Kapitel 6


»Was ist das?« fragte Amke in einer Mischung aus Verwunderung und Ehrfurcht, als ihr Blick auf einen langgestreckten Felsen fiel. Auf seiner ganzen beeindruckenden Länge von Wald gesäumt, lag er wie ein erschlagener Lindwurm im warmen Sonnenlicht und schimmerte seltsam bläulich, als sei er nicht aus Stein, sondern aus Eisen.

»Unser Ziel«, antwortete Siegfried unbestimmt und ritt an dem schlangenartigen Felsen entlang, bis er das größere Ende erreichte: das Schlangenmaul.

In alten Erzählungen hatte Siegfried gehört, daß sich hier der Eingang zur Höhle befinden sollte. Er mußte Graufell nah an den Fels treiben, bevor er den engen Durchlaß sah. Gebannt starrte er auf den schwarzen Eingang und wartete tatsächlich darauf, daß plötzlich mit erregtem Zischeln eine lange Schlangenzunge hervorzüngelte.

Als nichts dergleichen geschah, stieg Siegfried ab und half Amke vom hohen Rücken Graufells.

Sie betrachtete interessiert den Schlangenkopf und meinte: »Hier wollen wir also hinein.«

»Wir?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Davon kann keine Rede sein. Ich gehe hinein, du wartest hier.«

»Warum?«

»Weil ich es so bestimme. Erinnere dich an die erste Bedingung, Amke!«

»Ich meinte, warum du in die Schlangenhöhle willst.«

»Keine Fragen, das ist die zweite Bedingung«, ermahnte Siegfried seine Begleiterin. »Halte dich daran und...« Er hielt inne. Plötzlich begriff er, daß sie eben die Schlangenhöhle bei ihrem Namen genannt hatte.

»Du... du weißt, wo wir uns aufhalten?«

»An der Schlangenhöhle.«

Er legte die Hände auf ihre Schultern, so fest, daß Amke zusammenzuckte. »Woher weißt du das?« rief er unbeherrscht. »Woher kennst du diesen Ort?«

Amke schlug seine Hände beiseite. »Ich kenne die Höhle nicht, aber deine Xantener Recken haben erzählt, daß es zur Jagd in den Schlangenwald geht. Als ich einen Diener nach dem seltsamen Namen fragte, erzählte er mir von dem Felsen, nach dem er benannt ist.«

»Und woher weißt du, daß es dieser Felsen ist?«

»Ich bin nicht blind, Siegfried!« Sie deutete auf den gewundenen Felsen. »Wenn jemals ein Ort den Namen Schlangenhöhle verdient hat, dann dieser. Der Fels sieht so aus, als sei er wirklich einmal eine lebende Schlange gewesen.« Leiser, fast andächtig fügte sie hinzu: »Eine unheimlich große Schlange!«

»Ja«, sagte Siegfried gedankenverloren. »Es muß wahrlich ein Riese gewesen sein, der sie versteinerte.«

»Gibt es eine Geschichte zu diesem Ort?« fragte Anke.

Siegfried nickte. »In fernen Zeiten, als Xanten noch ein unberührter Flecken und der Heiland noch nicht geboren war, soll die Riesenschlange die ganze Umgegend in Schrecken versetzt haben. Immer wieder überfiel sie Siedlungen. Je mehr Opfer sie verspeiste, desto größer und hungriger wurde sie. Schließlich fiel sie sogar über die Riesen her, die wegen ihrer Kraft und Größe bislang von der Schlange verschont geblieben waren. Sie tötete alle Riesen bis auf einen. Er war der angesehenste, größte und stärkste Riese des Dorfes. Als er von seiner Jagd zurückkehrte, schwor er der Schlange bittere Rache. Er fand sie und kämpfte mit ihr, aber beider Kraft war gleich, und niemals schien es einen Sieger geben zu können. Da kam der Riese auf den rettenden Einfall: Er bewarf die Schlange mit großen Felsen und deckte sie vom Kopf bis zum Schwanz damit zu, bis sie sich nicht mehr bewegen konnte. So lag sie reglos, viele Jahre lang, und versteinerte.«

Amke schüttelte sich, während sie auf den Schlangenkopf starrte. Als sähe sie tatsächlich ein Ungeheuer vor sich.

Siegfried nahm den Spieß und den Packen mit seiner Ausrüstung von Graufell und wickelte eine der Fackeln aus. Dann schüttete er Zunder auf den mit Werg umwickelten und in Harz getränkten Kienspan, den er aufrecht in den felsigen Boden gerammt hatte. Schließlich nahm er einen kantigen Feuerstein und ein handliches Schlageisen zur Hand. Genau über dem Fackelkopf ließ er das Eisen auf den Flint treffen, immer wieder, bis die Funken sprühten, im Zunder zu Flammen wurden und die Flammen den Fackelkopf umleckten. Sorgfältig verstaute er Flint und Eisen wieder in dem großen Ledersack, den Graufell zuvor getragen hatte. Siegfried band ihn auf seinen Rücken und zurrte die Riemen fest.

Als er Fackel und Spieß zur Hand nahm, bat Amke: »Geh nicht, Siegfried!«

»Fürchtest du dich? Wenn Gefahr droht, nimm Graufell und reite heim zum Jagdlager. Er wird den Weg finden.«

»Ich habe keine Angst um mich, sondern um dich, Siegfried!«

Tief in seinem Innern hatte er gehofft, daß sie so etwas sagen würde. Es schmeichelte ihm. Daß Amke sich um ihn ängstigte, bedeutete, daß er ihr nicht gleichgültig war.

»Ich werde zurückkommen«, sagte er und bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen. »Solltest du allein ins Lager zurückreiten, verrate niemandem, wo ich bin. Denke immer an die drei Bedingungen!«

Er wollte sich umwenden, um zum Schlangenmaul zu gehen.

»Warte!« rief Amke, trat dicht vor ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Das soll dir Glück bringen.«



Tief gebeugt arbeitete sich Siegfried durch den engen Eingang ins Innere der Höhle vor. Die Felsen waren gezackt und scharfkantig. Wie Zähne eines Untiers schnappten sie nach ihm. Sein Leib und die Beine waren durch festes Rindsleder geschützt, ebenso die Füße, die in kniehohen Stiefeln steckten. Er war froh, diese einfache Kleidung gewählt zu haben. Die edlen Stoffe, die er am Xantener Hof getragen hatte, würden jetzt schon in Fetzen an ihm herunterhängen.

