»Brrr, Graufell, halt schon an!« rief der einsame Nachtreiter mit strenger, doch zugleich warmer Stimme. Der gleichmäßige Hufschlag verklang und wich einer Stille, wie sie nur in tiefer Nacht so bedrohlich wirken konnte. Auf einer Anhöhe zügelte Siegfried sein Pferd und starrte über das Land, das dunkel war im Schutz der Nacht. Wiesen verschmolzen mit Sträuchern, Sträucher mit Bäumen, Bäume mit Felsen, Felsen mit Hügeln. Das lederne Sattelzeug knarrte, als der junge Reiter seinen großen, kräftigen Körper reckte, sich vorbeugte und auf das düstere Land voraus starrte, das sich in sanften Wellen hinzog, bis es irgendwo in weiter Ferne mit dem Nachthimmel verschmolz. Der Jüngling strich eine Tolle seines sandfarbenen Haares aus der Stirn und strengte die Augen an.
Da frischte der Wind auf und blies kalt über sein knochiges Antlitz und über die nackten Arme, die aus dem ärmellosen Lederwams lugten. Es schien ihm auf einmal ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, und er verwünschte seine Hast, in der er ohne einen Umhang losgeritten war. Seltsam: Er spürte die Kälte erst hier in den einsamen Wäldern. Auf der Schwertburg war es ihm wie eine laue Sommernacht erschienen.
Doch die Schwertburg lag weit zurück. Siegfried suchte jetzt die alte Königsburg, die man auch die Wolfsburg nannte, irgendwo im Westen. Doch wo war Westen in diesem Meer aus Finsternis?
Die Umrisse von Felsgruppen und Wäldern zeichneten sich deutlicher ab. Zufrieden erkannte der Reiter, daß der Wind die Wolken vertrieben hatte, die sich zwischen die Gestirne und das Land geschoben hatten wie ein Schild zwischen Leib und feindliche Klinge.
Und dann sah er auch den einzelnen mächtigen Baum, der sich auf einem Hügel erhob, mitten aus einem großen Felsen wuchs, wie es schien. Aber es war kein Felsen. Der Reiter erkannte Türme und Zinnen.
»Die Wolfsburg!« flüsterte er andächtig. »Wind, Mond und Sternen sei Dank!«
Schon wollte er die Fersen in die Flanken des grauen Hengstes drücken, da fiel ein riesiger Schatten auf Mann und Pferd. Ein Schemen, der geradewegs aus dem Himmel zu fallen schien und den fast vollen Mond verdunkelte. Als der Jüngling den Kopf in den Nacken legte, sah er die Gestalt eines Vogels - eines großen Raubvogels. Seine schwarzen Umrisse zeichneten sich deutlich vor der gelben Mondscheibe ab; er schien genau über dem Reiter zu schweben.
Reinhold hatte ihn in allen Bereichen der Jagd unterwiesen, und so erkannte der Reiter an den Flügeln sofort den Falken.
Aber das war unmöglich!
Der Falke jagte doch bei Tag!
Außerdem war das Tier ungewöhnlich groß, größer noch als ein Steinadler! Oder war es eine Täuschung, hervorgerufen durch das unwirkliche Mondlicht?
Siegfried wischte mit dem Handrücken über seine Augen und sah erneut den Mond an. Das helle Rund erstrahlte ungetrübt.
Aber der Riesenvogel war verschwunden! Als wäre er niemals dagewesen. Vergeblich suchte der Reiter den Himmel ab.
»Vielleicht doch nur eine Wolke, vertrieben und zerfetzt vom Wind«, flüsterte er.
Endlich trieb er sein neues Pferd an, den Hügel hinab. Wer wußte schon, wann die nächsten Wolken kamen und die Sicht erschwerten. Das Licht der Gestirne mußte er ausnutzen, um den Weg durch die bewaldete Schlucht zu finden - den Weg zur Wolfsburg.
Die alten Bäume im Tal, hoch und wuchtig, hielten das Nachtlicht zurück. Der Reiter fühlte sich, als zöge er mitten durch ein Heer von Riesen, die nur darauf warteten, auf ihn einzuschlagen. Mit jedem Schritt des Pferdes kam Bewegung in die Giganten, wurden die großen Äste zu Keulen schwingenden Armen. Aber kein Schlag traf den Reiter, und endlich lag der Hügel mit der alten Königsburg vor ihm. Traurig blickten leere Fensteraugen ins endlose Waldland.
