforderung annehmen, ließ er eine Lücke hinter sich zurück. »Du hast wohl das Herz einer Maus!« höhnte der Ork.

Rings um die beiden verebbte der Kampf lärm. Die Orks wichen zurück. Wieder ertönte das SchlachtHorn. Noch einmal erhob der Orkkrieger drohend den Säbel, dann machte er mit den anderen kehrt. Die Verluste der Verteidiger waren diesmal größer. Darrag überlegte. Sie mußten die Karren enger zusammenschieben, sonst würden sie die nächste Attacke nicht mehr überstehen.

»Klappt die Deichseln hoch. Schiebt die Wagen zusammen. Und rollt die Baumstämme von den Ladeflächen. Wir brauchen Plattformen, von denen wir kämpfen können. Jeder Karren muß als eine Festung für sich stehen können, falls die Orks durchbrechen sollten.«

Fieberhaft machten sich die Leute an die Arbeit, während Darrag beobachtete, was Sharraz Garthai trieb.

Der Anführer der Orks hatte seine Truppen wieder zum Hügel auf der anderen Straßenseite zurückgezogen. Wild gestikulierend erteilte er Befehle. Kleinere Gruppen von Reitern machten sich darauf in verschiedene Richtungen davon. Auch die Reihen der Orks hatten sich gelichtet, obwohl die Verluste der Verteidiger deutlich höher lagen. Beunruhigt beobachtete Darrag, wie sich auf allen umliegenden Hügeln kleine Gruppen der Schwarzpelze sammelten, während Sharraz Garthai mit einigen Kriegern zu den beiden umgestürzten Wagen neben der Straße ritt. Dort saßen sie ab und machten sich an den gebrochenen Achsen zu schaffen. Es sah ganz so aus, als versuchten sie, einen der Wagen wieder flottzumachen, aber wozu?

Im selben Moment prasselten aus allen Richtungen Pfeile auf die Karren nieder.

Darrag fluchte. Da die Orks auf den Hügeln höher standen, würden er und seine Leute nun in den Wagen keinen Schutz mehr finden.

»Alles unter die Wagen!« schrie er. »Und laßt mir die Verwundeten nicht liegen!«

Kaum hatten sich alle Verteidiger unter die Karren zurückgezogen, hörte der Beschuß durch die Orks auf. Doch hatte diese Attacke mehr Opfer gefordert als der erste Sturm gegen das Karree. Darrag blickte zum Himmel und versuchte zu schätzen, wie spät es war. Die Orks belagerten sie hier vielleicht schon zwei Stunden. Wenn jemand durchgekommen war, mußten jetzt die ersten Reiter Greifenfurt erreichen. Doch ob sie unter diesen Bedingungen noch einmal zwei Stunden überleben würden, wußten allein die Götter.

Vorsichtig lugte er unter dem Wagen hervor. Die Orks machten sich immer noch an den umgestürzten Karren zu schaffen. Sie versuchten, die zerbrochene Deichsel des einen Karrens durch die Vorderdeichsel des anderen zu ersetzen. Darrag atmete auf. Was immer dieser Unsinn sollte, sie würden eine Weile beschäftigt sein. Die meisten anderen konnten aus ihren Verstecken nicht mehr sehen, was passierte. Er mußte seinen Soldaten die Angst nehmen. Die meisten warteten wahrscheinlich in Panik auf den nächsten Angriff.

»He, nehmt doch mal die Nasen aus dem Gras und sperrt die Ohren auf! Ihr werdet kaum glauben, was unsere pelzigen Freunde machen! Sie reparieren uns die umgestürzten Wagen neben der Straße.«

Ungläubiges Gemurmel war zu hören. »Deswegen hätten sie uns aber nicht die Schädel einschlagen brauchen! Den Dreck hätten sie sofort von mir haben können!« ertönte es unter einem der Wagen hervor. Gelächter war zu hören.