Endlich konnte er sich aufrichten. Er reckte die Arme hoch und streckte seinen ganzen Leib. Die Fackel in seiner Rechten warf trotzig ihren flackernden Schein in den finster gähnenden Felsschlund.

Und Siegfried erschrak...

Er sah Schlangen. Nichts als Schlangen. Schlangen von der Größe eines Riesen.

Von der zerklüfteten Decke ließen sie sich herunter, bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen. Und vom Boden reckten sie sich zu ihm empor.

Hunderte von Schlangen hatten ihn eingekreist!

Er faßte den Spieß fester und wußte doch, daß ihm dies kaum helfen würde. Er konnte vielleicht ein, zwei Schlangen durchbohren, aber gleichzeitig würden ihn hundert andere anfallen. Er hatte Amke nicht die ganze Geschichte erzählt. Es hieß, als die Riesenschlange unter den Steinen zur Reglosigkeit verurteilt war, verwandelte sich ihr Leib in unzählige kleine Schlangen. Diese Schlangen hausten fortan in dem Höhlenlabyrinth.

Und wie Schlangen aus Stein wirkten die Tiere, die Siegfried umgaben.

Er hörte kein Schaben, als ihre Leiber über den Stein krochen. Kein Zischeln ihrer ruhelosen Zungen.

Die einzigen Geräusche waren sein heftiges Atmen und das Knistern der Fackel, die grauschwarzen Rauch und beißenden Gestank verströmte.

Dann begriff er, daß es tatsächlich nur Gestein war, auf das er blickte. Schlangen aus Stein. Oder Felsnadeln, die Schlangen ähnelten. Sie wuchsen von der Decke und aus dem Boden. Im flackernden, verzerrenden Schein der Fackel hatte es ausgesehen, als bewegten sie sich.

Siegfried lehnte den Spieß an eine Felswand und wischte mit dem Handrücken über seine feuchte Stirn. Er schalt sich einen Narren, daß er auf das Schattenspiel hereingefallen war. Wie gut, daß Amke ihn nicht so gesehen hatte. Den tapferen Bärenbezwinger, der sich vor ein paar Felsnadeln fürchtete!

Wütend über seine Furchtsamkeit griff er nach dem Spieß und setzte seinen Weg fort. Oft standen die Felsnadeln so dicht, daß er sich mühevoll zwischen ihnen hindurchquetschen mußte. Dann wieder mußte er sich bücken und sogar auf allen vieren kriechen, um weiterzukommen.

Wo genau sein Ziel lag, wußte er nicht. Reinhold hatte von einer tief in der Höhle verborgenen Spalte gesprochen, auf die bei Tag das Sonnenlicht fiel. Nun, die Sonne draußen schien gleißend hell. Gab es diese Spalte, so mußte er sie entdecken. Also begab er sich immer tiefer in den Leib der steinernen Schlange hinein.

Ab und an bemerkte er zur Linken oder zur Rechten Abzweigungen. Da sie zumeist zu eng waren, schenkte er ihnen kaum Beachtung.

Je weiter er in die Höhle eindrang, desto zuversichtlicher wurde er. Bis jetzt hatte er noch keine Schlange entdeckt. Vielleicht würde es einfacher werden als in der Wolfsburg! Doch kaum hatte er diesen Gedanken gefaßt, spürte er, wie etwas seine Füße streifte. Siegfried sprang zurück und schwenkte die Fackel nach unten.

Die Tiere, die um seine Füße huschten, waren so groß wie eine Männerhand, mit langen Schwänzen. Er sah hinab auf braungraues Fell, kleine Spitzohren und krallenbesetzte Pfoten.

»Ratten!« stieß er ein wenig erleichtert hervor. Dreißig oder vierzig. Hatten sie ihn für eine lohnende Beute gehalten? Dicht über dem Boden schwenkte er die Fackel. Die Hitze trieb die gefräßigen Nager vier, fünf Schritte zurück. Außerhalb dieses Kreises hockten die Höhlenratten und belauerten Siegfried.

Während er sich noch über die mögliche Gefährlichkeit der Ratten Gedanken machte, verschwanden sie so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Sie bewegten sich so flink, daß Siegfrieds Augen ihnen kaum folgen konnten, und fanden Schlupflöcher, wo der Xantener nur Gestein sah.

Eine Ratte aber war nicht schnell genug; sie wurde von dem Feind gestellt, der die anderen Nager verjagt hatte.

Eine Schlange.

Ihr kräftiger Leib saß zwischen einem kurzen, dünnen Schwanz und einem flachen, dreieckigen Kopf. Sie hatte fast dieselbe braungelbe Färbung wie das Fell der Ratten. Nur am Kopf war das Tier anders gezeichnet: Es sah aus wie ein schiefes Kreuz.

Eine Kreuzotter, zweifellos.

Aber mit ihrer Länge von fast zwei Schritten war sie viel größer als jede Kreuzotter, die Siegfried bisher gesehen hatte.

Blitzschnell bewegte sich die Schlange und stieß vor, den Rachen aufgerissen und die beiden großen, nadelspitzen Giftzähne entblößt. Das Schlangenmaul packte die Ratte, und die Giftzähne bohrten sich in den Leib des Nagers. Die Ratte quiekte wie von Sinnen. Ihr Schwanz peitschte wild herum. So rasch, wie sie das Opfer ergriffen hatte, ließ die Otter auch wieder von ihm ab. Siegfried hatte dieses Verhalten schon bei anderen Ottern beobachtet. Sie warteten darauf, bis die tödliche Wirkung des Giftes eintrat, um ihre Opfer anschließend zu verschlingen. Die Höhlenratte schaffte keine zwei Schritte, bevor sie ermattet zu Boden fiel und in heftigen Zuckungen verendete.

