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Draußen auf dem Land stand im Juli alles in voller Blüte. Eine ungewöhnlich lange Regenzeit hatte die Themse über die Ufer treten lassen, und Samen, die lange im Boden gelegen hatten, waren nun zum Leben erwacht. Auf den Wiesen und Feldern von Pereford war alles üppig und grün geworden. Dicht belaubt waren die Bäume in den Wäldern jenseits der Gärten, und ihre vollen Kronen bildeten einen natürlichen Schutz für die Tiere. Horton fürchtete bereits, die Waldhasen würden ihre Zuflucht verlassen und sich über die Tulpen hermachen, und deshalb stellte er Fallen auf. Die durchdringenden Schreie der verendenden Tiere störten den Frieden der Nacht. Er hörte also auf, Fallen aufzustellen – nicht nur weil ihn Katherine darum gebeten hatte, sondern weil er stets ein unbehagliches Gefühl hatte, wenn er den Wald betreten mußte, um die zerfetzten Tiere aus den Fallen zu nehmen. Er spüre die Augen ganz deutlich, sagte er, als ob ihn irgend etwas aus dem Dickicht beobachte.

Als er dies seiner Frau gestand, lachte sie und meinte, es handle sich wahrscheinlich um den Geist King Henrys V. Ihm aber war gar nicht zum Lachen zumute. Horton weigerte sich, jemals wieder den Wald zu betreten.

Schweres Kopfzerbrechen verursachte ihm, daß das neue Kinderfräulein, diese vorwitzige Mrs. Baylock, mit Damien da draußen herumstrolchte und weiß der Herr was alles fand, womit sich der Junge oft stundenlang beschäftigen konnte. Horton hatte sehr wohl bemerkt, als er einmal seiner Frau beim Wäschesortieren half, daß die Kleidung des Jungen voller schwarzer Haare war. Als ob er mit einem Tier gespielt hätte! Horton aber fand keinerlei Reim zwischen den Tierhaaren und Damiens Ausflügen in den Wald, außer dem einen, daß im Pereford-Haus die unmöglichsten Dinge passierten. Und es geschah wahrlich eine ganze Menge.

Katherine überließ den Kleinen mehr und mehr dem neuen, lustigen Kindermädchen. Es stimmte schon, daß Mrs. Baylock eine liebevolle Gouvernante war und daß das Kind sie mehr und mehr liebgewann. Aber es war beunruhigend, wenn nicht gar unnatürlich, daß der Junge ihre Gesellschaft der seiner eigenen Mutter vorzog. Natürlich bemerkten dies auch die Hausangestellten, und man sprach darüber. Es tat ihnen irgendwie leid, daß die Zuneigung des Kindes einer Angestellten galt und nicht mehr ihrer Herrin. Sie wünschten, Mrs. Baylock würde wieder verschwinden. Statt dessen aber machte sie sich von Tag zu Tag unentbehrlicher und gewann immer mehr Einfluß auf die Herrschaften.

Was Katherine betraf, so fühlte sie dies genauso, aber sie war hilflos. Sie konnte nichts dagegen tun, vor allem aber wollte sie nicht, daß sie die Zuneigung eines Menschen zu ihrem Kind durch irgendwelche Eifersüchteleien störte. Schon einmal hatte sie es getan. Damals hatte sie Damien einer fröhlichen Gesellschafterin beraubt, wofür sie sich immer noch verantwortlich fühlte, und sie war nicht bereit, das noch einmal geschehen zu lassen.

So willigte Katherine ein, als Mrs. Baylock nach der zweiten Woche bat, in ein Zimmer, das direkt dem Zimmer Damiens gegenüberlag, einziehen zu dürfen. Vielleicht war das bei den reichen Leuten so üblich. Katherine selbst war in bescheidenen Familienverhältnissen großgeworden, und dort war es die Aufgabe der Mutter gewesen – ihre einzige Aufgabe übrigens –, liebevolle Erzieherin und Beschützerin ihres Kindes zu sein. Doch hier war das Leben ganz anders. Sie war die Herrin eines großen Hauses, und vielleicht war es in der Tat höchste Zeit, daß sie anfing, sich wie eine Herrin zu benehmen.

So verfügte Katherine über eine Menge freier Zeit. Sie unternahm dies und jenes, sie beschäftigte sich mit Dingen, die Jeremy mit Freuden guthieß. Den Vormittag zum Beispiel widmete sie wohltätigen Zwecken, nachmittags lud sie häufig Damen aus Diplomatenkreisen oder wichtige Leute aus der Politik zum Tee. Katherine war kein gesellschaftliches Mauerblümchen mehr, schon gar nicht jenes zerbrechliche Wesen früherer Jahre, sondern wahrhaftig ›eine Löwin voller Energie und Zuversicht, wie sie von Freunden scherzend genannt wurde. Und dies war genau die Frau, die Jeremy sich wünschte – Kathy war der Lebenspartner, von dem er immer geträumt hatte. Gewiß, die plötzliche Veränderung in ihrem Wesen war ein wenig beunruhigend, aber sollte er Katherine in ihren Aktivitäten deshalb hemmen? Sogar ihr Liebesleben hatte sich geändert. Es war erregender, leidenschaftlicher geworden. Jeremy kam allerdings nicht auf den Gedanken, daß dies möglicherweise eher ein Zeichen der Verzweiflung denn ungetrübte Lust war.

Jeremy Thorn war von seiner beruflichen Aufgabe restlos ausgefüllt, und seit der Ölkrise war er zur wichtigsten Stütze des Präsidenten geworden, wo immer es um Kontakte mit den arabischen Ölscheichs ging. Ein Flug nach Saudi-Arabien stand nun wieder bevor, und Jeremy mußte ohne Katherine fliegen, denn Frauenbegleitung hielten die Araber bei einem Mann stets für ein Zeichen der Schwäche.

»Das begreife ich nicht«, meinte Katherine, als er ihr die Situation erläuterte.

