Kapitel 7


»Da ist er ja!« stieß Siegfried überrascht hervor, als er sich durch das enge Loch zwängte und, geblendet vom Tageslicht, mit zusammengekniffenen Augen ins Freie trat. Unbeschadet hatten sie den beschwerlichen Rückweg durch die Schlangenhöhle hinter sich gebracht, ohne daß sich auch nur eine Schlange gezeigt hätte. »Wer?« fragte Amke, die ihm folgte. Siegfried deutete auf den Hengst, der zwischen den Heidelbeersträuchern stand und von den kleinen Früchten naschte. »Ich dachte, du hättest ihn zurückgeschickt.«

»Nicht zurückgeschickt, nur losgebunden.«

Achtlos ließ Siegfried seine Fackel auf einen Felsen fallen und lief auf die Lichtung, zu seinem Pferd, das sich über seine Liebkosungen freute. Die Zügel waren um einen Heidelbeerstrauch geschlungen. »Du mußt dich irren, Amke. Graufell ist fest angebunden!«

Die Friesin lief zu ihm. Sie mußte zugeben, daß Siegfried recht hatte. »Aber ich weiß genau, daß ich seine Zügel von dem Strauch gelöst habe. Ich habe doch überlegt, ob ich zurück ins Lager reiten soll.«

»Vielleicht warst du so aufgeregt, daß du nur gedacht hast, du hättest Graufell losgemacht«, mutmaßte Siegfried.

Amke war fast geneigt, ihm recht zu geben, da schnippte sie plötzlich mit den Fingern. »Ich habe mich nicht getäuscht! Ein anderer muß Graufell festgemacht haben. Denn dies war nicht der Strauch, an den du ihn gebunden hast, Siegfried. Dieser hier ist viel höher!«

Er mußte zugeben, daß sie die Wahrheit sprach. Aber wer hatte das Pferd wieder angebunden?

Der Graue Geist? Aus welchem Grund?

Der Falke? Wohl kaum. Er mochte ein ebenso kluges wie starkes Tier sein, aber zum Anbinden eines Pferdes ebensowenig in der Lage wie Graufell selbst. Oder war der Falke gar kein Tier? War es kein Zufall, daß er und der Graue Geist hier und an der Wolfsburg gemeinsam auftauchten? Gab es ein menschenähnliches Wesen, das die Gestalt eines Vogels annehmen konnte?

Diese Überlegungen waren so verwirrend und beunruhigend, daß Siegfried froh war, als Amke ihn ablenkte. Sie wollte auf der Lichtung und im Wald ein paar Kräuter suchen, um seine Wunden zu behandeln.

»So etwas kannst du?« fragte er erstaunt.

Amke antwortete mit einem koketten Augenaufschlag. »Bei uns Friesen lernt eine vornehme Frau nicht nur sticken. Man sagt, nur ein Friesenmädchen könne eines wackeren Recken Weib sein.«

»So viele Friesenmädchen wird es kaum geben, leider.« Er warf einen mißtrauischen Blick zum Waldrand und sagte: »Geh nicht zu weit in den Wald. Und falls du etwas Ungewöhnliches bemerkst, ruf mich sofort!«

»Ganz wie Ihr befehlt, werter Ritter«, lachte sie und lief über die Wiese.

Siegfried sah ihr nach. Warum mußte sie ausgerechnet König Hariolfs Tochter sein?

Als sie zurückkam, hatte er mehrere Handvoll Heidelbeeren gepflückt. Er fütterte abwechselnd sie und sich selbst mit den Beeren, während Amke ihm Kräuterverbände anlegte. Sie riß dazu Stoffstreifen aus ihrem Kleid. Siegfried fühlte sich wohl in ihren Händen und wünschte sich, es könnte immer so sein. Viel zu schnell mußten sie die Lichtung verlassen. Aber der Tag neigte sich der Abenddämmerung zu. Als Graufell mit seinen beiden Reitern in den Wald eintauchte, herrschte zwischen den Bäumen schon ein Ungewisses Halbdunkel.



Das Jagdlager konnte nicht mehr weit sein, als dumpfer Hufschlag, der nicht von Graufell stammte, auf dem weichen Waldboden erklang. Aus der Düsternis löste sich ein großer Schatten. Zwischen hohen Tannen hielt der Fremde an.

Siegfried zügelte sein Tier und zog den Dolch aus der Scheide. Jetzt vermißte er den Spieß, der irgendwo auf dem Grund des Höhlensees lag. Wäre Amke nicht bei ihm gewesen, hätte er sich nicht so große Sorgen gemacht. Solange sie hinter ihm saß, würde er sich nur schwer verteidigen können.