Das Gemäuer war halb zerfallen, aber auf den Jüngling wirkte es erhaben. Schließlich war dies der Stammsitz seines Geschlechts, wenn auch seit vielen Menschenaltern verlassen. Die Burg erweckte den Anschein, als hätten Menschenhand und Naturgewalten bei ihrer Erbauung zusammengewirkt. Sie wuchs geradewegs aus dem Fels heraus. Kaum war zu sagen, wo das Felsgestein aufhörte und das Mauerwerk begann. Die zerfallenen Mauern verbanden sich an den Rändern schon wieder mit wucherndem Strauchwerk. Unbeirrbar holte sich Mutter Natur das von den Menschen geraubte Land zurück. Die riesige Eiche, die sich aus der Ruine in den nächtlichen Himmel reckte, erschien ihm als Zeichen überlegener Naturgewalt.
Es war der Kinderbaum - der Schwertbaum!
Bald würde er das Runenschwert in Händen halten. Schon die Vorfreude darauf war ein gutes, erregendes Gefühl.
Aus noch einem anderen Grund hob der Anblick seine Stimmung: Er hatte den Weg zur Wolfsburg in der Nacht gefunden - unbehelligt! So waren all die Geschichten um böse Wölfe, die um die Burg streifen sollten, nichts als Ammenmärchen.
Siegfried stieß ein lautes, befreiendes Lachen aus. Es tat gut, in dieser Grabesstille eine menschliche Stimme zu hören, auch wenn es nur die eigene war.
Sein Lachen erstarb schlagartig, als ein anderer Laut an seine Ohren drang: ein langgezogenes Heulen, das er nur zu gut kannte. Ein Wolf!
Die Hand des Jünglings umfaßte den silberbeschlagenen Dolchknauf an seiner Hüfte, die einzige Waffe, die er mitgenommen hatte. Er war kein Ritter, verfügte nicht über Schwert noch Lanze. Gewiß, nirgendwo in den Niederlanden fand man so viele gute Waffen wie in der Schwertburg. Aber er hatte sich beeilen müssen, und niemand durfte seinen nächtlichen Ausflug bemerken. Deshalb trug er nur seinen Dolch bei sich.
Er schnalzte mit der Zunge und trieb Graufell bergan. Wenn ihn die Wölfe hier im Wald erwischten, hatte er kaum eine Aussicht, ihnen zu entkommen. Aber in der Burg mochte es Möglichkeiten zur Verteidigung geben, vielleicht sogar Waffen!
Mit klopfendem Herzen galoppierte er auf den Hügel. Ein anderes Pferd hätte am Zügel geführt werden müssen, aber Graufell erkletterte die Steigung mit dem Reiter im Sattel. Er hörte nichts außer dem Blutpochen und dem Getrommel des schnellen Hufschlags. Erst als er über die alte, morsche Zugbrücke in den Burghof ritt, stellte er fest, daß der Wolf verstummt war.
Siegfried ließ den Grauen ruhig stehen und lauschte eine ganze Weile angestrengt.
Nichts.
Also hatte das Geheul gar nicht ihm gegolten!
Beruhigt stieg Siegfried aus dem Sattel und band den Hengst an dem Brunnengerüst mitten im Hof fest. Graufell zeigte kaum Zeichen von Anstrengung. Stolz stellte der Reiter fest, daß er sich ein gutes Tier ausgewählt hatte.
Die Krone der mächtigen Eiche wies ihm den Weg. Ein überdachter Gang führte zu ihr. Langsam setzte der Jüngling einen Fuß vor den anderen. Er zögerte, weil er nicht wußte, was ihn am anderen Ende des Ganges erwartete. Er kannte nur Geschichten, Legenden.
Würde er wirklich seine Vergangenheit finden - und seine Zukunft?
Im letzten Drittel des Ganges hielt er plötzlich an. Wie aus dem Nichts war etwas vor ihm aufgetaucht.
Ein Wesen, riesenhaft, dunkel, bedrohlich.
Es verfügte nur über ein einziges Auge, aber das war groß und rot, wie von flüssigem Feuer erfüllt. Und es starrte Siegfried an.
Aus der Fratze des Untiers, das langsam auf ihn zuschlich, wurde vor seinem geistigen Auge das Gesicht des Schmieds. Und aus dem Feuerauge wurde die Esse mit den glühenden Kohlen, die Reinholds eher grauen Zügen einen rötlichen Schimmer verliehen.