Die Schlange sperrte erneut ihr Maul weit auf und begann, die Beute in aller Ruhe zu verschlingen, Stück für Stück: Kopf, Vorderleib, Hinterleib und schließlich auch den Schwanz. Siegfried beobachtete, wie die Verdickung im Schlangenleib allmählich in Richtung Schwanz wanderte. Seine Vermutung hatte sich durch den schnellen Tod der Höhlenratte bestätigt: Diese Schlange war nicht nur größer als gewöhnliche Kreuzottern, sondern auch giftiger!

Reinholds Warnung, als er von der Schlangenhöhle erzählte, klang ihm noch in den Ohren: Mehr Schlangen als je zuvor sollen sich dort tummeln, vor allen Dingen gefährlichere. Schon der Biß einer Kreuzotter von gewöhnlicher Größe konnte einem Mann gefährlich werden. Dieses Riesentier aber würde selbst einen Hünen wie Siegfried töten.

Siegfried sprang vor und schwang den Spieß, ließ die Stahlspitze hinter dem flachen Kopf in den Schlangenleib fahren. Es war ein kräftiger, gezielter Schlag. Der Kopf mit dem Kreuzmal wurde vom Leib getrennt und rollte quer über den Boden. Der Rest der Schlange wand sich in heftigen Zuckungen. Ein Teil des Rattenschwanzes lugte heraus und fiel in den Todestanz ein, als freue sich der Nager, daß seine Mörderin ihn nicht lange überlebt hatte.

Siegfried sprang über die verendende Otter und setzte seinen Weg fort, noch vorsichtiger als zuvor. Er leuchtete mit seiner Fackel auf den Boden und in jede größere Spalte, um nicht von einer Schlange angefallen zu werden. Schlangen liebten die Wärme, wie er wußte. Man fand sie vornehmlich an sonnigen Plätzen. Aber in einer düsteren Höhle? Andererseits war es hier drin ziemlich warm, wärmer, als er vermutet hatte.

Erst als Siegfrieds Wachsamkeit ein wenig nachließ, griffen die Schlangen an. Als hätten sie nur auf diesen Augenblick gewartet...

Die erste mußte über ihm in einer Felsnische gelauert haben. Sie fiel auf seine rechte Schulter und riß den Rachen auf.

Er sah die drohenden Zähne - und stieß zu.

Die Spießspitze drang in den gedrungenen Leib ein und riß das Tier von seiner Schulter. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte er es zur Seite. Es gab ein häßliches, lautes Geräusch, als es gegen eine dicke, aus dem Boden ragende Felsnadel prallte. Etwas stieß gegen seinen linken Unterschenkel. Eine weitere Kreuzotter hatte sich in seinem Stiefel verbissen und versuchte vergeblich, das feste Leder mit ihren langen Giftzähnen zu durchdringen.

Siegfried holte mit der Fackel aus und versengte den schwarzgezackten Leib. Es stank nach verbranntem Fleisch, doch die Otter schaffte es, die Flucht zu ergreifen. Mit einer weitausholenden Bewegung des rechten Arms ließ er die Fackelflamme über den Boden streichen. Gleichzeitig drehte er sich, um mit der Fackel einen Kreis zu ziehen. Plötzlich erkannte Siegfried, daß er von Schlangen umgeben war. Von übermäßig großen, giftigen Kreuzottern!

Als er die Fackel wieder hob, sah er einen Ausweg. Zur Linken verlief ein schmaler Weg um eine Barriere aus Felsnadeln herum. Wenn Siegfried Glück hatte, führte der Gang wieder auf den Hauptweg. Also lief er schnell nach links, bevor die Ottern einen neuen Angriff wagten.

Er glaubte sich schon in Sicherheit, als der Boden unter seinen Füßen nachgab; ein brüchiges Loch im ansonsten festen Fels.

Siegfried versuchte vergeblich, sich durch einen raschen Sprung zu retten. Er stürzte in ein Loch, das so tief war, daß nur noch sein Kopf herausschaute.

In dem Bestreben, sich festzuhalten, hatte er Fackel und Spieß fallenlassen. Sie lagen vor ihm, so dicht, daß er sie mit einem Griff hätte erreichen können - wären seine Arme nicht eingeklemmt gewesen.

So steckte er in dem Loch und sah mit schreckgeweiteten Augen, wie die Schlangen aus dem Dunkel kamen. In aller Ruhe. Sie schienen es nicht eilig zu haben, ihn zu töten. Hilflos mußte Siegfried mit ansehen, wie sie auf ihn zukrochen...



Amke wußte nicht, wie lange sie auf das finstere Loch gestarrt hatte. Längst waren Siegfrieds Schritte verklungen; es war auch nichts mehr vom tanzenden Schein seiner Fackel zu sehen.

Sie fühlte sich einsam und müde. Sie ging zu Graufell, dessen Zügel Siegfried locker um einen Heidelbeerstrauch geschlungen hatte, so daß der prächtige Hengst ausreichend Platz zum Grasen fand. Außerdem konnte er die saftigen schwarzblauen Beeren pflücken, die zwischen den rötlichgrünen Blüten hervorstachen. Aber seltsam, obwohl er zwei Menschen getragen hatte, schien er nicht hungrig zu sein. Unruhig pendelte sein Kopf zwischen dem Schlangenmaul und dem Waldrand hin und her.

Eine Bewegung, die Amke an den großen Bären erinnerte. Und an Siegfrieds mutiges Eingreifen. Als er plötzlich auf die Lichtung galoppierte, war alle Angst um ihr Leben verflogen; sie hatte nur noch um den jungen Xantener gebangt, der ihr in den vergangenen Tagen so sehr ans Herz gewachsen war.

Doch durfte das sein? Durfte sie ihr Herz an den Sohn des Mannes vergeben, der ihre Mutter getötet hatte? Gewiß, ihr Vater war nach Xanten gekommen, um endlich Frieden zu schließen. Aber das bedeutete nicht Versöhnung, schon gar nicht Vergebung. Amke wußte, daß König Hariolf tief in seinem Herzen einen großen Haß auf das Xantener Königshaus empfand. Nicht anders war es mit ihrem Bruder Harko und Markgraf Onno, der im Krieg gegen die Niederlande nicht nur seine Familie verloren hatte, sondern dessen Gesicht auch entstellt worden war.

Amke streichelte den Hengst und legte ihre Wange auf das samtene Fell. Sie genoß die Wärme, die sie spürte. Seit dem Tod der Mutter war ihr nur noch wenig Wärme zuteil geworden.