»Ist eine Angelegenheit ihrer Kultur«, erwiderte Thorn. »Ich bin ihr Gast, und ich muß ihre Sitten respektieren.«

»Müssen sie denn nicht auch die Gepflogenheiten des Gastes respektieren?«

»Natürlich tun sie das.«

»Nun, bin ich kein kultivierter Mensch?«

»Katherine –«

»Ich habe diese Scheichs gesehen. Und ich habe die Frauen gesehen, die sie kaufen. Wohin sie gehen, werden sie von Huren begleitet. Wollen sie vielleicht, daß du das auch tust?«

»Ehrlich, ich habe keine Ahnung.«

Sie waren im Schlafzimmer. Es war spät. Nicht gerade die rechte Zeit, um einen Streit anzufangen.

»Was soll das bedeuten?« fragte Katherine ruhig.

»Es ist eine wichtige Reise, Kathy.«

»So. Und wenn sie von dir verlangen, daß du mit einer Hure schläfst –«

»Wenn sie von mir verlangen, mit einem ihrer Eunuchen zu schlafen, dann werde ich mit ihrem Eunuchen schlafen. Weißt du überhaupt, was hier auf dem Spiel steht?«

Sie waren an einem toten Punkt angelangt; langsam fand Katherine ihre Sprache wieder.

»Und wo ist mein Platz in dieser ganzen Geschichte?«

»Du bist hier. Was du hier tust, ist genauso wichtig.«

»Sprich nicht so herablassend mit mir.«

»Ich habe nur versucht, dir verständlich zu machen …«

»Daß du die Welt retten kannst, indem du tust, was sie sagen.«

»So kann man es auch ausdrücken.«

Sie sah ihn an, wie sie ihn niemals zuvor angesehen hatte. Hart. Haßerfüllt. Dieser Blick machte ihn unsicher.

»Ich glaube, daß wir alle irgendwie Huren sind, Jeremy«, sagte sie. »Du bist ihre Hure und ich bin deine. Und nun laß uns zu Bett gehen.«

Er verbrachte lange Zeit im Badezimmer, weil er hoffte, sie würde schlafen, wenn er herauskam. Aber sie schlief nicht.

Sie war wach und wartete. Es kam ihm ein Hauch feinsten Parfüms entgegen. Er setzte sich aufs Bett und sah sie lange an. Sie erwiderte sein Lächeln.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich verstehe es wirklich.«

Sie nahm sein Gesicht und drückte es an ihre zarten Brüste. Dann zog sie ihn über sich und umarmte ihn fest. Ihr Atem wurde immer stärker, und er begann sie zu liebkosen, doch sie rührte sich nicht unter ihm.

»Mach’s doch«, drängte sie. »Mach’s mir einfach. Geh nicht weg.«

Und sie liebten sich auf eine Weise, wie sie es noch nie zuvor getan hatten. Katherine weigerte sich, sich zu bewegen, aber sie weigerte sich auch, ihn loszulassen. Es war, als liebte sie ihn nur mit ihrer Stimme, als drängte diese Stimme ihn zur äußersten Hingabe.

Auf einmal war es zu Ende. Sie ließ ihn los, und er glitt von ihr herunter und starrte sie verletzt und verwirrt an.

»Geh jetzt und rette die Welt«, flüsterte sie. »Geh hin und tu, was sie sagen, deine Ölscheichs.«


*


In dieser Nacht konnte Jeremy Thorn nicht schlafen. Er saß am Fenster des Schlafzimmers und starrte in die Vollmondnacht hinaus. Da lag der Wald – ein dunkles, unbewegliches Etwas. Eine schlafende Welt? Doch nein, dieses Etwas schlief nicht, Jeremy hatte vielmehr das deutliche Gefühl, daß auch er beobachtet wurde aus dem Dunkel heraus. Draußen auf der Veranda lag ein Feldstecher, mit dem sie bisweilen die Vögel beobachteten. Thorn ging also hinaus, nahm den Feldstecher und suchte damit die Umgebung ab. Plötzlich entdeckte er zwei Augen, die ihn anzustarren schienen … zwei feurige gelbe Kugeln, zwei dicht beieinanderliegende, stechende Punkte, die unverwandt aufs Haus gerichtet waren. Schaudernd setzte Jeremy den Feldstecher ab und ging wieder hinein. Einen Augenblick stand er da wie eine Steinsäule, dann raffte er all seine Energie zusammen und schlich auf bloßen Füßen zum Hauseingang. Ruhig öffnete er die Tür und trat ins Freie.

Es war ganz still, sogar das Zirpen der Grillen war verstummt.

Wieder begann er sich zu bewegen, als ob ihn irgend etwas zum Waldrand hinzöge. Dann blieb er stehen und lauschte.

Aber da war nichts. Nicht ein Laut. Die beiden glühenden Kugeln waren verschwunden. Er drehte sich um, und da trat er mit seinen nackten Füßen auf etwas Weiches, Nasses. Er hielt den Atem an. Er tat einen Schritt zur Seite. Es war ein totes Kaninchen, das er anfaßte – noch warm, und sein Blut strömte ins Gras, strömte aus einem Rumpf, dem der Kopf fehlte.


*


Am folgenden Morgen stand er früh auf und fragte Horton, ob er immer noch Fallen für Kaninchen oder Wildhasen aufstelle. Doch Horton verneinte dies, und Thorn nahm ihn zu dem Platz mit, wo das tote Tier lag. Es war nun von Fliegen über und über bedeckt. Horton scheuchte sie fort, als er sich hinkniete, um den Kadaver genauer zu betrachten.

»Was meinen Sie?« fragte Thorn. »Haben wir hier vielleicht einen Wilddieb?«

»Könnte ich nicht sagen, Sir. Aber ich bezweifle es.« Er hob den steifen Körper hoch und deutete mit dem Finger darauf.