»Das beste wißt ihr noch nicht«, grölte der Schmied. »Ich verrate es aber nur, wenn ihr es unseren Freunden auf den Hügeln nicht weitersagt.«

»Sehr witzig, Kommandant. Ich liege hier mit einem Pfeil im Bauch und verspreche Euch, daß ich mich noch totlachen werde, wenn Ihr so weiter macht!« erklang es stöhnend unter einem Wagen. Das Gelächter verstummte.

Darrag fluchte leise vor sich hin. Diesen Idioten hätte er am liebsten persönlich zu Boden geschickt. Schon drohte die Stimmung wieder umzuschlagen. »Nur die Ruhe bewahren, Leute«, erhob der Schmied erneut seine Stimme. »Es sind Reiter unterwegs nach Greifenfurt. Die Orks scheinen keine Ahnung zu haben, denn sonst würden sie sich wohl kaum so viel Zeit mit den Wagen nehmen. Noch bevor die Sonne untergeht, wird Oberst von Blautann hier sein, und dann hat der ganze Zauber ein Ende.«

Die Zeit verging und nichts geschah. Wann immer jemand versuchte, unter den Wagen hervorzukommen, hagelte es Pfeile, so daß sie es schließlich ganz aufgaben. Die brütende Hitze machte den Verwundeten zu schaffen. Heiler gab es nicht, und das einzige, was man für die Verletzten tun konnte, war, sie großzügig mit Wasser aus Lederschläuchen und Feldflaschen zu versorgen. Die Orks hatten inzwischen einen Wagen repariert und begannen ihn mit mächtigen Holzstämmen zu beladen. Darrag schaute ihnen verwundert zu. Ihm war völlig schleierhaft, was das nun sollte. Als die Schwarzpelze mit den Arbeiten fertig waren, spannten sie etliche von ihren kleinen Ponys vor den großen Karren und zogen ihn hinter den Hügel außer Sichtweite.

»Was tun die da, Kommandant?« fragte ein alter Weber, der mit Darrag unter dem Wagen lag. Der Schmied zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir werden schon sehen, was dahinter steckt.«

Eine Weile blieb alles ruhig. Dann rief jemand unter einem der anderen Wagen. »Hinter der Hügelkuppe steigt Rauch auf.«

Darrag war nervös. Die ganze Zeit mußte er an das Gespräch mit Misira denken. Sollte er jetzt sterben? War seine Zeit gekommen? Das Vorgehen der Orks war ihm völlig unbegreiflich. Wozu dieses Feuer. Gaben sie ein Signal, um weitere Truppen heranzuführen? Da ertönte wieder das SchlachtHorn. Ein Teil der Bogenschützen verschwand von den umliegenden Hügeln und machte sich auf den Weg zu der Stelle, an der die Rauchsäule in den Himmel stieg. Und plötzlich fiel es Darrag wie Schuppen von den Augen. Sie würden den brennenden Wagen den Hügel herunter rollen lassen, eine Bresche in die Verteidigungslinie schlagen und durch diese Lücke in das Karree einfallen. Was konnte er tun? War der schwere Wagen erst einmal ins Rollen gekommen, würde ihn nichts mehr aufhalten. Feuer und Rauch würden die Panik unter den Verteidigern noch steigern.

Verzweifelt schrie der Schmied den anderen zu, was passieren würde. Panik brach aus.

»Was sollen wir tun? Wie kommen wir aus der Falle heraus?« wollten sie von ihm wissen. Doch Darrag wußte auch nicht weiter. Kämen sie unter den Wagen hervor, würden sie ein Opfer der Bogenschützen. Schon lagen zwei Bürger tot im Karree, die versucht hatten, über die freie Fläche der Wagenburg zu rennen und unter einem anderen Karren Schutz zu suchen. Blieben sie, wo sie waren, würden die Orks unter ihnen ein Massaker anrichten. Auch die Ochsen im Inneren der Wagenburg wurden immer unruhiger. Es war, als spürten die Tiere das bevorstehende Unglück.