Ihre sanften Berührungen beruhigten Graufell nicht. Er zerrte so stark an den Zügeln, daß Beeren und Blüten abrissen und zu Boden fielen. Mit gespitzten Ohren blickte er unverwandt zum Waldrand. Amke war alarmiert. Sie wußte, daß Pferde Gefahren wahrnehmen konnten, die ein Mensch weder sah noch hörte. Dann spürte sie es selbst, ganz nah, im Wald...

Sie versuchte, ihre Erregung nicht zu zeigen, und streichelte weiter Siegfrieds Pferd. Aber heimlich glitten ihre Augen über Gras und Strauchwerk zu den Eichen, Buchen, Kiefern und Tannen, die vereinzelt in die Lichtung ragten. Als sie den grauen Schemen bemerkte, verlor sie jede Zurückhaltung und starrte offen zu der Gruppe dunkler Tannen. Doch die Gestalt verschwand, ehe Amke sie noch richtig wahrnehmen konnte.

Hatte der Bär sie verfolgt?

Amke versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß es vielleicht Goldflimmer war, die den Weg zu ihrer Herrin gefunden hatte. Aber warum war die Stute dann nicht auf die Lichtung gekommen? Nein, es mußte ein anderes Wesen sein, das sie beobachtet hatte.

Amke fröstelte plötzlich, trotz der Sonne am wolkenlosen Himmel. Sie hatte Angst vor der unheimlichen Gestalt, die ihr auflauerte. Auch wenn sie das Wesen nicht sah, wußte sie, daß es noch dort war, verborgen im Dunkel und Dickicht des Waldes.

Der Wunsch, nicht hier allein zu sein, wurde übermächtig. Hätte sie das Jagdlager doch niemals verlassen!

Sie dachte an Siegfrieds Rat, bei Gefahr mit Graufell zu fliehen, und löste die Zügel des Pferdes...



Siegfrieds Hände kratzten über den harten Boden, verzweifelt bemüht, das enge Loch zu erweitern, damit er aus seinem Verlies klettern konnte, bevor die Armee der Schlangen ihn erreichte. Wenn er doch nur die Arme bewegen und aus dem Loch strecken könnte, um sich herauszuziehen! Aber so sehr er sich auch anstrengte, er war derart eingezwängt, daß er seine großen Körperkräfte nicht entfalten konnte.

Vor ihm schienen die Schlangen einen bedrohlichen Tanz aufzuführen. Nur vor der zitternder Flamme der Fackel zuckten die Kreuzottern zurück. Keine von ihnen war klein, die meisten größer als üblich. Und alle waren giftig.

Plötzlich hielt das Otterngezücht inne. Die züngelnde Brut teilte sich und machte eine Gasse frei für eine Schlange, die viel größer war als alle anderen. Die Ottern schienen ihr Achtung zu erweisen wie Menschen ihrem König. Im Fackelschein bemerkte Siegfried die Kopfzeichnung der großen Otter. Unter dem Kreuz setzte sich das Muster in einem Gebilde fort, das tatsächlich einer Krone ähnelte. Ein Schlangenkönig oder eine Schlangenkönigin? Siegfried verblieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Die große Schlange hatte ihn fast erreicht. Sie hob den Vorderleib und den Kopf, wie um ihm in die Augen zu sehen. Die dünne, in zwei Spitzen auslaufende Zunge schnellte hervor und berührte seine Wange, ganz leicht nur und auf eine schreckliche Weise zärtlich.

Siegfried zog den Kopf zurück. Ein nutzloses Unterfangen. Die Königsschlange streckte ihren Leib ein wenig vor, und schon fuhr ihre Zunge erneut über sein Gesicht. Als wolle sie mit ihrem Opfer spielen, bevor sie es tötete. Plötzlich riß die Bestie ihr Maul auf und entblößte die fingerlangen Giftzähne. Der Feuerschein verlieh ihnen einen rötlichen Schimmer.

Siegfried wagte nicht, mit den Augen zu zwinkern. Er konnte sich nicht wehren und die Schlange nicht daran hindern, ihn zu töten, wann immer sie es wollte. Aber er glaubte, daß die Königsschlange nicht zustieß, solange er ihren starren Blick erwiderte. Und so hielt er seinen Kopf reglos, sah in ihre roten Augen mit den länglichen, senkrechten Pupillen. Wie schwarze Schlitze wirkten sie. Wie Boote, die in einem Blutmeer schwammen. Und Siegfried verspürte den Drang, sich in dieses Meer zu stürzen, sich in ihm zu verlieren, Erlösung zu finden... Die Königsotter bewegte sich. Doch nicht mit der Schnelligkeit eines zur Erde fahrenden Blitzes, wie es die Ottern beim Angriff taten. Quälend langsam kam ihr Kopf näher. Dicht vor seinen Augen schwebte das graue Band ihres Leibes mit dem Muster aus dicken schwarzen Zacken. Wie das verzauberte Kopfband einer eitlen Frau, das sich, von Geisterhand bewegt, um seine Stirn legen wollte.

Er hörte ein scharfes Zischeln an seinem linken Ohr, als der Kopf der Schlange sein Gesichtsfeld verließ. Er wagte nicht, das Haupt zu drehen, traute sich auch nicht die kleinste Bewegung. Es wäre ihm wie das Zeichen seiner Unterlegenheit erschienen. Wie die Bitte an die Otter, ihn endlich zu erlösen - mit dem Tod!

Die Schlange berührte sein Haar. Wie das sanfte Streicheln seiner Mutter, dachte Siegfried und wehrte sich gegen das angenehme, wohlige Gefühl. Er durfte der tückischen Schlange nicht trauen. Sie mochte ihm Wärme und Zärtlichkeit vorgaukeln, aber sie wollte seinen Tod. Er hielt still. Es war wie ein Pakt, den er mit der Otter geschlossen hatte. Sie ließ ihn leben, solange er sich nicht rührte und eins war mit dem Fels, der ihn umschloß.

Ihr Kopf erschien vor seinem rechten Auge und hielt inne. Ganz nah beieinander, starrten Mensch und Schlange Auge in Auge. Die fadendünne Zunge schoß vor, traf Siegfrieds Auge. Er widerstand dem Drang, es zu schließen, den Kopf jäh zur Seite zu wenden, um die Bestie von sich abzuschütteln.

