Kapitel 12


Was Reinhold von Glander unter Gastfreundschaft verstand, konnten Siegfried und Grimbert bald feststellen. Nicht die Schwertburg war das Ziel des Schiffes, sondern der karge Felsen im Rhein, ein kurzes Stück weiter flußabwärts. Die Rheinfeste. Und der Kerker, in den der Verräter seine beiden Gefangenen warf. Er selbst kehrte noch in der Nacht nach Xanten zurück, um der Königin Siegfrieds Entführung durch die Friesen zu melden.

Der Prinz und sein Oheim blieben zurück, gefangen hinter dicken Mauern, umspült von den mächtigen Fluten des Rheins und bewacht von Reinholds treuen Schergen. Siegfried hatte viele Fragen und Grimbert viel Zeit, sie zu beantworten.

Grimbert berichtete von seinem Leben als Wanderer. Von seinem Bestreben, seine Kenntnis der Runen zu vervollkommnen, um es mit den finsteren Mächten aufnehmen zu können, deren Bedrohung er spürte, seit König Siegmund unter den bösen Einfluß des Runenschwertes geraten war. Und er erzählte von dem Feldzug gegen die Friesen, der eine so schlimme Wendung genommen hatte.

»Natürlich war es Reinhold, der die Runen auf der Klinge verändert hatte«, erklärte Grimbert. »Er als runenkundiger Schmied hatte die Fähigkeiten dazu. Damals kam ich leider nicht darauf, weil ich den wackeren Recken für einen treuen Freund hielt. Doch schon in jenen Tagen verfolgte er seine düsteren Rachepläne und war er ein Werkzeug des Feuergottes. Er benutzte König Siegmund, um den Krieg gegen die Friesen so erbarmungslos werden zu lassen, daß unsere Völker sich zerfleischten und Reinhold die Macht übernehmen konnte. Damals scheiterte der Plan an Siegmunds Einsicht und Stärke, jetzt liegt alles an uns.«

»Wer ist der Feuergott?« fragte Siegfried.

»Der Gott Loki in seiner schlimmsten Gestalt. Die Verkörperung des alles verzehrenden Bösen!«

»Loki? Ist er nicht ein Freund Wodans, sein Reisegefährte?«

»Das war er, aber seine Boshaftigkeit brachte die Götter immer mehr gegen ihn auf. Als sich die alten Götter von dieser Welt zurückzogen, weil der Christengott ihren Platz einnahm, witterte er die Gelegenheit, sich zum mächtigsten Gott aufzuschwingen. Mit Hilfe treu ergebener Vasallen wie Reinhold will er die Welt beherrschen!«

»Aber kämpft er nicht für alle Götter?«

»Das mag Reinhold glauben. Doch Götter wie der dämonische Loki kämpfen nicht für andere.«

Siegfrieds Sorgen wuchsen ins Unermeßliche. Das Reich war in großer Gefahr. Reinholds Krieg gegen die Friesen würde viele Unschuldige das Leben kosten. Siegfried mußte an seine Mutter denken. Auch sie hatte sich von Reinhold täuschen lassen. Würde sie tatsächlich nichts von Reinholds Intrigen erahnen?

Und die Sorge um Amke trieb Siegfried um. Daß sie Reinholds Gefangene war, wog schon schwer genug. Aber was würde geschehen, wenn der Verräter die Friesen unterworfen hatte und die Prinzessin nicht mehr benötigte? Siegfried mochte sich gar nicht ausmalen, was Reinhold mit ihr anstellen würde. Daß sein Vater, König Siegmund, noch am Leben war, erfreute zwar Siegfrieds Herz, aber es änderte seine Lage keinen Deut. Grimbert und er saßen in der Falle, ohne das Unheil, das dem Reich drohte, abwenden zu können. Nichts schien Anlaß für Hoffnung zu geben. Die Nächte wurden zu Tagen und die Tage zu Nächten...



Die Nacht war schwärzer als das Reich der Toten. Dicke graue Wolken ballten sich am Himmel. Nicht ein einziger zaghafter Strahl des Mondlichts spielte mit den Wassern des Rheins, die, finster wie der Himmel, an der Felsinsel im Strom vorbeiglitten. Es war kühler als in den vorangegangenen Nächten, aber nicht deshalb zog Ludolf die Wolldecke fester um seine Schultern. Er fröstelte. Diese verfluchte Nacht war schuld. Und der Fluß, der im Dunkeln wie ein lebendiges Wesen wirkte.