»Darrag, hilf uns!« erklang eine vertraute Stimme von den bedrohten Wagen. Das war Misira! Wie konnte das sein? Was machte seine Frau hier? Darrags Gedanken überschlugen sich. Er mußte sie retten! »Wer hat alles einen großen Schild? Los abzählen!« Der Schmied hatte einen Plan.

Insgesamt waren es mit ihm zweiundzwanzig. »Alle Schildträger, die sich gemeldet haben, raus aus den Wagen. Wir bilden einen Schild wall und retten die anderen. Wenn ich den Befehl gebe, rennt ihr alle zur Mitte des Karrees, scheucht die Ochsen beiseite und bildet einen Kreis.« Darrag schob seinen Schild vor sich her und kroch unter dem Wagen hervor. Dann zog er die Lederschlingen über seinen linken Arm. Noch einmal atmete er tief durch. Dann schrie er: »Jetzt!«

Aus allen Richtungen sprangen geduckte Gestalten in die Mitte der Wagenburg. Die Orks eröffneten das Feuer. Hastig formierte die Truppe einen Schildwall und bewegte sich auf die bedrohte Flanke der Wagenburg zu. Der Schutz war keineswegs perfekt. Da die Orks höher standen, boten sie immer noch ein gutes Ziel.

»Hebt die Schilde über die Köpfe und verschränkt sie miteinander!« befahl Darrag. Das dichte Dach aus Holz und Leder fing nun die meisten Geschoße ab. »Nehmt auch die Verwundeten mit!« schrie einer der Männer unter dem Schildwall, während sie endlich die Wagen erreichten.

Die Orks hatten mittlerweile den brennenden Wagen bis zum Rand der Hügelkuppe gebracht. Darrag trieb seine Leute zur Eile an. Sie mußten verschwinden. Als letzte kroch Misira unter einem der Wagen hervor. Der Schmied nahm sie schützend in den Arm und brüllte: »Alles zurück! Und haltet die Formation ein!«

Das war leichter gesagt als getan, da mehr Krieger unter den Schildern Schutz suchten, als Platz vorhanden war. Immer wieder waren Schreie zu hören, wenn doch einer der Pfeile sein Ziel gefunden hatte. Viel langsamer rückten sie nun von den Wagen zurück, als die Orks dem brennenden Karren den entscheidenden Stoß gaben.

Funkenstiebend und mit atemberaubendem Tempo kam der Wagen den Hang herunter geschossen. Unter den Soldaten brach Panik aus. Wenn der Karren die Wagen des Karrees mit seiner Wucht beiseite stieß, würde er mitten in die Wagenburg durchbrechen. Das Dach aus Schilden brach auseinander. Jeder war jetzt sich selbst der nächste, und die Bogenschützen der Orks hielten reiche Ernte. Verwundete blieben liegen und versuchten, kriechend in Deckung zu kommen. Darrag schrie Befehle, doch niemand hörte in dem Chaos mehr auf ihn. Er schirmte Misira mit seinem Schild ab und bewegte sich rückwärts auf einen schützenden Wagen zu.

Wie hypnotisiert beobachtete er den brennenden Karren, sah, wie er mit lautem Krachen zwei Wagen aus der Front des Karrees umriß und von der Wucht des Aufpralls zerschmettert wurde. Glühende Holzstücke ergossen sich in einem Funkenregen über das trockene Gras. Hier und dort brachen Brände aus, während die schwelenden Baumstämme von der Ladefläche des Wagens stürzten und durch das Lager rollten. In Panik stampften die Ochsen über Verwundete, die am Boden lagen. Immer dichter wurde der Rauch. Die beiden Wagen, die es umgerissen hatte, bildeten mit den Trümmern des dritten Gefährts einen riesigen Scheiterhaufen. Wieder ertönte das Horn vom Hügel.