»Wilddiebe lassen den Kopf zurück, sie nehmen ihn doch nicht mit. Wer dieses Tier umgebracht hat, der hat’s aus purem Mutwillen getan.«

Thorn befahl Horton, den Kadaver beiseitezuschaffen und niemandem etwas davon zu sagen. Als sie aufs Haus zugingen, blieb Horton stehen.

»Ich mag diesen Wald nicht, Sir. Und ich mag es auch nicht, daß Mrs. Baylock mit dem Jungen dort hingeht.«

»Sagen Sie ihr, sie solle es nicht tun«, entgegnete Thorn. »Wir haben doch den schönen Garten, in dem sie sich aufhalten können.«


*


An jenem Nachmittag tat Horton, was man ihm gesagt hatte. Er sah seine Vermutung bestätigt, daß irgend etwas im Haus nicht stimmte. An diesem Abend suchte ihn Mrs. Baylock im Salon auf und drückte ihm ihr Mißfallen aus, daß sie sich von einem Hausangestellten Vorschriften machen lassen müsse.

»Es ist nicht so, daß ich Befehle nicht befolge«, sagte sie indigniert. »aber ich erwarte, daß man sie mir direkt gibt.«

»Mir ist der Unterschied nicht ganz klar«, meinte Thorn, und er war ziemlich bestürzt über den wütenden Blick, den Mrs. Baylock ihm zuwarf.

»Es ist bloß der Unterschied zwischen einem großen Haus und einem kleinen Haus, Mr. Thorn. Ich habe das Gefühl, daß hier keiner für etwas verantwortlich ist.«

Sie drehte sich auf den Hacken um und ließ ihn stehen. Thorn fragte sich, was sie wohl gemeint haben mochte. Soweit es den Haushalt betraf, war doch Katherine diejenige, die die Verantwortung trug. Aber schließlich war er jeden Tag unterwegs. Vielleicht hatte Mrs. Baylock ihm damit angedeutet, daß es im Haus nicht so war, wie es sein sollte? Ob Katherine sich nicht genug um alles kümmerte? Vielleicht hatte sie das gemeint.


*


In seinem Zimmer in dem sechsstöckigen Mietshaus in Chelsea betrachtete Haber Jennings die wachsende Serie der Thorn-Porträts, die an der Wand der Dunkelkammer hingen. Da waren die düsteren Bilder von der Beerdigung, die Großaufnahme des Hundes zwischen den Grabsteinen, der Bildausschnitt, der deutlich den Jungen zeigte. Außerdem hingen da die Bilder der Geburtstagsparty: Katherine, wie sie das Kindermädchen beobachtete. Das Kindermädchen im Clownskostüm. Beide allein. Es war das letzte Bild, das ihn am meisten interessierte, denn über dem Kopf des Kindermädchens war eine schadhafte Stelle – eine fotografische Unvollkommenheit vielleicht, aber doch irgendwie sehr sonderbar. Vielleicht war es wirklich nur ein Fehler in der Emulsion des Films, und trotzdem … sah es nicht wie ein Schleier über dem Kopf des Mädchens aus? Fast wie ein Heiligenschein? Oder wie ein böses Omen? Gewöhnlich warf er fehlerhafte Bilder weg – dies hier wollte er aufbewahren.

Er wußte ja, was unmittelbar nach der Aufnahme geschehen war, und so bekam diese Stelle eine nahezu symbolische Bedeutung – ein gestaltloses, deutlich sichtbares Vorzeichen des Verhängnisses.

Die letzte Fotografie zeigte die Leiche, die an einem Seil hing: eine erschütternde Realität, die die Montage vervollständigte.

Alles in allem war diese Thorn-Serie eine einzige Galerie des Makabren. Ein dicker Fisch für Jennings! Er hatte nichts anderes getan, als Leute aufzunehmen, die auch die Seiten von Good Housekeeping schmückten, und er hatte irgend etwas ganz Besonderes in ihnen entdeckt; etwas, das noch keiner vorher gefunden hatte. Bereits früher, als ihm der Gedanke gekommen war, sich auf diese Weise um die Thorn-Familie zu kümmern, hatte er eine Verbindung in Amerika dazu benutzt, um weitere Informationen über ihren Background zu ergattern.

So hatte er herausgefunden, daß Katherine ein Abkömmling einer russischen Emigrantenfamilie war und daß ihr natürlicher Vater Selbstmord begangen hatte. Nach einem alten Bericht in der Minneapolis Times war der Herr Papa vom Dach eines Bürohauses in Minneapolis gesprungen. Einen Monat später war Katherine zur Welt gebracht, und innerhalb eines Jahres hatte ihre Mutter wieder geheiratet. Sie war inzwischen mit dem neuen Ehemann, der dem Kind seinen Namen gegeben hatte, nach New Hampshire gezogen.

In den wenigen Interviews, die Katherine in den letzten Jahren gegeben hatte, war der Stiefvater niemals erwähnt worden, und Jennings hatte das Gefühl, daß sie die Wahrheit selbst nicht genau wußte. Es war nicht wichtig, doch es spornte Jennings nur noch zu größerer Neugier an. Wenn es auch nicht mehr als ein kleines Häppchen war, so verstärkte es doch die Illusion, nun richtig in der Sache drin zu sein.

Was ihm bisher noch fehlte, war eine Aufnahme des Herrn Botschafters, und Jennings hoffte, daß er Thorn morgen doch noch erwischte, denn morgen fand eine bedeutende Hochzeit in der All Saints Church statt, bei der die Thorn-Familie ohne Zweifel anwesend sein würde. Es war nicht recht nach Jennings Geschmack, aber bis jetzt hatte er Glück gehabt, und vielleicht blieb es ihm auch diesmal treu.


*


Am Tag vor der Hochzeit machte sich Thorn von seinen üblichen Sonnabendarbeiten in der Botschaft frei. Er fuhr mit Katherine hinaus aufs Land. Noch rätselte er erfolglos an ihrem merkwürdigen Streit und an jener seltsamen Liebesnacht, die diesem Streit gefolgt war, herum. Er wollte mit Kathie einmal ganz allein sein. Vielleicht konnte er nun ergründen, was da eigentlich los war.