Leise raunte er ihr zu: »Wenn ich dir ein Zeichen gebe, springst du vom Pferd!«

»Was flüstert Ihr?« erscholl eine fremde Stimme. »Nennt lieber Euren Namen!«

»Nennt Euren zuerst, Fremder!« erwiderte Siegfried mit ebenso lauter, herrischer Stimme.

»Das ist Harko!« rief Amke.

»Amke?« fragte der Schattenreiter.

Er setzte sein Pferd in Bewegung. Es war ein kräftiger, stark-knochiger Mausfalbe. In dem wuchtigen, schwarzledernen Sattel saß Prinz Harko im vollen Jagdgewand, an der Hüfte ein Schwert, den Schild an den Sattel gehängt und einen Spieß in der Rechten.

»Endlich habe ich dich gefunden, Amke! Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht, als dein Pferd ohne dich ins Lager zurückgekehrt ist.«

»Goldflimmer?« rief Amke erfreut aus.

»Das Tier war völlig verängstigt und zerschunden. Seitdem suchen wir dich überall.«

»Ich war bei Siegfried.«

»Das sehe ich«, stieß der Friesenprinz mißmutig hervor. »Aber es bereitet meinen Augen keine Freude. Es schickt sich nicht für die Prinzessin von Friesland, sich allein mit einem Jungen im Wald herumzutreiben!«

»Wir haben uns nicht herumgetrieben!« rief Amke wütend.

»Wieso seht ihr so mitgenommen aus?«

»Siegfried... er hat mich vor einem Bären gerettet. Wäre Siegfried nicht gekommen, hätte der Bär mich getötet!«

»Wo ist denn dieser gefährliche Bär? Habt Ihr Eure Beute nicht mitgebracht, edler Siegfried?«

»Ich pflege lebende Bären nicht an der Leine spazierenzuführen. Hätte ich gewußt, daß ich auf Euch treffe, Prinz Harko, hätte ich es gewiß getan.«

»Wieso lebt der Bär noch, wenn Ihr gegen ihn gekämpft habt?« fragte Harko.

»Weil er vor mir geflohen ist«, erklärte Siegfried.

Harko stieß ein lautes, abgehacktes Lachen aus. »Mir scheint, der einzige Bär, mit dem wir es hier zu tun haben, ist der, den Ihr und meine Schwester mir aufbinden wollt!«

Siegfried konnte kaum noch an sich halten. Bisher hatte er alles geschluckt: Harkos überheblichen Tonfall und die unterschwelligen Unterstellungen, aber Amke und ihn offen als Lügner hinzustellen, das ging gegen seine Ehre.

»Wäre Eure Schwester nicht bei mir, würde ich Euch ganz etwas anderes aufbinden, Friese!«

Das aufgesetzte Lachen verschwand schlagartig aus Harkos Gesicht. Er stieß den Speer mit der Spitze ins Erdreich und stieg aus dem Sattel. »Nur zu, laßt Euch durch Amke nicht stören, Niederländer!«

Noch bevor Amke ihn zurückhalten konnte, war auch Siegfried vom Pferd gestiegen.

»Ich sehe, daß Ihr noch kein Schwert tragt, also wollen wir ganz ohne Waffen kämpfen!« Harko legte sein Wehrgehänge ab.

Auch Siegfried nahm den Dolch aus der Scheide und rammte die Klinge in den Boden. Bevor er sich aufgerichtet hatte, war Harko schon heran und riß ihn um. Erst als Siegfried stürzte, vernahm er Amkes warnenden Ruf. Sie warnte ihn, nicht ihren Bruder!

Siegfried schleuderte Harko über sich hinweg und sprang auf die Füße. Ein wenig benommen plagte sich auch der Friese wieder auf. Er mochte sehr kräftig sein, war aber anscheinend nicht so flink und gewandt wie Siegfried.

Der Xantener stürmte auf Harko zu, verlangsamte aber plötzlich seinen Lauf und erkannte, daß sein Gegner sich nach links abducken wollte. Also warf sich Siegfried in dieselbe Richtung und riß Harko mit sich.

Amkes Bruder lag unter ihm und versuchte vergebens, Siegfrieds große, kräftige Fäuste abzuwehren. Immer wieder trafen sie das Gesicht des Friesen. Blut floß aus Harkos Nase.

Amke war längst abgestiegen und zerrte an Siegfrieds Schultern, flehte ihn an, von ihrem Bruder abzulassen. Vergebens. Er hörte ihre Worte nicht. Es war wie ihm Rausch. Er fühlte in sich dieselbe Kraft wie in der Schlangenhöhle, als er die Spitze des Runenschwertes in Händen gehalten hatte.