Die Zunge zog sich von seiner Pupille zurück, fuhr über Nase und Wange. Die Otter schien dieses grausame Spiel zu genießen, schien jeden Fingerbreit von Siegfrieds Gesicht erkunden zu wollen. Er spürte ihren Leib auf seiner Wange, nicht kalt und glitschig, sondern trocken und angenehm warm.

Trügerisch angenehm!

Die Zunge leckte an Siegfrieds Lippen wie zu einem unanständigen, widernatürlichen Kuß. Er konnte nicht länger an sich halten und öffnete den Mund, wollte die Lippen vor der Schlangenzunge retten. Darauf hatte die Otter nur gewartet. Erst nur mit der Zunge, dann mit ihrem Kopf, drang sie in seinen Mund ein. Wollte sie sich mit ihrem ganzen Leib in den Menschen schlängeln?

Siegfried verspürte einen starken Würgereiz, als die fremde Zunge in seinen Rachen vorstieß. Dann biß er zu.

Mit aller Kraft.

Knirschend durchtrennten seine Zähne Schuppen, Haut und Fleisch. Nur für einen winzigen Augenblick. Dann öffnete Siegfried eingedenk des tödlichen Giftes schnell den Mund und spie den Kopf der Otter aus.

Das Schlangenhaupt war nicht ganz vom Leib abgetrennt. Die Königsotter lebte noch und wand sich schmerzerfüllt. Die übrigen Ottern wichen zurück, als wollten sie ihrer Herrscherin im Tod nicht zu nahe kommen.

Die Zuckungen der Königsschlange wurden schwächer, und schließlich lag sie reglos am Rand der Grube. Erregt und erleichtert atmete Siegfried tief durch. Mit jedem kräftigen Atemzug pumpte er neues Leben in seinen Leib. Es war ein gutes, euphorisches Gefühl, den gefährlichen Gegner trotz seiner hilflosen Lage besiegt zu haben. Doch es währte viel zu kurz...

Die Ottern schlängelten wieder auf die Grube zu. Unzählige. Aus allen Richtungen. Sie kamen, um den Tod der Königsschlange zu rächen. Die ersten Tiere hoben ihre Leiber, machten sich zum Todesstoß bereit.

Da sprang eine Gestalt aus dem Dunkel hervor, griff mit einer flinken Bewegung nach Siegfrieds Fackel und strich den qualmenden, stinkenden Brand dicht über den Boden. Gierig fraß das Feuer die Schlangenleiber. Erschrocken von dem neuen, unerwartet in ihrem Rücken aufgetauchten Gegner, zog sich die Schlangenbrut rasend schnell in ihre Schlupflöcher zurück. Binnen weniger Augenblicke war keine einzige Otter mehr im Umfeld der Grube zu sehen.

Froh über seine Rettung und gleichzeitig überrascht starrte Siegfried in Amkes besorgtes Gesicht. Gebückt stand sie vor ihm und hielt die Fackel dicht über den Boden, bereit, sich und Siegfried gegen einen neuen Angriff zu verteidigen. Wie eine Wölfin, die ihren Wurf beschützte.

Aber die Schlangen kehrten nicht zurück; sie waren in die Flucht geschlagen - oder warteten auf eine günstigere Gelegenheit.

»Die Grube!« stieß Siegfried hervor und unterdrückte die drängende Frage, wie Amke hergekommen war. »Sie ist zu eng, ich komme nicht hinaus. Du mußt mir helfen. Nimm den Spieß und verbreitere das verfluchte Loch!«

Amke legte die Fackel an den Grubenrand, so nah, daß sie jederzeit danach greifen konnte, um die Schlangen in die Flucht zu schlagen. Dann nahm sie den Spieß auf und stieß ihn in das Loch. Größere Brocken aus Gestein oder Erdreich lösten sich und rieselten an Siegfried hinab.

»Ja, mach weiter!« feuerte er die Friesin an.

Amke arbeitete ohne Unterlaß, bis Siegfried glaubte, daß es genug sei. Er preßte sämtliche Luft aus seinen Lungen, machte sich so dünn wie möglich und zog die Arme hoch. Wieder riß scharfkantiger Stein seine Haut auf, aber es gelang. Erst kam der linke, dann auch der rechte Arm frei. Siegfried stützte sich mit den Händen auf und kletterte mit Amkes Hilfe aus der beinahe tödlichen Falle.

Vor seinen Füßen lag die Königsotter. Ihr Leib zitterte leicht.

Sie war noch immer nicht tot!

Er erinnerte sich an das entwürdigende Gefühl, ausgeliefert zu sein. Von Abscheu und Zorn gepackt, trat er zu, hieb den Stiefelabsatz immer wieder auf den gemusterten Körper, zertrat ihn, bis der Schlangenkopf endgültig vom Leib getrennt war.

Die Wut ließ nach, aber nicht der Widerwille, den er beim Anblick der toten Otter empfand. Er spürte einen plötzlichen Druck in der Magengegend. Mit vorgekrümmtem Leib, die Rechte an eine Felsnadel gestützt, übergab er sich, bis er nur noch grünliche Galle erbrach.

Als es vorbei war, drehte er sich mit verschämtem Blick zu Amke um. Sich eine solche Blöße gegeben zu haben war, eines Mannes unwürdig.

»Du warst sehr tapfer, Siegfried«, sagte Amke. »Ich habe gesehen, wie du... zugebissen hast. Ich glaube, ich an deiner Stelle wäre vor Angst gestorben.«

»Das wäre ich auch fast«, erwiderte er leise, ohne sie anzuschauen.

»Du bist der tapferste Recke, den ich kenne«, erklärte sie mit ehrlicher Bewunderung. »Du wärst gewiß nicht aus Angst vor einem Geist von der Lichtung geflohen.«

Siegfried verstand den Sinn ihrer Worte nicht und bat Amke um Erklärung.

Sie berichtete von der geisterhaften Gestalt, die sie gesehen hatte und die sie inzwischen nur noch für eine Einbildung hielt, für einen Lichtreflex vielleicht.