Thorn schien die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn zum erstenmal seit Wochen wirkte Kathie völlig entspannt. Sie genoß diese Fahrt in vollen Zügen. Sie hielt Jeremys Hand, als sie auf der abwechslungsreichen Strecke durch die zauberhafte Landschaft gondelten.

Am frühen Nachmittag erreichten sie das Shakespeare-Städtchen Stratford upon Avon. Hier besuchten sie eine Vorstellung des König Lear. Kathie war wie gebannt. Das Spiel rührte sie zu Tränen. Des alten Lear Schlußmonolog, jene erschütternde Klage über den Tod seines Kindes, hatte alle ergriffen: »Kein, kein Leben? – Ein Hund, ein Pferd, ’ne Maus soll Leben haben, und du nicht einen Hauch …« Noch lange nach der Vorstellung mußte Thorn seine Frau damit trösten, daß alles am Ende ja nur Spiel war – Theater!

Schließlich kehrten sie zu ihrem Wagen zurück und fuhren weiter. Fest umklammerte Katherine Jeremys Hand. Das erschütternde Spiel hatte eine Intimität zwischen ihnen geschaffen, die sie in ihren Beziehungen lange nicht mehr gespürt hatten. Nun zeigte sich, wie verwundbar sie war, und als sie hielten, begann sie wieder zu weinen. Sie sprach von ihren Ängsten, von der Furcht, Damien zu verlieren. Sie sagte, falls ihm irgend etwas passiere, wolle auch sie nicht mehr weiterleben.

»Du wirst ihn doch nicht verlieren, Kathy«, sagte Jeremy zärtlich. »So grausam kann das Leben nicht sein.«

Zum erstenmal seit langer Zeit hatte er sie wieder Kathy genannt, und es war, als ob der Name die Distanz auslöschte, die während der vergangenen Monate zwischen ihnen gewesen war.

Unter einem riesigen Eichbaum machten sie Rast. Kathys Stimme war beim Rauschen des ruhig dahinfließenden Stroms kaum vernehmbar.

»Ich hab’ solche Angst«, flüsterte sie.

»Aber du brauchst doch vor nichts und niemandem Angst zu haben.«

»Doch, ich fürchte mich … vor allem.«

Plötzlich hatte sie einen Junikäfer entdeckt. Sie beobachtete ihn, wie er sich einen Weg durchs hohe Gras suchte.

»Was hast du zu befürchten, Katherine?«

»Was haben wir nicht zu befürchten?«

Er starrte sie an und wartete darauf, daß sie weitersprach.

»Ich habe Angst um das Gute, weil es mir aus den Händen gleiten könnte … ich habe Angst vor dem Bösen, weil ich zu schwach bin, um mich dagegen wehren zu können. Ich fürchte deinen Erfolg, und ich fürchte dein Versagen. Und ich habe die Befürchtung, daß ich weder gegen das eine noch gegen das andere etwas tun kann. Ich habe Angst, du könntest Präsident der Vereinigten Staaten werden, Jeremy … und ich befürchte, daß du eine Frau hast, die deiner nicht würdig ist.«

»Du hast es bisher ausgezeichnet gemacht«, versicherte er ihr.

»Aber ich habe es gehaßt – all mein Tun.«

Ihr Eingeständnis klang einfach, so unheimlich einfach.

»Schockiert es dich nicht?« fragte sie.

»Ein wenig schon«, antwortete er.

»Weißt du, welches mein sehnlichster Wunsch ist?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich möchte, daß wir nach Amerika zurückkehren.«

Er legte sich ins Gras und ließ seinen Blick durchs Laub der großen Eiche wandern.

»Mehr als sonst irgend etwas, Jeremy. Ich will dorthin gehen, wo es sicher ist. Dorthin, wo …«

Ein langes Schweigen folgte. Sie lag neben ihm und schmiegte sich in seine Arme.

»Hier ist es sicher«, flüsterte sie. »Hier – in deinen Armen.«

»Ja

Sie schloß die Augen, ein winziges Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Wir sind jetzt in New Jersey, nicht wahr?« flüsterte sie. »Und siehst du sie dort drüben auf dem Hügel, unsere kleine Farm? Dort drüben sind wir doch daheim, sag?«

»Es ist ein großer Hügel, Kathy.«

»Ich weiß. Ich weiß. Wir werden nie hinüberkommen.«

Eine leichte Brise bewegte die Blätter über ihnen, und sie beobachteten schweigend, wie die Sonnenstrahlen auf ihren Gesichtern spielten.

»Vielleicht will es Damien«, flüsterte Thorn. »Vielleicht ist er ein angehender junger Farmer.«

»Bestimmt nicht. Er ist dein Sohn durch und durch.«

Thorn antwortete nicht; er wich ihren Blicken aus.

»Er ist es, und du weißt es«, sagte Katherine. »Und es ist so, als ob ich überhaupt nichts mit ihm zu tun hätte.«

Thorn fuhr plötzlich hoch. Er stützte sich auf einen Arm und betrachtete sie mit trauriger Miene.

»Warum sagst du das?« fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern, denn sie wußte nicht, wie sie es erklären sollte.

»Er ist ein Geschöpf, das keine Menschenseele zu brauchen scheint.«

»Er hat keine Bindung zu mir, wie ein normales Kind zu seiner Mutter. Hast du eine seelische Bindung zu deiner Mutter?«

»Ja

»Und … zu deiner Frau?«

Ihre Blicke trafen sich, und er streichelte ihre Wangen. Sie küßte seine Hand.

»Ich will hier nicht mehr fort«, flüsterte sie. »Es ist so schön hier, und du bist mir so nahe. Ich will hierbleiben … so liegenbleiben … dir zuhören …«

Und dann hob sie ihr Gesicht, bis ihre Lippen seinen Mund berührten.