Amke wollte Siegfrieds Leib umfassen, seine Arme festhalten. Er schleuderte sie mit solcher Gewalt zurück, daß sie stolperte und zu Boden stürzte.

Erneut schlug er auf Harko ein, wieder und wieder. Der Friese wehrte sich kaum noch, war halb besinnungslos. Aber Siegfried hörte nicht auf, konnte es nicht...

Bis ihn etwas mit schmerzvoller Härte an der Schulter traf. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte neben Harko auf den Waldboden. Über sich sah er einen Reiter, der sich rot gegen den dunkelblauen Abendschimmer abzeichnete. Rot schimmerte die Kleidung, rot das Pferd und rot das narbige Raubvogelgesicht.

»Seid Ihr ein Prinz oder ein Mörder, Siegfried von Xanten?« fragte Markgraf Onno und blickte aus dem Sattel seines Rotfuchses auf den Xantener hinab. »Wißt Ihr nicht, wann ein Recke den Kampf einzustellen hat, will er nicht seine Ehre verlieren?«

Siegfried antwortete nicht. Sein Blick wanderte von Onno über den blutenden, reglosen Harko bis zu Amke, die am Boden kauerte und ihn anstarrte. Er las in ihren Augen Vorwurf und, fast noch schlimmer, Unverständnis. Sie waren sich heute so nahe gewesen, und jetzt sah Amke ihn wie einen Fremden an.

Der friesische Markgraf stieg vom Pferd und kniete sich neben Harko. Einen Augenblick lang sah sich Siegfried versucht aufzuspringen, Harkos im Boden steckenden Spieß zu greifen und ihn zwischen Onnos Schultern zu jagen. Wenn er Onno und Harko tötete, war das nicht eine angemessene Rache für König Siegmunds Tod im Friesenland? Schon im nächsten Augenblick schämte er sich für diesen Gedanken. Einen Mann hinterrücks zu töten, der das Gastrecht in den Niederlanden genoß! Wie konnte er überhaupt an so etwas denken?

»Harko kommt langsam wieder zu sich«, brummte Onno. »Ich weiß nicht, worum Euer Streit ging, Prinz Siegfried. Aber Ihr und Harko solltet Euch hier und jetzt versöhnen oder zumindest einen Waffenstillstand schließen. König Hariolf setzt auf seinen Besuch ebensogroße Hoffnungen wie Eure Mutter, die Königin Sieglind. Ihr würdet beide arg enttäuschen.«

Siegfried sah ein, daß der Markgraf recht hatte. Gleichzeitig ärgerte es ihn, daß er sich von einem Friesen über sein Verhalten belehren lassen mußte. Mißmutig kehrte er mit Onno, Harko und Amke ins Jagdlager zurück.



Über den Feuern briet das Fleisch der erlegten Tiere, und überall duftete es nach frischem Brot und deftigen Pasteten. Wein, Met und Bier flossen in Strömen. Doch all das vergaßen die von den Tafeln aufspringenden Edelleute, als sie den kleinen Reitertrupp erspähten.

Nachdem sich die Aufregung um Amkes Verschwinden und ihre späte Rückkehr gelegt hatte, erzählten die vier Heimkehrer eine Geschichte, die aus Dichtung und Wahrheit bestand. Der Streit zwischen Siegfried und Harko wurde ebenso verschwiegen wie das Abenteuer in der Schlangenhöhle, dafür wurde Siegfrieds Kampf mit dem Bären ausgeschmückt, um seinen arg zerschundenen Leib zu erklären. Prinz Harko dagegen mußte sich mit einem simplen Sturz vom Pferd bescheiden, was ihn sichtlich erzürnte. Markgraf Onno achtete darauf, daß keine offene Mißstimmung zwischen Friesen und Niederländern auftrat.

Endlich war alles erklärt. Siegfried, Amke, Harko und Onno setzten sich zu König Hariolf, Graf Reinhold, Bischof Severin und anderen hochstehenden Herren an die Tafel der Königin. Das kräftige Holz bog sich fast unter dem reichlichen Mahl, das die Aufwärter um immer neue Köstlichkeiten ergänzten.

Aber Siegfried aß kaum etwas. Er dachte an das Runenschwert und an die Enttäuschung, die er jedesmal zu sehen bekam, wenn sein Blick den von Amke kreuzte. In ihm wollte keine rechte Freude darüber aufkommen, daß ihm jetzt auch die zweite Hälfte der magischen Waffe gehörte. Er fragte sich, ob er an diesem aufregenden Tag mehr verloren als gewonnen hatte.


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