Nun hatte ihre letzte Stunde geschlagen, dachte der Schmied und drückte Misira fester gegen die Brust. »Alles unter den Wagen hervor!« rief er mit einer Stimme, über deren ruhige Gelassenheit er selbst überrascht war. Wenn das Ende so klar war, wurde vieles auch einfacher. »Alles zurück zur unteren Wagenreihe. Dort werden wir uns gemeinsam verteidigen. Das Karree ist nicht mehr länger zu halten!«

Rußgeschwärzte Gestalten krochen unter den Wagen hervor und taumelten durch den Rauch. Fast überall waren die Brände schon wieder erloschen. Das Gras bot dem Feuer wenig Nahrung, und das massive Holz der Wagen hatte sich nicht entzündet. Dennoch waren die Tiere halb wahnsinnig vor Angst und erschwerten den Verteidigern den Rückzug. Allein dort, wo die Bresche war, schlugen noch gewaltige Flammenwände zum Himmel und hinderten die Orks am Durchbruch. Doch dann kam Bewegung in die Reiter auf dem Hügel. Die Schwarzpelze stiegen von ihren Ponys und formierten sich in drei ungefähr gleich große Angriffsgruppen. Sharraz Garthai hatte erkannt, daß ihnen die Reittiere in dieser Lage keinen Vorteil mehr brachten, sondern lediglich den Angriff verzögerten.

Auch der Kommandant der Orks war gespannt. Er wollte die Sache zu Ende bringen, denn er wußte genau, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, hatte es auch nur einer der entkommenen Reiter bis zur Stadt geschafft.

Während zwei der Orkgruppen direkt zum Angriff übergingen, machte sich der dritte Trupp an zwei Wagen zu schaffen. Es hatte ganz den Anschein, als würden sie versuchen, jetzt auch die untere Linie des Karrees mit den Wagen als Rammböcken zu zerschmettern.

Darrag hatte Misira auf den Karren in seinem Rücken geschickt. Dort würde sie sicher sein, während erneut das Gefecht entbrannte. Seine Kämpfer waren fast alle verwundet. Darrag spürte, wie auch ihn immer mehr die Kräfte verließen. Gerade hatte er einem Gegner eine tiefe Schulterwunde beigebracht, doch es war gleichgültig, wie viele er tötete, immer stand wieder ein neuer Ork vor ihm.

Diesmal war es der massige Kerl, der ihn schon einmal zum Duell gefordert hatte. Der Ork stürmte los. Den Schild zum Schutz vor dem Leib und den Säbel hoch über den Kopf erhoben, wollte er Darrag in einem einzigen Ansturm von den Beinen reißen. Krachend schlugen die Schilde gegeneinander. Darrag zitterten die Knie, doch er hielt stand. Wie Hagelschläge prasselten die Hiebe des Orks auf ihn herein. Er war ein überaus gewandter Kämpfer und suchte nach einer Lücke in Darrags Deckung.

Schon blutete Darrag aus mehreren Schnittwunden an den Armen. Schweiß lief ihm in die Augen. Der Schmied blinzelte. Fast hätte ihn das den Kopf gekostet. Der Ork schlug eine Finte. Darrag riß seinen Schild hoch, doch im letzten Moment änderte der Ork die Schlagrichtung und zielte nun auf die Brust des Schmiedes. Im Reflex sprang der zur Seite, so daß die Klinge des Feindes wirkungslos über seinen Lederpanzer schrammte. Nun ging er zum Angriff über. Schlag auf Schlag verpaßte er dem Gegner. Blinde Wut brannte in Darrag. Er wollte diesen Kerl töten, und wenn es das letzte war, was er tat.

Da ertönte wieder das Horn über dem Kampf lärm. Laute Befehle in der kehligen Sprache der Orks waren zu hören. Die Angreifer wichen zurück. Zum ersten Mal seit Beginn des Kampfes hatte Darrag Gelegenheit, an der Linie seiner Streiter entlangzublicken. Der Trupp war sichtbar zusammengeschmolzen. Viele mußten sich mit dem Rücken gegen die Karren lehnen, um nicht vor Schwäche in die Knie zu gehen. Trotzdem war Darrag stolz. Keiner hätte der Bürgerwehr einen solchen Kampf zugetraut.