»Weißt du, Kathy«, flüsterte Thorn nach einem längeren Schweigen. »als ich dir zum erstenmal begegnete, hielt ich dich für die schönste Frau, die es je gab.«

Sie lächelte und nickte.

»Du bist es immer noch, Kathy«, flüsterte er. »Du bist es wirklich noch immer.«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch – und wie ich dich liebe!«

Ihr Mund verzog sich, Tränen traten aus ihren geschlossenen Augen und rollten über ihre Wangen.

»Ich möchte fast, daß du niemals wieder mit mir sprichst«, hörte er sie sagen. »Damit ich mich daran erinnern kann, was du eben zu mir gesagt hast.«

Dunkel leuchteten ihre Augen bei diesen Worten.


*


Als sie an jenem Abend nach Pereford zurückkehrten, schlief bereits das ganze Haus. Sie machten Feuer im Kamin, holten Wein, und Thorn füllte die Gläser. Sie setzten sich auf die Ledercouch, lehnten sich zurück und schmiegten sich aneinander.

»Werden wir das im Weißen Haus tun können?« fragte Katherine.

»Ach, bis dorthin ist noch ein langer Weg.«

»Können wir dort auch so zärtlich zueinander sein?«

»Ich wüßte nicht, was dagegen spräche.«

»Können wir uns in Lincolns Schlafzimmer schlimm benehmen?«

»Schlimm?«

»Sexuell, meine ich …«

»In Lincolns Schlafzimmer? Vielleicht in seinem Bett?«

»Da müßte Lincoln erst mal ausziehen, nehme ich an.«

»Oh, er kann doch mitmachen.«

Thorn lachte und zog Kathy an sich.

»Allerdings müßten wir etwas gegen die Touristen unternehmen«, fügte Katherine hinzu. »Sie kommen dreimal täglich durch Lincolns Schlafzimmer.«

»Wir werden die Tür abschließen.«

»Wieso denn? Wir verlangen einfach gesalzene Eintrittspreise.«

Er lachte wieder. Ihre gute Laune gefiel ihm.

»Was für eine Führung durchs Weiße Haus!« flüsterte sie begeistert. »Und hier können Sie sehen, wie Mr. Präsident die First Lady fickt und beglückt.«

»Kathy!«

»Kathy und Jeremy machen’s miteinander. Und der alte Lincoln rotiert in seinem Grab.«

Er starrte sie an und keuchte: »Was ist denn bloß in dich gefahren?«

»Du«, zischte sie.

Seine Augen wurden groß; er kannte sie plötzlich nicht mehr.

»Bist du denn das wirklich?« fragte er.

»Auf Ehre und Gewissen – ich bin’s.«

»Ich kann es mir nicht vorstellen!«

»Bin ich nicht widerlich?«

Sie lachte über sich selbst, und er tat es ebenfalls. Und der Rest des Tages und die Nacht waren so, wie sie es sich manchmal erträumt hatte.


*


Es war ein strahlender Morgen, als Thorn gegen neun Uhr, bereits für die Hochzeit angezogen, munter die Treppe hinunterstieg.

»Kathy?« rief er.

»Bin noch nicht fertig«, hörte er ihre Stimme von oben.

»Wir werden zu spät kommen.«

»Kann sein.«

»Sie könnten vielleicht auf uns warten, weißt du. Wir sollten uns beeilen.«

»Ist Damien schon angezogen?«

»Ich denke schon.«

»Ich möchte nicht zu spät kommen.«

»Sag doch Mrs. Horton, sie soll uns Toast machen.«

»Ich will keinen Toast.«

»Beeil dich.«

Draußen war Horton bereits mit der Limousine vorgefahren. Thorn ging hinaus zu ihm und bat ihn um ein wenig Geduld, dann ging er in die Küche.

Katherine kam schnell aus ihrem Zimmer. Sie band die Schärpe um ihr Kleid und ging auf Damiens Zimmer zu. Noch im Gehen rief sie nach ihm.

»Wir müssen fahren, Damien. Wir sind alle fertig!«

Sie blieb in seinem Zimmer stehen, denn er war nirgends zu sehen. Dann hörte sie, daß Wasser in die Badewanne eingelassen wurde, und so eilte sie schnell ins Badezimmer. Bestürzt blieb sie stehen. Damien lag in der Badewanne, und Mrs. Baylock wusch ihn, während er spielte.

»Mrs. Baylock«, stöhnte Katherine. »Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen ihn anziehen und …«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, Ma’am, meine ich, ich sollte mit ihm in den Park gehen.«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß wir ihn zur Kirche mitnehmen wollen!«

»Eine Kirche ist an einem sonnigen Tag absolut kein Ort für einen richtigen Jungen.«

Mrs. Baylock war restlos überzeugt von der Stichhaltigkeit ihres Arguments.

»Tut mir leid«, entgegnete Katherine. »Aber es ist wichtig, daß er zur Kirche geht.«

»Er ist doch noch viel zu jung für die Kirche. Er wird höchstens die Andacht stören.«

Es war etwas Entschlossenes in ihrer Stimme und in der ganzen Art, wie sie sich benahm. Obgleich sie ruhig und nicht aufdringlich sprach, so war Katherine doch empört.

»Sie scheinen immer noch nicht verstanden zu haben«, sagte sie fest. »Ich möchte, daß er uns in die Kirche begleitet.«

Mrs. Baylock hob den Kopf. Offensichtlich empfand sie Kathys Ton beleidigend. Auch das Kind spürte es, denn es schmiegte sich an Mrs. Baylock, die wie ein Fels dastand.

»Ist er denn früher schon mal in der Kirche gewesen?« fragte das Kinderfräulein.

»Ich begreife nicht, was das damit zu tun hat …«

»Kathy?« rief Thorn von unten.

»Komme gleich«, rief sie zurück.