Amke hatte keine Fackel bei sich gehabt. Hätte sie all das Getier gesehen, das um ihre Füße strich, hätte sie sich vielleicht aus Furcht auf einen erhöhten Felssims verkrochen. So aber war sie weitergelaufen, von der Hoffnung beseelt, möglichst bald auf Siegfried zu treffen. Bis sie den Fackelschein sah, nicht vor sich auf dem Hauptweg, sondern von links kommend. Zögernd war sie ihm gefolgt und hatte Siegfried in dem Augenblick erreicht, als er die Königsotter zerbiß.

»Jetzt bin ich also hier«, seufzte sie. »Und wegen meiner dummen Furcht habe ich Graufell losgebunden. Er ist wohl schon weit fort, und wir müssen zu Fuß zum Lager zurückkehren.«

»Das wird sich finden«, erwiderte Siegfried nachdenklich. »Erst einmal müssen wir entscheiden, was wir mit dir machen.«

»Mit mir?« Amke verzog das Gesicht vor Verwunderung. »Ich dachte, wir kehren jetzt gemeinsam zurück.«

»Ich bin noch nicht am Ziel, Amke.«

»Du meinst, du willst noch weiter in die Höhle hinein?«

Er nickte.

Amke sah auf die tote Schlange und auf die Grube. »Was auch immer du hier suchst, ich hoffe, es lohnt sich und ist mindestens so wertvoll wie der Nibelungenhort.«

»Der Nibelungenhort?« Siegfried horchte auf.

Amke zuckte mit den Schultern. »Nur eine alte Geschichte von einem unermeßlich großen und kostbaren Schatz. Als ich klein war, hat meine Mutter manchmal davon erzählt. Wenn ich aus Versehen etwas kaputt gemacht hatte, sagte sie manchmal, man müßte den Hort der Nibelungen finden, um sich ein Kind wie mich zu leisten.«

»Den Hort der Nibelungen«, wiederholte Siegfried leise, fast andächtig. »Schade, daß es nur eine Geschichte ist.«

»Ja, schade«, stimmte Amke zu und fragte dann: »Gehen wir weiter?«

Er sah sie forschend an. »Du willst wirklich mitkommen?«

»Ja. Und ich verspreche, keine Fragen zu stellen.«

Siegfried überlegte. Jetzt, wo er schon so weit vorgedrungen war, hätte es ihn schwer getroffen, umkehren zu müssen. Und er konnte Amke schlecht allein zurückschicken oder gar bei den Schlangen zurücklassen. Außerdem schien es ihm draußen auf der Lichtung nicht mehr sicher zu sein. Zwar hatte er sich bei Amkes Erzählung nichts anmerken lassen, aber er hielt die seltsame graue Gestalt keineswegs für eine Sinnestäuschung. Schon im Königswald und in Xanten hatte er selbst den Unheimlichen erblickt, den Grauen Geist!

Wer war er? Suchte er auch nach dem Runenschwert? Wollte er Siegfried daran hindern, das Erbe seines Vaters anzutreten?

»Also gut«, sagte er. »Ich nehme dich mit, in der Hoffnung, daß du dich nicht als Last erweist.«

»Als Last?« rief sie empört. »War ich etwa eine Last, als ich die Schlangen vertrieb und dir aus der Grube half?«

»Nein, verzeih. Ich schulde dir mein Leben.«

»Nein, du hast auch mein Leben gerettet«, entgegnete Amke und dachte an den Bären. »Welchen Weg nehmen wir?«

»Wir versuchen es mit dem Hauptgang. Wenn der Boden hier an mehreren Stellen brüchig ist, könnte es übel enden.«

»Sind im Hauptgang keine Schlangen?«

»Nicht, wenn die furchterregende Walküre Amke sie vertrieben hat«, erwiderte Siegfried mit einem Lächeln. »Und wenn doch, müssen wir uns auf die Fackeln verlassen.«

Er zog eine zweite Fackel aus seinem Gepäck, entzündete sie an der ersten und reichte sie Amke. Dann kehrten sie zum Hauptgang zurück. Sie gingen langsam und beleuchteten sorgfältig Boden, Wände und Decke. Außerdem stieß Siegfried mit dem stumpfen Spießende bei jedem Schritt vor sich auf den Boden, um eine neue Falle rechtzeitig zu bemerken.

Tiefer und tiefer drangen sie in den Leib der steinernen Riesenschlange ein. Sie wurden nicht mehr von Schlangen angegriffen. Die einzigen Wesen, denen sie begegneten, waren Ratten, Schnecken, handgroße Spinnen und Fledermäuse, die mit dem Kopf nach unten an der Decke hingen, ihren pelzigen Körper zum Schlafen mit den lederartigen Flügeln bedeckt, so daß nur die spitzen Schnauzen herausschauten.

Die Fackeln beleuchteten den Weg, doch auf einmal wurde es vor ihnen heller. Kein rötlich tanzendes Licht wie das der Fackeln, sondern ein natürlicher Schein, den Strahlen der Sonne ähnlich.

Es war tatsächlich Sonnenlicht!

Sie waren dem Ziel nahe, und Siegfried beschleunigte seine Schritte. Er vergaß vor Aufregung sogar seine Vorsicht und tastete den Höhlenboden nicht länger mit dem Spieß ab.

»So warte doch!« rief Amke hinter ihm. »Siegfried, was hast du denn?«

»Da vorn muß es sein!« antwortete er über die Schulter.

»Was?«

Ohne zu antworten, bog er um eine Reihe grober Felsnadeln - und blieb stehen, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihm darbot.

Vor ihm erstreckte sich ein unterirdischer Teich, fast schon ein See, aus dessen Mitte eine große Felsnadel ragte. Viele Verästelungen erhoben sich über das grünblau schimmernde Wasser. Das alles sah Siegfried überdeutlich, weil durch einen fast mannsbreiten Schacht das Sonnenlicht einfiel. Zu eng, um hindurchzuklettern, aber breit genug, den Felsen im See zu beleuchten.

Siegfried wunderte sich, daß Reinhold nichts von dem Gewässer erzählt hatte. Der Boden vor Siegfried mußte abschüssig sein und hatte sich aus einem unbekannten Grund in den vergangenen Jahren mit Wasser gefüllt.