Eine große Welle klatschte an den Felsen, auf dem Ludolf stand. So stark, daß Wasser gegen seine Beine schlug. Wie die kalte Hand eines Wassergeistes, die ihn in den Fluß zerren wollte. Erschrocken sprang Ludolf einen Schritt zurück und stolperte über eine Unebenheit des Gesteins. Er wäre gestürzt und ins Wasser gefallen, hätte ihn nicht eine starke Hand an der Schulter gepackt.

»Was hast du?« fragte Bruno, der zusammen mit Ludolf an der Ostseite der Felsinsel Wache schob.

»Der Rhein!« Ludolf schluckte mehrmals. »Er wollte mich mit sich reißen!«

Bruno schüttelte den Kopf und lachte schallend. »Du bist ein solcher Feigling; du siehst selbst im Fluß Gespenster.«

»Spotte nicht über die Flußgeister!« mahnte Ludolf im Flüsterton und warf einen sorgsamen Blick aufs Wasser. »Sie werden es sonst böse vergelten!«

»Dir haben sie es schon vergolten«, erwiderte Bruno. »Indem sie deinen Verstand vernebelt haben.« Er nahm seinen Speer und den Schild auf, die an einer Felsmauer lehnten. »Ich mache mal einen kleinen Rundgang, um die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben. Kommst du mit?«

Ludolf schüttelte den Kopf. »Nein, nicht bei dieser Dunkelheit. Der Fels ist naß und rutschig. Man kann zu leicht in den Fluß fallen.«

»Ja, wenn man vor Angst nicht mehr richtig seine Füße zu setzen versteht.«

Ludolf schickte dem sich entfernenden Kameraden ein paar wüste Verwünschungen nach, doch Bruno hörte ihn nicht oder gab nichts auf seine Worte. Er ging die langgezogene Ostseite der Felsinsel nach Süden ab, flußaufwärts, zwischen dem reißenden Wasser und den Mauern der Rheinfeste.

Ludolf dachte an die beiden Gefangenen, die seit neun Nächten hinter den Felsmauern saßen. Ihr Gefängnis lag ganz in der Nähe, an der Ostmauer der Feste. Es waren die beiden friesischen Spione, die sich für Prinz Siegfried und Graf Grimbert ausgegeben hatten. Die Soldaten munkelten hinter vorgehaltener Hand, daß es sich wirklich um Siegfried und Grimbert handeln mochte. Aber selbst wenn es der Wahrheit entsprach, würde Reinhold einen guten Grund haben, die beiden einzusperren. Seine Männer waren dem Grafen treu ergeben. Er sorgte für sie und zahlte einen guten Sold. Andererseits konnte er sehr streng sein, und so wagte niemand, dem Herrn unbequeme Fragen zu stellen.

Als Ludolf wieder nach Bruno ausschaute, war sein Gefährte verschwunden. Gewiß, die Nacht war finster wie die Seele eines Vatermörders, aber Bruno konnte sich noch nicht so weit entfernt haben, daß Ludolf nicht einmal mehr seine Umrisse sah. Ein wissendes Lächeln umspielte Ludolfs Lippen, als er das Spiel seines Kameraden zu durchschauen glaubte. Halblaut rief er in die Nacht: »Du brauchst dich nicht länger zu verstecken, Bruno. Mir kannst du keine Angst einjagen. Da muß schon ein richtiger Wassergeist kommen!«

Keine Antwort. Nur das Rauschen und Gurgeln des Flusses. So sehr Ludolf sich auch bemühte, er vermochte keine Regung um sich wahrzunehmen. Noch einmal rief er nach dem Kameraden und forderte ihn auf, das kindische Spiel zu lassen.

Plötzlich erhob sich eine Gestalt in der Finsternis und winkte ihm zu. Also hatte der vermaledeite Bruno sich doch einen Spaß mit ihm erlaubt!

»Ist es dir auf dem Felsboden zu kalt geworden?« fragte Ludolf und spürte, wie erleichtert er war.

Doch statt zu antworten, war Bruno aufs neue verschwunden. Er schien sich hinter einem Felsen zu verstecken.

»Jetzt ist meine Geduld zu Ende«, knurrte Ludolf und setzte sich in Bewegung. Etwas riet ihm, nicht weiterzugehen. Vielleicht gab es doch irgendwo Wassergeister, die dem Fluß entstiegen waren. Aber seine Neugier war größer. Hinter einem kaum kniehohen Felsen entdeckte er Bruno reglos am Boden.