Dann sah Darrag zu den Orks hinüber. Obwohl einige Tote im Gras lagen, hatte er den Eindruck, daß es kaum weniger wurden. Diejenigen, die beim Angriff zurückgeblieben waren, hatten ganze Arbeit geleistet. Zwei Wagen waren aus dem zerschlagenen Karree gelöst und mit Baumstämmen beladen. Diesmal hatten die Schwarzpelze darauf verzichtet, Feuer zu legen. Schon formierten sie sich hinter den langen Deichseln, um die Wagen wie gewaltige Rammböcke durch die Verteidigungslinie der Menschen zu treiben. Die Ochsen, die nun als Hindernis zugunsten der Verteidiger hätten wirken können, flohen durch die Breschen im Karree, um sich in den umliegenden Hügeln zu verteilen. Jetzt ist es zu Ende, dachte Darrag. In Gedanken begann er ein altes Gebet zu Ingerimm, dem Gott der Schmiede. Da erklang eine vertraute Stimme neben ihm. »Laß uns diesen Weg gemeinsam gehen.«

Misira war vom Karren herabgestiegen, hielt Schwert und Schild erhoben und versuchte, tapfer und zuversichtlich drein zu blicken. Darrag war fasziniert. Diese Seite seiner Frau kannte er bis dahin kaum. Dann dachte er an ihre beiden Kinder und all die Dinge, die ihm bis jetzt so selbstverständlich erschienen waren und die sie nun nicht mehr gemeinsam erleben würden. Er mußte schlucken. Misira stieß ihr Schwert in den Boden und griff nach seiner Hand. Ich liebe dich und will ohne dich nicht leben.« Sie stockte.

»... und du sollst wissen, daß ich niemals einen Tag an deiner Seite bereut habe.«

Darrag wußte nicht, was er ihr sagen sollte. Ein dicker Kloß saß in seinem Hals. Da ertönte wieder ein Horn. Darrag blickte zu den Orks. Diesmal klang das Signal anders. Irgendwie vertraut. Unter den Schwarzpelzen herrschte Unruhe. Laute Schreie klangen von den umliegenden Hügeln. Und dann geschah das Unfaßbare. Sie wandten sich zur Flucht. Stürmten an den brennenden Wagen vorbei den Hügel hinauf und sprangen auf ihre drahtigen Ponys.

Darrag konnte noch immer nicht begreifen, was geschehen war, als erneut das Hornsignal erklang. Diesmal schon viel näher. Dann schrie jemand »Hurra!«, und immer mehr stimmten in das Siegesgeschrei mit ein. Darrag kletterte auf einen Karren. Die Orks waren schon nicht mehr zu sehen. Dafür näherte sich von Süden eine große Gruppe Reiter in schimmernden Rüstungen. Über ihnen flatterte das Banner des Kaiserreichs. Oberst von Blautann und seine Kürassiere!

Mehr als zwei Stunden hatte es gedauert, bis die unbeschädigten Wagen wieder flottgemacht waren und man die Ochsen zwischen den Hügeln eingefangen hatte. Alle, auch die Kürassiere, mußten mit anpacken, um die schweren Stämme wieder aufzuladen. Zuletzt hatte man die Verwundeten und Toten auf die Fuhrwerke gelegt und sich dann, flankiert von den Reitern, auf den Weg gemacht. Dreiundvierzig Frauen und Männer waren beim Angriff der Orks ums Leben gekommen. Weitere einundfünfzig waren so schwer verletzt, daß sie nicht mehr die Kraft hatten zu gehen. Wie viele von den dreißig berittenen Freischärlern überlebt hatten, konnte Oberst von Blautann dem Schmied nicht sagen. Jedenfalls erreichten einige der Freischärler die Stadt, und Marcian hatte umgehend den Befehl zur Rettungsaktion erteilt. »Aber, er hat mir auch verboten, die Orks zu verfolgen.« Nur mühsam konnte der junge Offizier die Wut in seiner Stimme unterdrücken. »Heute mittag haben wir schlechte Nachrichten erhalten. Ständig sind irgendwelche Späher von Lysandra unterwegs, um die Orks zu beobachten. Und bei denen tut sich zur Zeit einiges. Das Lager bei Orkenwall ist abgebrochen worden und die Schwarzpelze marschieren auf Greifenfurt zu. Eine zweite Kolonne kommt aus Richtung Hundsgrab. Es hat den Anschein, als seien dies frische Truppen, die erst in den letzten Tagen den Finsterkamm überquert haben. Angeblich mehr als fünfhundert Kämpfer und ein riesiger Troß.«

»Und was glaubt Ihr, wann sie vor der Stadt stehen?« fragte der Schmied kurzatmig.