Und das Runenschwert?

Siegfried schritt an den Rand des Gewässers und suchte den zerklüfteten Felsen sorgsam mit den Augen ab. Da, in einer Spalte, blinkte etwas im Sonnenlicht. Er strengte seine Augen an und erkannte blitzenden Stahl.

»Da ist es!« stieß er hervor.

»Meinst du das Leuchten in dem Felsen?« fragte Amke, die neben ihn getreten war. »Sieht aus wie ein Dolch.«

»Eine Schwertspitze!«

»Seltsam«, meinte die Friesin. »Wie kommt die hierher?« Als sie seinen düsteren Blick bemerkte, seufzte sie: »Was willst du jetzt unternehmen?«

»Ich werde mir den Stahl holen! Deshalb sind wir hier.«

Seines Wamses und der Stiefel ledig, schwamm Siegfried mit kräftigen Zügen durch das überraschend warme Wasser. Fast wie in einer Badestube. Es lag wohl an der Sonne, die den See den ganzen Tag lang beschien. Siegfried hatte seine Ausrüstung bei Amke zurückgelassen, bis auf den Dolch an seiner Seite und den ausgeleerten Ledersack auf seinem Rücken, in dem er seine Beute verstauen wollte.

Er wähnte sich schon im Besitz der zweiten Schwerthälfte und achtete auf nichts anderes, sah nur das verlockende Blitzen in fast greifbarer Nähe. Schneller und schneller wurden die Schwimmbewegungen seiner Arme und Beine, um endlich des kostbaren Stahls habhaft zu werden.

Bis er etwas hörte. Ein Geräusch übertönte das Plätschern des Wassers.

Ein schriller, langgezogener Schrei.

So schnell er konnte, drehte er sich im Wasser und sah Amke am Ufer stehen. Sie wedelte mit den Armen und rief nach ihm. Doch verstand er den Grund nicht. Er sah kein anderes Wesen in der Höhle, konnte keine Bedrohung ausmachen. Plötzlich deutete Amke auf das Wasser. Siegfried wandte den Kopf und erstarrte. Etwas war aus dem Wasser aufgetaucht. Nein, es tauchte immer noch auf und wuchs mit jedem Augenblick. Eine Schlange richtete sich dort auf, größer noch als die Königsotter!

Die Wasserschlange war nicht gemustert, sondern tiefschwarz. Der einzige Farbtupfer war das stechend rote Auge an der linken Kopfseite. Sie hatte nur dieses eine Auge. An der Stelle des anderen war eine große, häßliche Narbe zu sehen.

Unwillkürlich dachte Siegfried an den einäugigen Wolf, gegen den er in der alten Königsburg gekämpft hatte. Da hörte er auch schon die unheimliche lautlose Stimme:

Versuche die Götter nicht, Siegfried von Xanten! Fürchte den Fluch des Runenschwertes! Kehre um und verlaß diesen Ort!

Siegfried warf einen besorgten Blick über die Schulter. Er würde es nicht bis zur Felsinsel schaffen. Die riesige Wasserschlange war schneller als er und glitt mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen über das Wasser wie über festen Boden.

Schwimm zurück, Siegfried! Höre auf das Wort der Götter!

Er drehte sich im Wasser um. Doch er verdrängte die Stimme, die ihn verwirren wollte, zog seinen Dolch und bereitete sich auf den Kampf mit der schwarzen Schlange vor.

Als nur noch zwei Armlängen Mensch und Untier trennten, erhob die Schlange ihren Vorderleib. Siegfried wartete den Vorstoß des Ungeheuers nicht ab, sondern tauchte, schwamm unter Wasser auf die Schlange zu und stieß die Klinge tief zwischen ihre dunklen Schuppen. Mit beiden Händen hielt er den Dolchgriff fest, als die Schlange sich vor Schmerzen wand. Blut trat in großer Menge aus und bildete eine dunkle Wolke, die sich im Wasser ausbreitete.

Siegfried zerrte an dem Messer, um es der Schlange aus den Leib zu reißen. Die Bestie versuchte anzugreifen und sich um Siegfried zu winden. Endlich, mit letzter Kraft bekam er das Messer frei. Er wollte erneut zustoßen, doch die Schlange war schneller und schlang ihren kräftigen, langen Leib um seinen Körper. Drückte seine Arme so fest an ihn, daß er sie kaum noch bewegen konnte. Der Dolch, den er krampfhaft mit der Rechten umklammerte, schien vollkommen nutzlos.

Kehre um, Siegfried! Versprich, das Runenschwert nicht wieder zusammenzufügen!

»Nein!« schrie er und versuchte unter Aufbietung aller Kräfte, den rechten Arm mit dem Dolch freizubekommen. Allmählich verschwamm alles um ihn herum. Der schillernde See, der ungewöhnlich geformte Felsen und das Ufer mit Amke, deren Schreie er kaum mehr wahrnahm.

Ein kalter Hauch streifte ihn und weckte noch einmal seine erlahmenden Lebensgeister. Plötzlich schien der Druck um seinen Leib nachzulassen. Eine Einbildung, sagte er sich. Doch immer mehr belebende Luft strömte in seine Lungen.

Siegfried war frei!

Die Wasserschlange kämpfte - aber nicht länger gegen ihn. Ein Vogel hatte sich in ihren Leib verkrallt und riß mit seinem spitzen Schnabel immer neue Fleischfetzen heraus.

Es war der riesenhafte rote Falke!

Diese Erkenntnis ließ alle Furcht von Siegfried abfallen. Der Falke hatte ihm schon einmal geholfen. Er war für ihn fast wie ein Freund, ein Beschützer.

Woher das geheimnisvolle Tier kam, war in diesem Augenblick gleichgültig. Wichtig war nur, daß es auf Siegfrieds Seite stand. Gemeinsam hatten sie den einäugigen Wolf besiegt. Gemeinsam würden sie auch die einäugige Wasserschlange überwinden!

Siegfried steckte den Dolch in die Scheide und schwamm zum Ufer, wo ihm eine erleichterte Amke entgegenlief.

