Kapitel 9


Siegfried erwachte gegen Mittag.

Er hatte in der Nacht die Fensterläden nicht geschlossen, daher fielen warme Sonnenstrahlen auf ihn und stachen förmlich in seine blinzelnden Augen. Unruhig wälzte er sich hin und her und drehte sich schließlich auf den Bauch, um nicht länger das störende Licht auf seinem Gesicht zu spüren. Der Himmel mußte wolkenlos sein, die Strahlen der Sonne gleißend. Wahrscheinlich war es draußen so glühend wie in der Nacht die Eisen, als sie von Reinhold zusammengeschmiedet wurden.

Das Schwert!

Plötzlich war Siegfried hellwach. Ein Arm hatte über die Bettkante gehangen, hatte im ruhelosen Halbschlaf den harten Boden befühlt und die Holzkiste unter dem Bett ertastet. Aber nicht das Tuch mit dem Schwert, obwohl es doch vor der Kiste gelegen hatte. Er sprang aus dem Bett und kniete sich auf den Boden. Die Schatztruhe stand unverändert da, aber das Schwert samt Tuch war fort.

Hatte er alles nur geträumt? Die Nacht in der Schmiede, den glühenden Stahl, das zusammengefügte Schwert?

Verwirrt schüttelte er den Kopf und schalt sich einen törichten Narren. Ein Blick auf seine schwarze Kleidung und die schmutzigen Hände und Arme hätte ihm sagen müssen, daß er wirklich in der Schmiede gearbeitet hatte.

Gründlich durchsuchte er die kleine Kammer bis in den letzten Winkel, schaute ins Bett und unter die einfache Matratze, einen strohgefüllten Leinensack. Das Runenschwert blieb verschwunden! Sollten all die Mühen, Abenteuer und Gefahren vergebens gewesen sein?

Mit klopfendem Herzen sprang Siegfried hoch, riß die Tür auf und prallte gegen eine kräftige Gestalt: Reinhold.

»Heiliger Wodan!« rief der Waffenschmied. »Ich wähnte dich schlafend, und jetzt hüpfst du herum wie ein Tollwütiger.«

»Das Schwert!« stieß Siegfried hervor und zeigte in seine Kammer. »Es ist verschwunden!«

»Weil ich es habe.« Reinhold streckte ihm das mit dem Tuch umwickelte Schwert entgegen.

»Aber... ich habe es doch mit in die Kammer genommen...«

»Und ich habe es wieder herausgeholt. Ich fand keinen Schlaf und habe deshalb noch ein paar Verbesserungen an der Klinge vorgenommen.«

»Verbesserungen?« rief Siegfried erstaunt. »Aber das Schwert war doch perfekt.«

»Jetzt ist es perfekt!« erklärte Reinhold und reichte Siegfried das schwere Bündel. »Nutze den Rest des Tages, um dich an deine neue Waffe zu gewöhnen. Am besten an einem abgelegenen Ort. Die Haselwiese wäre wohl geeignet.«

Siegfried kannte den Ort, eine große Lichtung, die etwa eine Reitstunde in Richtung Xanten lag. Ihren Namen verdankte sie den Haselsträuchern, die sich in ihrer Mitte wie eine Burg erhoben.

»Ja.« Er nickte und wollte nach dem Runenschwert greifen, aber Reinhold entzog es seinen zupackenden Händen.

»Nicht sofort!« sagte der Schmied mißbilligend. »Zuerst solltest du dir ein Bad gönnen und dann ein ordentliches Mahl einnehmen. Danach ist noch Zeit genug für einen Ausflug zur Haselwiese.«

»Und das Schwert?«

»Ich werde schon darauf achtgeben«, antwortete Reinhold mit einem verständnisvollem Lächeln.

Wenig später stand Siegfried in der Badestube vor einem großen Bottich, aus dem ihm ein würziges Gemisch entgegendampfte. Es roch wie in einer königlichen Apotheke.

Udalrich, der kahlköpfige Bader, begann seine üblichen, langatmigen Erklärungen: »Ich habe so ziemlich alles ins Wasser geschüttet, was einem Kranken guttut: braunen Fenchel, Johanniskraut, Tausendgüldenkraut, Spitzwegerich, Kamille, Malve, Mauerkraut, Stockrose, Sellerie, Nelkenwurz und Grindkraut.«

»Das ist kein Bad, sondern eine Suppe«, meinte Siegfried, während er aus seinen Kleidern stieg.