»Wenn sie dieses Tempo beibehalten, spätestens übermorgen.«

Darrag seufzte. »Dann wird es jetzt also ernst.« Der Obrist blieb ihm eine Antwort schuldig. Der Schmied hatte kaum noch die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Obwohl die Reiter ihm ein Pferd angeboten hatten, hatte er darauf bestanden, zu Fuß zu gehen. Er hatte die Stadt zu Fuß verlassen, und so würde er auch zurückkehren. Schließlich mußte auch die Bürgerwehr marschierend in die Stadt zurück, denn mit Toten und Verwundeten waren die Karren dermaßen überlastet, daß hier kein Fußkranker mehr Platz fand.

An seiner Seite versuchte Misira mühsam, mit ihm Schritt zu halten. Ein verirrter Pfeil hatte ihr eine tiefe Schramme am Arm beigebracht, doch sonst war sie unverletzt. Manchmal klammerte sie sich an seinen Arm und stützte sich für ein Stück des Weges auf ihn. Es war offensichtlich, daß sie mit ihren Kräften am Ende war. Doch sie hatte kein Wort der Klage verlauten lassen. Zuerst war Darrag über diese Haltung stolz, doch mittlerweile machte er sich Sorgen. Was wollte sie ihm damit beweisen?

Wieder blickte er zu seiner Frau hinüber. Sie hatte ihren Blick stur auf die Straße gerichtet und setzte wie unter einem Zauberbann einen Fuß vor den anderen. Plötzlich sackte sie vornüber. Darrag fing sie auf, und schon schlug Misira auch wieder die Augen auf. »Entschuldige, ich bin ein wenig müde. Laß mich jetzt los, es wird schon weitergehen.« »Für dich endet der Weg hier!« entgegnete Darrag mit gespielter Strenge. »Du setzt dich jetzt auf einen der Wagen!«

»Ich will hier keine Privilegien, nur weil ich deine Frau bin. Ich bin nicht schwächer als irgendein anderer.«

Misira setzte ihren Schmollmund auf. Doch diesmal blieb der Schmied hart. »Alle, die verletzt und erschöpft sind, sitzen schon längst auf einem der Wagen. Dort wirst du dich jetzt auch niederlassen!«

Misira gab den Widerstand auf. Im Grunde war sie ja froh, nicht mehr laufen zu müssen. Darrag hob sie auf einen Kutschbock, und erschöpft ließ sie sich gegen die Holzstämme sinken.

Die Kolonne war nun ungefähr eine Stunde von Greifenfurt entfernt, als es einen Tumult an der Spitze gab. Einige Reiter waren auf einem Hügel neben der Straße und diskutierten über etwas, das dort lag.

Darrag trennte sich von der Kolonne, um nachzuschauen, was los war. Müde erklomm er die Hügelkuppe und bahnte sich einen Weg. Dort lag ein grausam verstümmelter Mann im Gras. Sein Schädel war eine einzige blutverkrustete Masse. Erst auf den zweiten Blick erkannte der Schmied, wer dort lag. Bartka! Die Orks hatten ihn erwischt, gefoltert und skalpiert. Der Junge mußte furchtbare Qualen gelitten haben. Neben ihm schwelte immer noch ein kleines Feuer. Sein ganzer Körper war mit Brandmalen bedeckt.