Siegfried hatte Reinhold getäuscht und betrogen, in mehrfacher Hinsicht. Er hatte sein Versprechen gebrochen, nicht nach dem Runenschwert zu suchen.
Der Mond brach durch die Wolken, und ein Gesicht tauchte auf den Wellen auf. Ein Gesicht, das ihm sehr vertraut war.
Das Gesicht seines Vaters!
Nur ein Spiel des geisterhaften Mondlichts auf den Wellen des Rheins? Oder wirklich Siegmunds Antlitz, wie Siegfried es trotz der verstrichenen Jahre gut erinnerte?
Die Lippen öffneten sich, aber Siegfried hörte keine Worte. Nur das Rauschen und Gurgeln des Stroms.
Er stand vom Felsen auf und lief zum Wasser, bis er mit den Füßen im Fluß stand. Doch eine tiefschwarze Wolke verschluckte den Mond, und das Gesicht verschwand in den Tiefen des Rheins.
Wenn die Rune Gebo Siegfried den Weg zum Runenschwert wies, konnte auch Siegmunds Gesicht keine andere Bedeutung gehabt haben. Von diesem Gedanken beseelt, konnte Siegfried nicht anders, als heimlich Graufell zu satteln und auf Schleichwegen aus der Schwertburg zu führen. Mit einem Pferd wie dem Grauen mußte es gelingen, im Schutz der Dunkelheit zur Wolfsburg und wieder zurück zu kommen.
Und damit hatte er noch ein Versprechen gebrochen: Er hatte Graufell, für den zu sorgen er versprochen hatte, in Gefahr gebracht. Zu drängend war sein Wunsch, mit dem Runenschwert das Erbe seines Vaters in Händen zu halten. Es war wenig genug, was ihm von Siegmund geblieben war.
Würde Sieglind nicht stolz sein, wenn sie ihren Sohn mit dem berühmten Schwert des verstorbenen Gemahls erblickte?
Und wäre es nicht ein Beweis, daß die Götter - welche auch immer - dem König vergeben hatten?
Wenn dem so war, würden die Götter nicht verhindern, daß Siegfried sich das Runenschwert holte. Er, Siegfried von Xanten, würde die Ehre seines Vaters wiederherstellen!
Das alles ging ihm durch den Kopf, während das Untier langsam näherschlich - ein schwarzes Wesen in finsterer Nacht. Das große rote Glutauge blickte bedrohlich.
Siegfried begann zu begreifen, daß er sich verrechnet hatte. Die schwarze Bestie durchkreuzte seine Pläne. Im besten Fall hielt sie ihn nur auf, im schlimmsten verhinderte sie seine Rückkehr - für immer.
Sie war jetzt nah genug, daß er ihre Umrisse deutlich erkennen konnte. Eine kräftige Gestalt, so groß wie ein Krieger, doch ging sie auf vier Beinen. Kleine, spitze Ohren saßen an einem breiten, gestreckten Kopf - und das eine schrägstehende Auge. Es saß an der linken Seite, wuchs zur langestreckten Schnauze hin. Rechts aber, wo ein zweites Auge hätte sein müssen, hing nur narbiges Gewebe unter dem dunklen Pelz. Niemals zuvor hatte Siegfried einen Wolf gesehen, der so schwarz war. Ein Wolf war es, ohne Zweifel, wenn auch größer und dunkler als alle anderen. Und einäugig.
Ein alter Einzelgänger? Oder ein kräftiger Leitwolf?
Siegfried vermochte es nicht zu sagen. So sehr er sich auch bemühte, er konnte keine weiteren Tiere hinter dem Schwarzen erspähen. Aber er mochte darüber keine Beruhigung empfinden.
Und hinter Siegfried? Lauerten dort schon weitere Tiere, bereit, ihm in den Rücken zu fallen?
Er wagte nicht, sich umzudrehen, wollte dem Schwarzen durch seine Unaufmerksamkeit keine Blöße geben. Statt dessen versuchte er sich einzureden, daß der Einäugige allein war und daß Graufell ein warnendes Gewieher ausgestoßen hätte, hätten sich Wölfe auf dem Burghof gezeigt.
Oder hatten sie den Hengst schon gerissen, so schnell und lautlos, wie auch der Schwarze aufgetaucht war?
Der Wolf ließ keinen Laut hören, kein Heulen, kein Knurren, kein Bellen. Geräuschlos wie ein Schatten glitt er auf Siegfried zu.
Ja, weiche zurück, Siegfried von Xanten! Meide den Kinderbaum, fliehe die Wolfsburg! Laß das Runenschwert unberührt!