»He, such dir eine bequemere Schlafstatt!« rief Ludolf und stieß den Kameraden mit der Stiefelspitze an. Bruno rührte sich nicht. Voller Zorn über die Narretei seines Gefährten stieß Ludolf noch einmal zu. Als Bruno sich immer noch nicht regte, begannen erste Zweifel an ihm zu nagen, ob alles mit rechten Dingen zuging. Vorsichtig beugte er sich vor. Um sich abzustützen, griff seine Hand nach einem Felsen, und da spürte er etwas Klebriges. Seine Hand zuckte zurück. Blut klebte an ihr.

Wie um Ludolf zu verhöhnen, zeigte sich in diesem Augenblick ein Riß in der Wolkendecke. Nur ein winziger Strahl Mondlicht drang hindurch, doch er genügte, Ludolf das Schreckliche zu offenbaren: Bruno lag in einer großen Blutlache, die Augen vor Schreck geweitet, der Blick gebrochen. Jemand hatte seine Halsberge zerrissen und Brunos Kehle grausam zerfleischt. Noch nie hatte Ludolf eine so gräßliche Wunde gesehen, wie von einem tollwütigen Wolf gerissen. Er war fast froh, als sich der Wolkenvorhang wieder schloß und sich gnädige Finsternis über der Rheinfeste ausbreitete.

Hinter sich vernahm er plötzlich ein Geräusch: ein Plätschern, als steige etwas aus den Fluten hervor. Ludolf bereute, daß er Speer und Schild nicht mitgenommen hatte. Er wollte das Schwert aus der Scheide ziehen, doch die eng umgelegte Wolldecke behinderte ihn dabei. Ärgerlich streifte er sie ab. Als er sich dann umwandte, begriff er in einem langen schrecklichen Augenblick, daß er Bruno in den Tod folgen würde. Ein Schatten glitt schneller als jeder Blitz über die Felsen. Ludolf wurde umgerissen. Er spürte noch, wie sich etwas in seiner Halsberge verkrallte und sie mit erschreckender Leichtigkeit zerriß. Ein stechender Schmerz umfing ihn, als scharfe Zähne seine Kehle zerfetzten. Dann hüllte ihn ein warmes, tödliches Dunkel ein.



»Die neunte Nacht«, sagte Siegfried leise, fast tonlos, so daß seine Stimme nichts über seine Gemütslage verriet.

Grimbert hörte trotzdem die Klage und die schwindende Hoffnung, die in den wenigen Worten mitschwang. Er fühlte sich kaum anders.

Sie hockten in ihrer engen, fensterlosen Kerkerzelle. Durch das kleine Loch in der schweren Eichenholztür fiel etwas Fackelschein vom Gang ein und sorgte für einen trügerischen Hauch von Wärme. Auch Grimberts Hoffnung schwand, was er gegenüber Siegfried allerdings zu verbergen suchte. Der alte Recke hatte zu oft erlebt, wie Mutlosigkeit und Hoffnung zur Panik gerieten.

Aus der Finsternis klang wieder Siegfried Stimme: »Warum glaubt Ihr, daß Loki Böses will, Oheim? Kann es nicht sein, daß Wodan und die anderen Götter hinter ihm stehen?«

»Das war einmal. Aber mit Balders Tod kam die Finsternis über die Götter. Und das Band zwischen Wodan und Loki zerbrach.«

»Balder ist der Gott des Lichts«, erinnerte sich Siegfried. Er mußte das Gerede über die alten Götter irgendwo beim Gesinde aufgeschnappt haben.

»Balder war es, doch jetzt ist er tot.«

»Hat Loki ihn getötet?«

»Nicht mit eigener Hand, und doch trägt Loki alle Schuld.«

Siegfried atmete tief durch. »Ich habe mal gehört, Balder sei unverwundbar. Wie kann man ihn da töten?«