Sie starrte Mrs. Baylock böse an, aber die Frau hielt ihrem Blick stand.

»Ziehen Sie ihn sofort an«, befahl Katherine.

»Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber erwarten Sie wirklich von einem vierjährigen Jungen, daß er das Drum und Dran einer Hochzeitszeremonie begreift?«

Katherine holte tief Luft.

»Ich bin katholisch, Mrs. Baylock, und mein Mann ebenfalls.«

»Na ja, jemand muß es wohl sein«, entgegnete die Frau.

Katherine starrte sie an, sie war entrüstet über die trotzigen Antworten dieser Frau.

»Sie werden jetzt meinen Sohn anziehen«, sagte sie entschlossen. »und Sie bringen ihn in fünf Minuten runter zum Auto. Oder Sie packen Ihre Sachen und schauen sich nach einem anderen Job um.«

»Vielleicht werde ich das sowieso tun.«

»Das bleibt Ihnen überlassen.«

»Ich werde es mir überlegen.«

»Ich hoffe es.«

Einen Augenblick war es ganz still, dann drehte sich Katherine um. Sie war dabei, das Badezimmer zu verlassen.

»Was die Kirche betrifft …«, sagte Mrs. Baylock.

»Ja?«

»Es wird Ihnen schwer leid tun, daß Sie ihn mitgenommen haben.«

Katherine verließ das Badezimmer. Fünf Minuten später erschien Damien unten und kam auf das Auto zugelaufen.

Auf der Fahrt durch Shepperton, wo der neue Highway gebaut wurde, gerieten sie ein paarmal in einen Stau, und es wurde in der Limousine noch ruhiger als vorher.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Thorn, während er Katherine von der Seite ansah.

»Laß nur.«

»Du bist verstimmt.«

»Völlig unwichtig.«

»Also – was ist los?«

»Nichts Besonderes.«

»Los. Heraus mit der Sprache.«

»Mrs. Baylock«, sagte Katherine seufzend.

»Was ist mit ihr?«

»Wir hatten einen Wortwechsel.«

»Worum ging’s?«

»Sie wollte mit Damien in den Park.«

»Und was soll daran auszusetzen sein?«

»Statt zur Kirche.«

»Kann nicht sagen, daß ich ihr deswegen böse sein könnte.«

»Sie tat alles, was sie nur konnte, um ihn von dieser Fahrt abzuhalten.«

»Wahrscheinlich ist sie ohne ihn ein bißchen einsam.«

»Ich weiß nicht … mir gefällt die Sache nicht.«

Thorn zuckte mit den Schultern. Er schaute durchs Fenster auf die bereits geteerte neue Straße, während der Wagen langsam in der Schlange weiterfuhr.

»Gibt es hier keine Umleitung, Horton?« fragte er.

»Nein, Sir«, erwiderte Horton. »aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich wegen Mrs. Baylock mit Ihnen sprechen.«

Thorn und Katherine sahen einander an. Offensichtlich war Hortons Bitte doch ein wenig überraschend gekommen.

»Na reden Sie schon«, sagte Thorn.

»Ich möchte es nicht gern vor dem Kleinen sagen.«

Katherine sah zu Damien, der mit den Riemen seiner neuen Schuhe spielte und sich offensichtlich nicht um die Unterhaltung kümmerte.

»Schon gut«, sagte Katherine.

»Ich habe das Gefühl, daß sie einen schlechten Einfluß hat«, erklärte Horton. »Sie kümmert sich überhaupt nicht um die Hausordnung.«

»Was für eine Hausordnung?« fragte Thorn.

»Ich möchte nicht gern in die Einzelheiten gehen, Sir.«

»Bitte.«

»Also, zum Beispiel … es ist bisher immer so gewesen, daß die Leute gemeinsam essen und abwechselnd das Geschirr spülen.«

Thorn warf Katherine einen Blick zu. Offensichtlich war nichts Ernstes zu befürchten.

»Aber sie speist niemals mit uns«, fuhr Horton fort. »Sie kommt absichtlich immer erst runter, wenn wir schon fertig sind und ißt dann allein.«

»Verstehe«, meinte Thorn, während er so tat, als interessiere ihn die Geschichte.

»Und sie läßt die Teller stehen, und die Morgenhilfe muß sie dann spülen.«

»Ich glaube, wir können ihr beibringen, daß sie das in Zukunft unterläßt.«

»Es wird erwartet, daß die Angestellten im Hause bleiben, wenn die Lichter ausgemacht werden«, fuhr Horton fort. »und ich habe sie bei mehr als einer Gelegenheit gesehen, wie sie in aller Herrgottsfrühe in den Wald hinausging. Draußen war es noch dunkel. Und sie ging so leise, daß keiner sie hören konnte. Ich möchte vielmehr sagen, daß sie geschlichen ist … jawohl, sie hat sich richtig davongeschlichen!«

»Das klingt ja sonderbar«, murmelte Thorn.

»Ma’am, Sir – was ich nun sage, das ist wahrhaftig nicht gerade delikat, und ich muß schon sehr um Verzeihung bitten«, fuhr Horton fort. »aber wir haben’s alle beobachtet – diese Mrs. Baylock … sie benutzt kein Papier in der Toilette. Toilettenpapier, Sie wissen schon. Seit sie hier ist, haben wir noch nicht wieder eine neue Rolle einsetzen müssen.«

Jeremy und Kathy tauschten einen vielsagenden Blick.

»Merkwürdig – die Geschichte«, sagte Jeremy Thorn.

»Wenn ich zwei und zwei zusammenzähle«, sagte Horton. »dann glaube ich, sie bringt’s raus in den Wald. Wenn Sie mich fragen, halte ich das für äußerst unzivilisiert.«

Eine Weile war es still in der Limousine. Die Thorns waren nun wirklich sprachlos für geraume Zeit.

»Noch etwas. Noch etwas, das nicht stimmt.«

»Was denn, Horton?« fragte Thorn.