Siegfried hörte die Stimme, ohne daß jemand sprach. Sie war plötzlich in seinem Kopf. Jetzt erst bemerkte er, daß er langsam zurückging, Schritt um Schritt, zurück zum Burghof, vom Kinderbaum fortgetrieben durch den einäugigen Schwarzen.
Die Stimme mußte eine Ausgeburt seiner Furcht sein. Aber er wollte sich nicht fürchten, wollte tapfer sein, wie es sich für einen Königssohn und einen zukünftigen Ritter ziemte. Also blieb er stehen, stemmte breitbeinig die Füße auf den Boden und legte die schweißnasse Hand um den Dolchgriff.
Fliehe die Wolfsburg, Siegfried von Xanten! Fürchte den Fluch der Götter!
»Nein!« stieß er laut hervor, um sich selbst Mut zu machen und die lautlose Stimme, die er seiner Angst zuschrieb, zu vertreiben. »Ich werde nicht fliehen. Ich will das Erbe meines Vaters, das Runenschwert!«
Er zog den Dolch und wünschte gleichzeitig, einen Speer mitgenommen zu haben. Es war leichtsinnig gewesen, nur mit dem Dolch bewaffnet zur Wolfsburg zu reiten. Handelte so ein Krieger?
Der Wolf blieb stehen, spannte seine Sehnen und Muskeln an. Sein gewaltiger, kräftiger Leib straffte sich. Die Spitzen der Ohren krümmten sich nach vorn. Die Schnauze zog sich zusammen und gab lange Zähne frei, scharf wie Reinholds beste Schwerter.
Siegfried hatte schon Wölfe gejagt und gegen sie gekämpft; er war vorbereitet, als der Schwarze sprang. Blitzschnell warf er sich nach vorn, unter den großen Tierleib hinweg. Geschickt rollte er sich über die linke Schulter ab, sprang wieder auf die Füße und wirbelte herum.
Doch der Wolf war schneller gewesen und setzte schon zum nächsten Sprung an. Wie ein von der Sehne gelassener Pfeil schnellte er durch die Luft.
Siegfried wollte zur Seite wegtauchen, doch diesmal war er nicht flink genug. Der Schwarze erwischte seine rechte Schulter und riß ihn zu Boden. Es war, als hätte Siegfried eine Kriegskeule getroffen. Vor seinen Augen drohte sich alles auslöschende Schwärze auszubreiten.
»Nein!« schrie Siegfried und zwang seine Sinne, ihm zu gehorchen. Die seltsame Stimme erklang wieder:
Lauf fort, Siegfried von Xanten! Verlaß diesen Ort und kehr niemals zurück!
Er wollte kein Feigling sein, keine Angst haben, nicht auf diese Stimme hören. Er wollte ein Mann sein, stark und tapfer, würdig des Stolzes seines Vaters, wäre dieser noch am Leben. Und er wollte das Runenschwert.
Als das große Glutauge dicht vor ihm leuchtete und der Wolf erneut das Maul aufriß, daß sein heißer Atem Siegfried umfing, stieß der Xantener zu. Er bohrte die Dolchklinge tief in die Flanke des Untiers.
Der verletzte Riesenleib zuckte, warmes Blut lief über Siegfrieds Hand und Arm, und endlich ließ der Schwarze seine Stimme hören. Er heulte auf, und sein Geifer tropfte brennend auf Siegfrieds Gesicht.
Siegfried handelte augenblicklich, als der Druck auf ihm etwas nachließ. Er zog die Beine an und rollte sich unter dem Wolf weg.
Das Untier reagierte schneller, als er gedacht hatte, und duckte sich zu einem neuen Sprung. Dabei entglitt der Dolchgriff Siegfrieds schweißnasser Hand.
Der Stahl steckte in der linken Seite des Schwarzen, und der Xantener war waffenlos!
Mit bloßen Händen wehrte er den nächsten Angriff ab. Er umklammerte Hals und Nacken des Schwarzen, der ihn erneut zu Boden warf.
Siegfried drückte mit aller Kraft zu, um der Bestie die Luft abzupressen, bevor ihre scharfen Fänge sein Gesicht und seinen Hals zerfetzten. Doch das Untier war stark und widerstand allen Bemühungen. Fingerbreit um Fingerbreit näherten sich die tödlichen Zähne, während Siegfrieds Muskeln mehr und mehr schmerzten. Nur mit äußerster Kraftanstrengung hielt er noch stand.