Anfangs meinte Siegfried, er könne es nicht einen Augenblick in dem heißen, auf angenehme Weise streng duftenden Bad aushalten. Er wollte aufspringen, als ihn tausend glühende Nadeln zwickten. Aber Udalrich drückte ihn unbarmherzig zurück.

Als er endlich aus dem Bad stieg, fühlte er sich nicht erfrischt, sondern wohlig müde.

Beim Essen leistete Reinhold seinem Ziehsohn Gesellschaft. Das ins Tuch gehüllte Runenschwert lag zwischen all den Speisen auf der Tafel, und keiner der Aufwärter schenkte ihm Beachtung.

Anschließend gingen Reinhold und Siegfried in den Pferdestall, wo der gesattelte Graufell von einem Knecht vorgeführt wurde. Der Bedienstete reichte dem Grafen einen edelsteinbesetzten Ledergurt, den Reinhold an Siegfried weitergab. Ein prächtiges Wehrgehänge! Die lange Schwertscheide war mit Leder umkleidet und ebenfalls mit funkelnden Steinen besetzt.

»Das ist für dich, Siegfried. Ich habe es schon ausprobiert, die Klinge paßt genau hinein.« Augenzwinkernd und im flüsternden Verschwörerton fügte Reinhold hinzu: »Eigentlich darfst du erst auf deiner Schwertleite das Wehrgehänge mit dem Schwert tragen, aber auf der Haselwiese wird dich niemand sehen.«

Siegfried war überwältigt von dem kostbaren Geschenk und bedankte sich. Wie er befürchtete, nur höchst unzulänglich. Aber er gierte danach, endlich ungestört mit dem Runenschwert zu üben.

Als Graufell ihn aus der Schwertburg gebracht hatte, hieb er dem Tier die Fersen in die Flanken und trieb es zu größerer Schnelligkeit an, so stark, daß der Hengst vor Schmerz wieherte.



Siegfried und das Schwert waren eins!

Die Kraft, die er aus der Waffe bezog, mußte wirklich Magie sein. Andernfalls hätten seine Muskeln schon schmerzen, hätte er schon erschöpft und völlig außer Atem sein müssen. Doch Stunde um Stunde verging, und der Xantener wurde nicht müde. Manchmal war Siegfried, als schwinge er nicht das Schwert, sondern die Waffe führe ihn.

Graufell, trotz seiner Ausdauer und Kraft nach dem außergewöhnlich scharfen Ritt erschöpft, hatte seinem Herrn eine Weile mehr gelangweilt als interessiert zugesehen. Dann hatte er sich einen Wildbach mit einem saftigen Grasstreifen gesucht und kümmerte sich nicht weiter um Siegfrieds Attacken gegen eingebildete Fabelwesen und harmlose Bäume und Steine.

Deshalb war Siegfried überrascht, als schneller Hufschlag an seine Ohren drang. Es war nicht Graufell, sondern ein kräftiger Mausfalbe, der von seinem Reiter auf die Lichtung getrieben wurde.

Dicht vor Siegfried zügelte Prinz Harko von Friesland sein Tier und blickte den Xantener finster an. »Sieht aus, als hätte hier ein ganzer Trupp Berserker gewütet. Habt Ihr wieder mal einen Bären in die Flucht geschlagen, edler Siegfried?«

So höhnisch wie die Worte war auch Harkos Gesichtsausdruck. Die Lippen zuckten belustigt, doch hingen die Mundwinkel griesgrämig herab. Die immer ein wenig trüb blickenden Augen sahen den Xantener hart, ja haßerfüllt an.

Siegfried ärgerte sich, daß der Friese ihn bei seinen Übungen störte. Und noch mehr über Harkos offene Herablassung, die er sich vielleicht gegenüber einem Bauern oder einem Knecht erlauben konnte, aber nicht gegenüber dem zukünftigen König der Niederlande.