»Niemand ist unverwundbar, und niemand ist unsterblich. Die alten Sagen berichten von Recken, die in Drachenblut badeten und so ihre Unverwundbarkeit erlangten. Aber auch sie fanden irgendwann den Tod - so wie Balder. Der Lichtgott ahnte sein düsteres Schicksal in bösen Träumen voraus. Seine Eltern, Wodan und Frija, nahmen allen Lebewesen und sogar den Steinen das Versprechen ab, Balder nicht zu verletzen. Fortan galt er als unverwundbar, und die anderen Götter machten sich einen Spaß daraus, ihn mit Steinen und Speeren zu bewerfen. Nur Höder, Balders Bruder, nahm an diesem Spiel nicht teil, weil er blind war. Eines Tages trat Loki der Mißgünstige, neidisch auf Balders Unverwundbarkeit, an Höder heran, drückte ihm einen Speer in die Hand und versprach, ihm die Wurfrichtung zu zeigen. Was Höder nicht wußte, Loki der Hinterlistige aber wohl: Der Speer war aus dem Holz der Mistel geschnitten, die Wodan und Frija nicht um einen schützenden Eid für Balder gebeten hatten, weil die Mistel damals noch jung war und zu unbedeutend erschien.«

»Und der Speer tötete Balder?« fragte Siegfried, der Grimberts Erzählung mit wachsender Spannung gelauscht hatte.

»Ja, Balder war auf der Stelle tot und ging ein ins Reich der Totengöttin Hel. Balders Bruder Hermod wagte den Ritt in ihr finsteres Land und bat um Balders Rückkehr zu den Lebenden. Hel sagte zu, unter der Bedingung, daß alle Lebewesen den Lichtgott beweinten. So sollte es geschehen, doch eine mißgünstige Riesin versagte sich die Tränen. Balder blieb im Reich der Toten. Die hartherzige Riesin aber war niemand anderes als der verkleidete Feuergott - Loki!«

»Jetzt verstehe ich, weshalb die Götter nicht mehr zu Loki stehen«, sagte Siegfried und blickte seinen Oheim an, dessen Gesicht im Fackelschein etwas Übernatürliches, fast schon Dämonisches hatte. »Ihr kennt Euch gut mit den alten Göttern aus, Grimbert.«

»Das muß ich, will ich gegen Reinhold bestehen.«

»Nur deshalb?«

Grimbert schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wir leben im Zeitalter des Christengottes, unter seinem Kreuz. Wem ich Treue schwöre, dem diene ich treu. Aber ich muß ihn nicht lieben, mag er sich auch Gott der Liebe nennen.«

In seine letzten Worte fiel ein laut gellender Schrei, ganz in der Nähe ausgestoßen. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging. Er brach so plötzlich ab, wie er erklungen war.

Ein dumpfes Geräusch folgte, dann ein leises Klirren. Und Schritte, die sich näherten.

Grimbert schnellte hoch und drückte das Gesicht gegen die Tür, spähte durch das kleine Loch, das Luft und Licht einließ.

»Bei Wodan!« keuchte er.

»Was ist?« fragte Siegfried, der ebenfalls aufgesprungen war.

Ein lautes Kratzen ertönte. Er kannte das Geräusch. Die Kerkertür wurde geöffnet.

»Wir werden befreit!« Grimbert trat von der Tür zurück und fügte nach einem kurzen Zögern hinzu: »Von einem seltsamen Retter!«

Auch Siegfried traute seinen Augen nicht. Seltsam war dieser Retter in der Tat - und doch kannte er kaum einen Menschen besser als ihn: Otter trug nur einen ledernen Schurz um die Hüften. Seine glatte Haut glitzerte seltsam. Siegfried brauchte einen Moment, um zu erkennen, daß es zahllose winzige Wassertropfen waren. An Otters Händen klebte Blut. Er machte ein ernstes, finster entschlossenes Gesicht.

»Kommt schnell!« zischte der Schmiedebursche. »Leider konnte der Wächter um Hilfe rufen, als ich ihm die Schlüssel abnahm. Falls andere Wachen den Schrei gehört haben, ist größte Eile geboten!«

»Wie kommst du hierher, Otter?« fragte Siegfried.

»Erst mit einem Boot, und dann bin ich geschwommen.«

»Das also ist Otter, von dem du erzählt hast«, stellte Grimbert fest und betrachtete den geschmeidigen Jungen prüfend. Dann sah er zu dem kräftigen Wächter, der auf dem Gang in seinem Blut lag. »Kaum glaublich, daß so ein schmaler Bursche den Söldner getötet hat!«

»Glaubt es oder glaubt es nicht«, flüsterte Otter. »Doch kommt endlich!«

Sie liefen aus der engen Zelle. Grimbert beugte sich über den Toten, um ihm die Waffen abzunehmen. Die aufgerissene Kehle war kein schöner Anblick. Siegfried warf Otter einen verstörten Blick zu. Der geheimnisvolle Findeljunge jedoch achtete nicht darauf.