»Den Spieß!« keuchte er. »Schnell, wirf ihn mir zu!«

Sie verstand und schleuderte den Spieß ins Wasser. Siegfried ergriff ihn und schwamm zurück zu den beiden großen, heftig miteinander ringenden Tieren. Es sah so aus, als würde die Schlange die Oberhand gewinnen. Sie schlängelte sich um den Falken, um den Vogel unter Wasser zerren.

Siegfried erhob seinen Oberkörper aus dem Wasser, holte aus und schleuderte den Spieß. Der lederumwickelte Schaft mit der stählernen Spitze fuhr mitten in das Durcheinander aus dem peitschenden Schlangenleib, wild flatterndem Gefieder und aufspritzendem Wasser. Doch der Stahl fand sein Ziel. Tief drang er in das einzige Auge der Schlange. Verzweifelt wand sich die Bestie; ihr blieb keine Wahl, sie mußte den Falken loslassen.

Während der Raubvogel sich erneut in der Schlange verkrallte und auf sie einhackte, tauchte Siegfried auf die kämpfenden Tiere zu und zog seinen Dolch. Vor ihm schimmerte der schwarze Schlangenleib im Wasser. Dann stieß Siegfried mit der Klinge zu.

Die Kraft der Schlange erstarb, und sie sackte ganz unter Wasser. Reglos. Immer tiefer. Dabei schaukelte ihr geschundenes Haupt und drehte sich dem Xantener zu. Fast schien es Siegfried, als blicke ihn das tote oder sterbende Tier vorwurfsvoll an, obwohl es doch kein Auge mehr besaß.

Siegfrieds Lungen gierten nach Luft. Er tauchte auf, atmete tief durch und suchte nach dem Falken. Doch alles, was er sah, waren ein paar rote Federn, die auf dem Wasser trieben.

»Wo ist der Falke?« rief er zu Amke.

»Er ist durch den Schacht geflogen.«

Ungläubig legte er den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Das Sonnenlicht schillerte wie ein Regenbogen. Trotzdem erkannte Siegfried, wie eng der Schacht war.

»Ich konnte es auch nicht glauben!« erriet Amke seine Gedanken. »Es sah aus, als würde der Falke schrumpfen. Und plötzlich war er fort, wie vom Sonnenlicht verschluckt!«

Offenbar war der rote Falke ein ebenso hilfreicher wie geheimnisvoller Retter in der Not. Zwar hätte Siegfried gern mehr über das Tier erfahren, doch das schien ihm in seiner Lage ein ziemlich hoffnungsloses Begehren zu sein. Also schwamm er zur Felsinsel. Er zog sich auf das Gestein und starrte aufs Wasser. Die Wogen hatten sich wieder geglättet. Friedlich und betörend schön anzusehen, lag der See im hellen Licht. Er hob sich von der düsteren Höhle ab wie ein Smaragd in dunkler Fassung. Wären nicht die paar Federn auf dem Wasser getrieben, hätte man das schreckliche Abenteuer für einen Alptraum halten können.

Siegfrieds Kräfte kehrten allmählich zurück. Er kletterte höher auf die schroffe, zerklüftete Felsnadel. Endlich hatte er das schimmernde Schwertstück erreicht und streckte langsam die Hand aus. Noch bevor er den Stahl berührte, spürte er das seltsame, warme Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Es schien durch seinen ganzen Leib zu fließen, als er endlich die Spitze des Runenschwertes in den Händen hielt. Jegliche Schwäche verließ ihn. Er fühlte sich frisch und kräftig, so, als könne er es augenblicklich mit einer weiteren Wasserschlange aufnehmen.

Vorsichtig, damit er sich nicht an dem scharfen Stahl verletzte, zog er ihn aus der Felsspalte und hielt die Klinge in den Händen.

Wie prachtvoll sie war!

Siegfried stellte sich vor, wie König Siegmund mit dem Runenschwert Sieg um Sieg erkämpft und zahllosen Gegnern Blut und Leben genommen hatte. Er sehnte sich danach, es ihm gleichzutun. Am liebsten hätte er das Runenschwert sofort gegen einen Feind geführt.

Erst nach einer ganzen Weile bemerkte er, daß Amke ihn rief. Ärgerlich wandte er den Blick von seiner Beute.

»Ich dachte schon, du wärst im Stehen eingeschlafen!« rief Amke über das Wasser. »Willst du in der Höhle bleiben, bis es Nacht wird?«

Sie hatte recht. Die Kraft der durch den Schacht einfallenden Sonnenstrahlen ließ nach. Mißmutig verstaute Siegfried den Stahl in seinem Ledersack, den er wieder sorgfältig auf seinen Rücken band.

Als er in den See stieg, blickte er sich forschend um. Jetzt schien ihm ein zweites Ungeheuer gar nicht mehr so verlockend. Zum Glück war alles ruhig. Auf dem kürzesten Weg schwamm er zurück und erreichte unbehelligt das Ufer.

»Hat es sich gelohnt?« fragte Amke, während sie besorgt auf seinen zerschundenen Leib blickte.

»Gewiß.« Er klopfte auf den Ledersack. »Ich habe, was ich wollte.«

»Zum Glück, es war gefährlich genug.«

Siegfried lächelte. »Um das Schwert zu bekommen, hätte ich auch einen Drachen erschlagen.«

»Es gibt keine Drachen«, belehrte ihn Amke. »Außer in den Märchen.«

»Früher soll es welche gegeben haben.« Siegfried sah auf den Ledersack mit seiner Beute und stellte sich vor, wie es sein würde, das Runenschwert im Kampf zu führen - unbesiegbar zu sein. »Falls es noch einen Drachen gibt, werde ich ihn aufspüren und töten!«

»Ja, gewiß«, erwiderte Amke; es klang eher belustigt als überzeugt. »Darf ich das so wertvolle Stück einmal aus der Nähe sehen?«

»Nein!« antwortete er schroff und preßte den Sack an seinen Leib. Er las in Amkes Gesicht Enttäuschung über sein Mißtrauen. Es schmerzte ihn, aber dann gewann der Gedanke an sein Geheimnis die Oberhand. Er durfte es mit niemandem teilen, jedenfalls jetzt noch nicht. Erst, wenn er beide Schwerthälften zusammengeschmiedet hatte.

Wenn er, Siegfried von Xanten, der Herr des Runenschwertes war!


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