Daher antwortete Siegfried in scharfem Ton: »Ob ich Bären jage oder nicht, geht Euch nichts an, Harko. Ich weiß auch nicht, was Ihr hier zu suchen habt!«

Deutlicher konnte er dem Friesen kaum sagen, daß er unerwünscht war. Aber Harko traf keine Anstalten, die Lichtung zu verlassen. Vielmehr lehnte er sich zu Siegfried vor, stützte den Ellbogen auf den versilberten Sattelknauf und erklärte: »Gehören solch dreiste Reden zu Eurer Art der Gastfreundschaft?«

»Ihr mögt Gast meiner Mutter sein, der meine seid Ihr bestimmt nicht!«

»Weshalb habt Ihr mich herbestellt, wenn Euch meine Gesellschaft nicht behagt?«

»Ich habe Euch herbestellt?« Siegfried lachte trocken. »Da müßt Ihr schlecht geträumt haben!«

»Treibt keine Späße mit mir!« zischte Harko zornig. »Ich bin nicht über zwei Stunden geritten, um mich zum Narren halten zu lassen. Euer Bote sagte, ich solle sofort aufbrechen, um Euch hier zu treffen. Hätte er mich nicht hergebracht, hätte ich die Lichtung gar nicht gefunden.«

»Ich habe Euch niemals einen Boten gesandt, Harko. Aus welchem Grund auch?«

»Um ein Gespräch unter vier Augen mit mir zu führen, wie Euer Bote mir mitteilte. Ich hätte ihn nicht kurz vor dieser Lichtung davonreiten lassen, hätte ich gewußt, daß Ihr den Narren spielt. Er hätte Euch der Lüge überführt.« Harkos dünne Brauen zuckten vor Ungeduld. »Also, redet, Niederländer!«

»Ich habe Euch nicht herbestellt«, erwiderte Siegfried brüsk.

Mit deutlich vernehmbarem Geräusch zog Harko die Luft ein. »Das also ist Eure kindische Art, sich auf Kosten anderer einen Spaß zu erlauben. Mag sein, daß in wenigen Tagen Eure Schwertleite stattfindet, Siegfried, gleichwohl solltet Ihr keinen tödlichen Stahl in Händen halten, sondern besser ein Schwert aus Holz. Regiert kein Land, sondern baut lieber Burgen aus Sand und schlagt Schlachten mit Rittern aus Ton!«

Die Beleidigungen verwandelten Siegfrieds unterschwellig brodelnde Wut in kochenden, überschäumenden Zorn. Der Prinz von Xanten mußte sich so etwas nicht anhören, von niemandem! Schon gar nicht von einem Friesen, einem Prinzen des Volkes, das Siegfrieds Vater auf dem Gewissen hatte.

Harko richtete sich im Sattel auf und wendete schon den Mausfalben, da rammte Siegfried die Klinge des Runenschwertes in den Boden und stürmte los. Er bekam den Friesen an der Schulter zu fassen. Harko stieß einen erstickten Schrei aus. Ebenso überrascht wie sein Reiter war der Mausfalbe. Er bockte und warf Harko samt Siegfried auf die blumengesprenkelte Wiese.

Während das Pferd bis zum Waldrand lief, um aus sicherem Abstand zu den beiden unberechenbaren Menschen herüberzuschauen, wälzten sich die beiden Kontrahenten durch Gräser, Kräuter und Blumen. Wieder gewann der Xantener die Oberhand, und seine Fäuste rissen die kaum verheilten Wunden in Harkos Gesicht wieder auf. Das Blut des Friesen färbte Siegfrieds Hände rot. Doch der Friese gab sich nicht so schnell geschlagen. Er bekam einen Stein zu fassen, der irgendwo auf dem Boden lag, und schlug zu. Siegfried spürte einen furchtbaren, stechenden Schmerz. Er versuchte gegen die Schwärze anzukämpfen, die ihn zu übermannen drohte.

Als er aus seiner leichten Ohnmacht erwachte, spürte Siegfried einen Druck an seinem Hals. Dicht unter seinen Augen glitzerte gefährlicher Stahl. Schwer atmend und mit blutverschmiertem Antlitz stand Harko über ihm und drückte die Spitze seines Schwertes gegen Siegfrieds Hals. So fest, daß ein dünner Blutfaden unter das Hemd des Xanteners rann.