»Sie benutzt das Telefon und dann spricht sie mit Rom. Lauter Ferngespräche.«

Als Horton mit dem, was er zu sagen hatte, fertig war, entdeckte er eine Lücke in der Autoschlange. Er fuhr schneller. Indessen dachten Katherine und Thorn darüber nach, was er gesagt hatte. Die Landschaft flog an ihnen vorbei. Schließlich wurde das Thema wieder aufgegriffen.

»Sie war heute sehr widerspenstig«, meinte Katherine.

»Möchtest du sie entlassen?«

»Ich weiß nicht. Du?«

Thorn zuckte mit den Schultern.

»Damien scheint gut mit ihr zurechtzukommen.«

»Ich weiß.«

»Und das ist ja auch etwas wert.«

»Ja«, seufzte Katherine. »Das ist es bestimmt.«

»Aber wenn du willst, dann können wir sie fortschicken.«

Katherine schwieg; sie schaute aus dem Fenster.

»Ich denke, sie wird vielleicht von selbst gehen.«

Damien, der zwischen ihnen saß, schaute unentwegt auf den Boden, während sie auf die Stadt zufuhren.


*


Die All Saints Church, ein erhabenes Bauwerk, stammte aus dem 17. Jahrhundert. Es wurde jedoch ständig an der Kirche weitergebaut – sogar bis in unser Jahrhundert hinein. Das Gotteshaus war immer geöffnet, und Tag und Nacht brannten in seinem Innern die Lichter. Am heutigen Tag war die Treppe, die hinauf zum Hauptportal führte, über und über mit Iris geschmückt. Kirchendiener und Ministranten mußten einen schmalen Pfad freihalten, denn das Ereignis hatte eine große Menschenmenge angelockt. Einige Gruppen trugen Transparente mit den Parolen der kommunistischen Partei, die sie eigentlich auf dem Piccadilly spazierenführen wollten, doch jetzt entdeckten sie, daß vor AU Saints gerade genug Kapitalisten versammelt waren, denen man die schönen Sprüche unter die Nase halten konnte. Lauter Prominente und hohe politische Persönlichkeiten waren im Anmarsch.

Immer mehr Menschen drängten sich auf dem Vorplatz, schoben sich zur Treppe, und die Polizisten hatten große Mühe, sie zurückzuhalten. Das Durcheinander verzögerte alles, und die ankommenden Limousinen mußten in einer Schlange warten, bis sie an der Kirche vorfahren konnten, um ihre Passagiere abzusetzen.

So spät die Limousine der Thorns auch kam, sie mußte am Ende der Straße halten. Hier gab es nur wenige Polizisten, und die Leute drängten sich sofort um den Wagen. Sie starrten immerfort hinein, und Damien, der vor sich hingedöst hatte, erschrak heftig, als immer mehr Gesichter vor den Scheiben auftauchten.

Katherine zog Damien an sich. Sie schaute geradeaus, aber die Menschen, die den Wagen umringten, schienen sich zu vervielfachen. Das groteske Gesicht eines Wasserkopfes tauchte am Fenster unmittelbar vor Katherine auf. Der Kerl begann zu klopfen. Es schien, als ob er versuchte, in den Wagen zu gelangen.

Sie wandte das Gesicht zur Seite, denn der Mann hatte häßlich zu lachen begonnen, und eine Kaskade Speichel flog gegen die Scheibe.

»Um Himmels willen«, keuchte sie. »Was ist denn hier los?«

»Soviel ich sehen kann, ist die ganze Straße voller Menschen«, antwortete Horton.

»Können wir nicht anders fahren?« fragte Katherine.

»Wir stehen Stoßstange an Stoßstange, vorn und hinten.«

Dieses Klopfen gegen die Fensterscheibe wollte nicht aufhören. Katherine schloß die Augen, während das Klopfen draußen lauter und lauter wurde, und immer mehr Leute beteiligten sich an dem Spaß. Von allen Seiten trommelten sie jetzt auf den Wagen ein.

»Schauen Sie mal da vorn«, sagte Horton. »Kommunisten.«

»Können wir nicht hier aussteigen?« flehte Katherine.

Weil die Mutter ängstlich war, begannen Damiens Augen nun auch einen ängstlichen Ausdruck anzunehmen.

»Schon gut … es ist ja schon gut«, sagte Thorn, der die Angst in den Augen des Kindes sah. »Diese Leute können uns nichts tun, sie wollen bloß sehen, wer im Auto sitzt.«

Aber die Augen des Kindes wurden größer, sie waren nicht auf die Leute gerichtet, sondern auf einen Punkt hoch über ihnen: auf die Türme der Kirche.

»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Damien«, sagte Thorn. »Wir gehen nur zu einer Hochzeit.«

Doch die Angst des Kindes wuchs. Sein Gesicht verzerrte sich, als es Horton nun gelang, den Wagen langsam der gewaltigen Kirche zu nähern.

»Damien …«

Thorn warf Katherine einen Blick zu. Damiens Gesicht war jetzt ganz verzerrt. Bald starrte er hinaus in die Menschenmenge, bald auf die Kathedrale, die in ihrer ganzen Wucht vor ihm emporragte.

»Schon gut, schon gut, Damien«, flüsterte Katherine. »Die Leute gehen ja schon …«

Doch Damien starrte immer noch auf die Kirche, und seine Augen schienen größer und größer zu werden.

»Was ist denn bloß mit ihm los?« fragte Thorn.

»Ich habe keine Ahnung.«

»Was ist denn, Damien?«

»Er ist schreckensbleich!«

Katherine reichte ihm die Hand, und er umklammerte sie, während er verzweifelt in ihre Augen sah.

»Es ist eine Kirche, Liebling«, sagte Katherine beschwichtigend.

Als der Junge sich umdrehte, waren seine Lippen trocken.

Panische Angst schien ihn zu überwältigen, er begann zu keuchen, sein Gesicht wurde schneeweiß.