Ein kalter Windstoß wehte den heißen Wolfsatem hinweg. Das angestrengte, bedrohliche Knurren des Schwarzen verwandelte sich in ein wütendes Geheul, als er plötzlich von dem Menschen abließ und mit etwas rang, das ihn unversehens angefallen hatte.
Ein Helfer - hier?
Ächzend kam Siegfried auf die Knie und zog sich an einer bröckelnden Mauer auf die Füße. Sämtliche Glieder zitterten, Schultern und Arme schmerzten stärker als nach einem ganzen Tag am Amboß.
Der Schwarze und Siegfrieds so unerwartet aufgetauchter Helfer kämpften verbissen miteinander. Wütendes Knurren und heiseres Gekreische. Pelz und Federn flogen durch den dunklen Gang.
Federn?
Siegfrieds Retter war ein Vogel, ein großes Tier, fast so groß wie ein Mensch!
Das Gefieder war rötlich, nicht grauschwarz und weiß. Und trotz der seltsamen Farbe und der ungewöhnlichen Größe war es unzweifelhaft ein Falke. Wo auch immer der Falke herkam - er machte dem Wolf gehörig zu schaffen. Immer wieder rissen der gebogene Schnabel und die scharfen Krallen große Stücke aus dem struppigen Pelz. Doch der Einäugige wehrte sich, schlug die Fänge in den Falken, und zahlreiche Federn stoben auf.
Hilf mir, Siegfried! Nur gemeinsam können wir die schwarze Bestie besiegen!
Wieder eine lautlose Stimme. Aber eine andere, nicht düster und drohend. Voller Wärme, Zutrauen - und Angst.
Die Stimme des Falken!
Jetzt wußte Siegfried, daß vorhin nicht seine Furcht zu ihm gesprochen hatte, sondern der Wolf, das Untier.
Ja, der böse Wächter. Greif ein, Siegfried, töte ihn, und der Weg zum Runenschwert ist frei!
Siegfried warf sich nach vorn und griff nach dem Dolchknauf, dessen Silberbeschlag in der Finsternis funkelte. Er bekam ihn zu fassen, zog die blutige Klinge heraus und stieß sofort wieder zu, von unten in den Wolfshals.
Die Bestie jaulte und wand sich vor Schmerz. Der Falke verkrallte sich in dem bebenden Leib und hackte mit dem Schnabel nach dem Glutauge. Er traf mitten hinein, und das Auge floß aus. Das Untier war blind.
Siegfried nutzte diese Schwäche zum entscheidenden Stoß ins Herz des Wolfes. Er war wie im Rausch, besessen davon, die Bestie endgültig zu erledigen. Er hörte erst auf, mit dem Messer zuzustechen, als der Wolf sich schon längst nicht mehr bewegte.
Ein kalter Windstoß brachte ihn zur Besinnung. Es war der Falke, der von seinem Opfer abgelassen hatte und durch den finsteren Gang flog, zur Eichenhalle.
Komm, Siegfried, hol dir dein Erbe! Das Runenschwert!
Mit wackligen Beinen folgte Siegfried dem Vogel, der hinaus in die große Halle flog, um die mächtige Eiche herum, höher und höher stieg, bis ihn das breite Astwerk verdeckte.
»Bleib!« rief Siegfried. »Wer bist du?«
Er erhielt keine Antwort. Der Flügelschlag verklang, und es war, als hätte es den seltsamen Falken nie gegeben.
Etwas anderes beanspruchte Siegfrieds Aufmerksamkeit: das Runenschwert, das im Stamm des Kinderbaums steckte, so wie Reinhold es gesagt hatte.
Siegfried trat vor den Baum und streckte ganz langsam die Hände aus, berührte den vergoldeten Schwertgriff mit zitternden Fingern und umfaßte schließlich den Knauf.
Ein Gefühl der Wärme glitt durch seine Hände und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Seine Muskeln schmerzten nicht länger, jede Schwäche war verflogen. Er betrachtete die in die Klinge eingravierten, mit Gold ausgelegten Runen. Ihre magische Kraft mußte ihm diese Stärke verleihen.
Mit einem Blick hinauf zur Baumkrone sagte er: »Danke, Vater. Ich werde mich deines Erbes würdig erweisen!«
Und Siegfried von Xanten zog das Schwert heraus. Das halbe Runenschwert. Und die andere Hälfte, schwor er sich und seinem toten Vater, würde er sich auch noch holen!