»Was gafft ihr hier rum?« schnauzte Darrag die Reiter an. Er mußte seiner Wut Luft machen. »Macht ihn los und legt ihn zu den anderen Toten!« Der Schmied drehte sich um und ging. Als er die Marschkolonne fast schon wieder erreicht hatte, kam ihm einer der Männer hinterhergeeilt. Atemlos rief er den Namen des Schmieds. »Darrag, der Mann lebt noch. Er hat nach dir gefragt!« Verwundert hielt Darrag an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Trotzdem kehrte er zum Hügel zurück. Bartka stöhnte leise. Einer der Reiter kniete neben ihm. »Er fragt wieder nach dir, Darrag.«

Der Schmied beugte sich über den Jungen. Mit der rechten griff er nach einer seiner verstümmelten Hände. »Ich bin bei dir. Die Orks sind fort. Du warst sehr mutig. Wir bringen dich jetzt zu deinem Vater, und dann wird alles wieder gut.« Innerlich verfluchte er sich für diese schamlose Lüge. Nichts würde jemals wieder gut werden. Sie hatten Bartka zum Krüppel gemacht.

Der Junge stöhnte. Es schien, als versuchte er etwas zu sagen. Darrag brachte sein Ohr an Bartkas Lippen. »... ist vorbei. Töte - mich!« Darrag war entsetzt. Das konnte er nicht! Bartka schlug die Augen auf. »Bitte!« murmelte er. Hilflos blickte der Schmied sich um. Hinter ihm stand der Oberst. Kalt blickte er auf den Verstümmelten hinab. »Tu ihm den Gefallen. Er wird diese Nacht nicht überleben. Du kannst ihm lange Qualen ersparen. Wenn du ihn jetzt tötest, ist das ein Akt der Barmherzigkeit.«

Der Schmied atmete tief ein. Erneut blickte er sich unsicher um. Er hatte den Eindruck, daß die Reiter ihn mehr neugierig als mitfühlend beobachteten. Wieder stammelte der Junge etwas.

»Wenn du es nicht kannst, nehme ich dir die Arbeit ab!« Blautanns Stimme war tonlos.

Dann richtete sich Darrag auf. »Laß das!« fuhr er den Obristen an. »Das ist einer meiner Leute!« Langsam führte er sein Schwert. Bartka hatte die Augen geschlossen. Der Schmied führte die Klinge zur Brust des Knaben. Seine Hand zitterte leicht. Noch immer war er sich nicht sicher, ob er es tun könnte. Wieder schüttelte ein Krampf den zerschundenen Körper des Knaben. »Bitte!« röchelte er.

Darrag stieß zu. Bartka bäumte sich noch einmal auf, dann sank er zurück. Im Tod wirkten seine Züge entspannter. »Bringt ihn auf einen Wagen!« herrschte der Schmied die Reiter an.

Von Blautann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast das Richtige getan.«

»Laß mich in Ruhe!« zischte er. Darrag kniete nieder und säuberte seine blutige Klinge im hohen Gras. Dann schritt er den Hügel hinab und schloß sich wieder der Wagenkolonne an.


Als Darrag am Abend in seine Schmiede zurückkam, war er völlig in sich gekehrt. Er hatte Bartkas Vater besucht und ihm vom Tod seines Sohnes berichtet. Er hatte ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt, sondern verschwiegen, was die Orks dem Jungen antaten. Der alte Mann war gebrochen. Er hatte Bartka vergöttert, war er doch das einzige, was ihm nach dem Tod seiner Frau noch geblieben war. Der alte Mann wollte den Jungen noch einmal sehen, doch der Schmied hatte dafür gesorgt, daß Bartka als erster in dieser Nacht beerdigt worden war. Schweigend überließ er dem Alten die Waffen des Toten. Der Mann wollte noch mit ihm reden, aber Darrag konnte nicht. Er hatte schon mit Dutzenden Vätern und Müttern reden müssen, die nach den Verwundeten und Toten fragten. Er fühlte sich leer. Als er nach Hause kam, wünschte er sich sogar, weit weg von Misira und den Kindern zu sein. Er wollte seine Ruhe. Wollte allein sein, mit niemandem mehr reden müssen.

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