»Ich nehme das Schwert«, sagte Grimbert und reichte Siegfried den Speer des Toten. »Für dich ist der Dolch, Otter.«

»Ich brauche keine Waffe«, erwiderte Otter.

Grimbert zuckte mit den Schultern und gab den Dolch Siegfried, der ihn in den Gürtel schob. Sie schlichen durch den von wenigen Fackeln kaum erhellten Gang.

»Das ist nicht der Weg hinauf zur Festung!« sagte Grimbert, als Otter sich in einen engen Nebengang drückte.

»Nein, das ist nicht unser Weg«, erwiderte der fast nackte Junge. »Zu viele Wachen«, fügte er wie zur Erklärung hinzu.

»Sie kommen schon!« warnte Siegfried, der Stimmen und Schritte vernommen hatte. »Wahrscheinlich haben sie den Schrei doch gehört.«

»Kommt weiter!« verlangte Otter und huschte voran.

Der steinerne Boden fiel stetig ab. Hier gab es keine Fackeln, nur Finsternis. Und Wasser. Erst plätscherte es nur um die Füße der drei Flüchtenden, dann umspielte es die Knöchel, die Beine.

»Bald müssen wir schwimmen«, knurrte Grimbert.

»Ihr habt es erfaßt, Graf«, erwiderte Otters helle Stimme aus dem Dunkeln. »Es ist ein Kanal, der ins Freie führt.«

»Woher wußtest du davon?« fragte Grimbert mißtrauisch.

»Ich habe ihn früher einmal entdeckt. Ich schwimme manchmal nachts ihm Rhein.«

»Niemand schwimmt nachts im Rhein!« erwiderte Grimbert. »Schon gar nicht zu dieser Insel, die von reißender Strömung umpeitscht wird!«

»Ich schon«, entgegnete Otter. Es klang weder eitel noch triumphierend, sondern wie eine Selbstverständlichkeit.

Er warf sich ins Wasser. Sie vernahmen nur ein dumpfes Geräusch. Siegfried folgte ihm, dann Grimbert. Der Kanal war eng. So eng, daß Siegfried den Speer und Grimbert das Schwert fallenlassen mußte. Manchmal spülten die Wasser des Rheins bis an die Felsdecke, und sie mußten tauchen. Nach einer Weile waren sie im Freien angelangt.

»Bis zum Fluß sind es nur wenige Schritte«, erklärte Otter, während er aus dem Wasser stieg und voranging.

Sie stießen auf zwei weitere Wächter. Beide waren ebenfalls tot und entsetzlich verstümmelt.

»Warst du das, Otter?« fragte Siegfried.

»Es mußte sein«, antwortete sein Freund knapp. Er steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Als nichts geschah, ließ er weitere Pfiffe folgen. »Der Wind ist stark, aber er weht in die falsche Richtung, uns entgegen. Wieland hört mein Zeichen nicht. Wartet hier, ich werde ihn holen.«

Ohne zu zögern, glitt Otter ins Wasser; er schien fast mit dem feuchten Element zu verschmelzen und verschwand in der Dunkelheit.

»Du hast einen seltsamen Freund«, bemerkte Grimbert nachdenklich, während er Otter nachsah.

Siegfried mußte seinem Oheim recht geben. Otter schien ihm rätselhafter, unheimlicher als je zuvor. Und doch vertraute Siegfried ihm.

Gedämpfter Lärm und Schreie klangen gegen den Wind. Offenbar geriet die Festung in Aufruhr: Man hatte ihre Flucht entdeckt.

Das schnelle Plätschern der Riemenblätter kündigte ein Ruderboot an. Der muskulöse Wieland bediente die Riemen. Ein Bündel lag neben ihm, Otters Kleider. Otter kauerte am Heck und hielt das Außenruder. Kurz vor der Insel sprang er ins Wasser und hielt das Boot im Uferbereich fest.

Siegfried und Grimbert stiegen hinein. Otter versetzte dem Kahn einen Stoß, bevor auch er sich an Bord schwang. Siegfried setzte sich neben Wieland auf die Ruderbank und übernahm einen Riemen.