»Ihr könnt Euch prügeln wie ein Bauer, das habt Ihr zweimal bewiesen«, schnaubte Harko, während Blut aus seiner Nase tropfte. »Aber mit dem Schwert könnt Ihr wohl nur gegen Geister kämpfen, Ritter Siegfried!«

Siegfried, der noch im Gras lag, sah zum Runenschwert, das zehn Schritte entfernt im Boden steckte.

»Ich habe mein Schwert nicht zur Hand, sonst würde ich Euch das Gegenteil beweisen.«

»Es ist unehrenhaft für einen Ritter, sich mit einem Jungen zu schlagen. Damit Ihr nicht noch mehr Unheil anrichtet, werde ich Euer Schwert mitnehmen. Ich werde es Eurer Mutter überreichen und ihr sagen, sie soll besser darauf achten, womit ihr Kind spielt.«

Der Gedanke, das Runenschwert zu verlieren, machte Siegfried rasend. Sein rechter Fuß trat gegen Harkos Schwert und hätte dem Friesen fast die Klinge aus der Hand gerissen. Siegfried sprang auf, versetzte dem überraschten Gegner einen Stoß und rannte über die Wiese zu seiner Waffe. Als er seine Hände um den Griff legte, fühlte er, wie das Runenschwert Macht über ihn gewann. Der Wunsch, den Friesen zu besiegen, wurde so übermächtig wie Siegfrieds Verlangen nach Rache für den toten Vater. Er riß die Klinge aus dem Erdreich und wandte sich um. Harko hielt seine Waffe in beiden Händen und schien zu zögern, ob er angreifen oder Siegfrieds Attacke abwarten sollte. Als er den Stahl in den Händen des Xanteners sah, hob er sein Schwert und stürmte vor. Geschickt wich Siegfried dem Schlag des Friesen mit einem Sprung zur Seite aus, wirbelte herum und schlug selbst zu.

Harko konnte sein Schwert noch zur Abwehr hochreißen, aber es zerbarst unter dem niederfahrenden Runenstahl. Siegfrieds Klinge durchschnitt Harkos Schwert, Harkos Arm und dann Harkos Kehle. Der Friese fiel erst, als sein Haupt schon längst am Boden lag.

Ungläubig starrte Siegfried auf den abgeschlagenen Kopf. Er wehrte sich gegen die Erkenntnis, diese Tat verübt zu haben. Er hatte dem Friesen doch nur eine Lektion erteilen, aber ihn nicht töten wollen! Am Runenschwert klebte Harkos Blut. Als er das sah, rammte Siegfried die Klinge schnell in den Boden.

Nachher konnte Siegfried nicht mehr sagen, wie lange er so über dem zerstückelten Leichnam stand. Kampfeswut und Rachedurst waren erloschen und unendlicher Trauer gewichen. Noch immer wollte er das Unbegreifliche nicht wahrhaben.

Vielleicht hätte er bis in die Nacht dort gestanden, wären nicht sieben Reiter auf der Lichtung erschienen, friesische Ritter, angeführt von Markgraf Onno. Ihre Gesichter waren finster und feindseliger als ein Gewittersturm.

Als Siegfried sie bemerkte, war sein erster Impuls, nach dem Schwert zu greifen und es der Friesenbrut zu zeigen. Dann sah er wieder auf Harkos Leichnam und ließ es bleiben. Er hatte das Gefühl, Strafe verdient zu haben.

Aber Onno griff ihn nicht an, bestrafte ihn nicht. Er redete, doch seine Worte blieben nur verschwommen in Siegfrieds Erinnerung. Onno hatte von der geheimnisvollen Verabredung im Wald gehört, er hatte einen Hinterhalt vermutet und war dem Prinzen mit einer Handvoll Ritter gefolgt. Und zu spät gekommen, wie der narbengesichtige Markgraf bitter feststellte.

»Jetzt ist alles dahin, wofür sich die weisesten Köpfe unserer beiden Reiche lange eingesetzt haben«, sagte er leise. »König Hariolf wird keinen Frieden schließen, ganz im Gegenteil!«

Mit diesen düsteren Worten ritten die Friesen zurück nach Xanten, brachten den toten Harko zu seinem Vater und zu seiner Schwester.

Siegfried blieb zurück, allein mit seiner Schuld und dem blutbefleckten Runenschwert.


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