»Tut mir leid, daß ich euch nicht gehört habe«, sagte Wieland. »Die Strömung hatte mich zu weit abgetrieben.«

Das Boot rauschte mit dem Stromlauf an der Insel entlang. Otter riß das Steuer herum und lenkte das kleine Gefährt quer zur Strömung, dem linken Ufer entgegen. Sie glitten an der Nordspitze der Rheinfeste vorüber. Plötzlich ging über der Insel ein hell leuchtender Stern auf, er schien sich unbemerkt durch die Wolkendecke geschmuggelt zu haben. Doch das Licht entstammte nicht göttlicher Kraft, sondern Menschenhand.

»Das Leuchtfeuer!« stieß Wieland hervor. »Sie geben Alarm. Auf der Schwertburg wird man das Feuer sehen und wissen, daß die Gefangenen entflohen sind. Bald wird man das ganze Ufer absuchen. Vielleicht sollten wir zum anderen Ufer fliehen.«

»Du vergißt, daß unsere Pferde am linken Ufer stehen«, ermahnte Otter den Gefährten. »Rudert lieber schneller!« Siegfried und Wieland taten, was in ihren Kräften stand.

»Ihr habt sogar an Pferde gedacht?« staunte Grimbert.

»Vier gute Tiere«, verkündete Otter stolz und grinste. »Sie stammen aus Reinholds Zucht.«

»Wie kamt ihr dazu, uns zu befreien?« fragte Grimbert. »Ausgerechnet in dieser Nacht? Immerhin stecken wir schon eine ganze Weile in Reinholds Kerker.«

»Erst war es nur ein Gerücht, daß ihr auf der Rheinfeste seid«, antwortete Otter. »Aber bei seinem letzten Besuch auf der Schwertburg habe ich Reinhold belauscht, der sich mit Udalrich unterhielt. Sie sprachen darüber, wie Siegfried und Grimbert gefaßt wurden und wie sie Königin Sieglind entmachten wollen. Für Wieland und für mich stand fest, daß wir euch helfen mußten. Ich hätte auch so unbemerkt zur Insel schwimmen können, aber für das Boot benötigten wir eine vollkommen finstere Nacht.«

»Der Bader Udalrich ist also auch in das Komplott verwickelt«, sagte Siegfried finster und erinnerte sich an das Bad, bevor er zur Haselwiese ritt.

Als er davon erzählte, meinte Grimbert: »Es sollte mich nicht wundern, wenn Udalrich dem Bad geheime Kräuter zugesetzt hat, um dir die Sinne zu verwirren.«

»Ich werde diesem gemeinen Verräter den kahlen Schädel einschlagen!« zischte Siegfried. »Und Reinhold soll es nicht besser ergehen!«

»Falls wir noch rechtzeitig kommen«, meinte Otter. Er berichtete mit wenigen Worten, daß die Schlacht gegen das Friesenheer kurz bevorstand. König Hariolfs Truppen hatten bereits ein paar Grenzburgen überrannt und waren auf niederländisches Gebiet vorgedrungen. Diese Vorstöße schürten die Wut der Niederländer und ihre Kriegslust. Reinhold hatte leichtes Spiel, die Waffenpflichtigen zusammenzurufen.

Siegfried erkundigte sich nach seiner Mutter und nach Amke. Sieglind trat seit Siegfrieds rätselhaftem Verschwinden kaum noch in Erscheinung, sie hatte jede Verantwortung in Reinholds Hände gelegt. Über Amke wußten Otter und Wieland nichts Neues zu berichten. Sie war noch immer Gefangene auf der Xantener Königsburg. Für Siegfried war es schon eine Beruhigung, daß sie und seine Mutter noch lebten.

Immer wieder drohte der Rhein das kleine Boot abzutreiben oder umzuwerfen. Aber Otter verstand es, das Boot zu manövrieren, fast wie ein Fährmann oder ein Flößer. Dank seiner Anweisungen umfuhren sie Strudel und Stromschnellen und erreichten schließlich das waldgesäumte Ufer.

»Sehr gut«, meinte Otter und stieg auf dem Uferstreifen in seine Kleider. »Die Pferde stehen ganz in der Nähe.«

»Ich übernehme jetzt die Führung!« sagte Grimbert, als er sich auf einen großen Fliegenschimmel schwang. »Wir müssen zu einem bestimmten Ort, wenn wir Reinholds Pläne durchkreuzen wollen.«

»Was ist das für ein Ort?« fragte Siegfried.

Mit einem matten Lächeln antwortete sein Oheim: »Eine Schmiede.«


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