»Mein Gott«, stöhnte Katherine.

»Ist er krank?«

»Er ist wie Eis. Er ist eiskalt!«

Plötzlich hielt die Limousine vor der Kirche, und die Tür wurde geöffnet. Die Hand des Kirchendieners griff nach Damien, der sofort wieder in Panik geriet. Seine Hände verkrallten sich im Kleid der Mutter. Er begann vor Angst zu wimmern.

»Damien!« rief Katherine. »Damien!«

Als sie versuchte, ihn wegzuziehen, verkrampften sich seine Hände noch mehr. Verzweifelt versuchte er sich festzuhalten, während sie an ihm zog.

»Jeremy!« rief Katherine.

»Damien!« schrie Thorn.

»Er zerreißt mir das Kleid!«

Thorn griff nach ihm, er versuchte ihn mit ganzer Kraft wegzuziehen, doch das Kind wehrte sich und klammerte sich immer fester an die Mutter. Die Hände flogen hoch. In der Verzweiflung hielt Damien sich in Kathys Haaren fest.

»Hilfe! O lieber Gott!« schrie Katherine.

»Damien!« brüllte Thorn, während er immer noch versuchte, sie von dem Kind zu befreien. »Damien! Laß los!«

Als das Kind in seiner Angst zu schreien begann, scharten sich neue Gruppen von Schaulustigen um den Wagen. Sie wollten sehen, wie der verzweifelte Kampf da drinnen endete. Endlich kam Horton zu Hilfe. Er sprang vom Vordersitz und versuchte, sich Damiens zu bemächtigen. Doch das Kind schien zum Tier geworden zu sein. Schreiend krallte es sich fest an Katherines Kopf und riß ihr ein Büschel Haare aus.

»Macht mich los!« schrie sie. Und in ihrer Angst schlug sie wild um sich. Sie brauchte all ihre Kraft, um die Finger des Jungen zu lösen, die sich jetzt in ihre Augen zu graben versuchten. Jetzt riß Thorn den Kleinen mit einem plötzlichen Ruck weg. Er hatte ihn nun so fest im Griff, daß er sich nicht mehr rühren konnte.

»Fahren Sie los!« rief er keuchend Horton zu. »Schnell weg hier!«

Während das Kind sich immer noch wehrte, lief Horton zum Vordersitz, er sprang in den Wagen und schlug die Türen zu. Die Limousine raste davon und verschwand auf quietschenden Reifen um die nächste Ecke.

»Mein Gott«, schluchzte Katherine, während sie ihren Kopf hielt. »Mein … Gott.«

Und während die Limousine mit großer Geschwindigkeit weiterfuhr, wurde das Kind ruhiger. In größter Erschöpfung fiel sein Kopf zurück. Horton bog wieder auf den Highway ein, und wenige Augenblicke später war es mäuschenstill in der Limousine.

Damien saß mit glasigen Augen da. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Thorn hielt ihn fest in den Armen und schaute geradeaus. Neben ihm saß wie erstarrt Katherine; ihr Haar war zerzaust, ein Auge geschwollen und fast geschlossen. Schweigend fuhren sie nach Hause. Keiner wagte ein Wort zu sagen.


*


Als sie nach Pereford kamen, brachten sie Damien sogleich zu Bett und blieben schweigend bei ihm sitzen, während er zum Fenster hinausstarrte. Seine Stirn war kalt, aber sie kamen überein, den Arzt nicht zu bemühen. Er sah sie nicht an. Erst jetzt schien er sich bewußt zu sein, was er getan hatte.

»Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte Mrs. Baylock ruhig, als sie das Zimmer betrat.

Damien drehte sich um zu Mrs. Baylock. Seine ganze Haltung drückte Erleichterung aus.

»Er hat Angst gehabt«, sagte Katherine zu der Frau.

»Er mag Kirchen nicht«, erwiderte Mrs. Baylock. »Er wollte statt dessen lieber in den Wald gehen.«

»Er wurde … wild«, sagte Thorn.

»Er war wütend«, erläuterte Mrs. Baylock. Sie ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Er schmiegte sich an sie wie ein Kind an die Mutter. Schweigend beobachteten Kathy und Jeremy dieses seltsame Benehmen.

Dann verließen sie langsam das Zimmer.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte Horton zu seiner Frau. Es war jetzt Abend, und sie saßen in der Küche; schweigend hatte sie zugehört, als er von den Ereignissen des Tages berichtete.

»Mit dieser Mrs. Baylock stimmt was nicht«, fuhr er fort. »und mit dem Jungen ist auch was nicht in Ordnung – mit dem ganzen Haus stimmt’s nicht.«

»Du machst viel zuviel aus dieser Sache«, meinte sie.

»Wenn du es gesehen hättest, dann wüßtest du, wovon ich spreche.«

»Kinder machen manchmal Wirbel.«

»Er hat einen Koller – wie ein tollwütiges Tier.«

»Er ist eben temperamentvoll, das ist alles.«

»Seit wann denn?«

Sie schüttelte den Kopf, als ob sie nicht mehr darüber sprechen wolle, dann nahm sie Gemüse aus dem Gefrierschrank und begann es zu zerkleinern.

»Hast du dem mal in die Augen gesehen?« fragte Horton. »Es ist genauso, als ob du einem Tier in die Augen schaust. Sie beobachten nur. Sie warten. Sie wissen was, das du nicht weißt. Sie haben schon Dinge gesehen, die du nie gesehen hast.«

»Ach, du und deine Schreckgespenster«, murmelte sie, während sie sich mit dem Gemüse beschäftigte.

»Warte nur mal ab. Du wirst es schon noch erleben«, meinte Horton prophetisch. »Irgend etwas Schlimmes wird hier passieren.«

»Irgend etwas Schlimmes passiert überall irgendwann.«

»Mir gefällt’s nicht«, sagte er düster. »Ich denk schon dran, wir sollten kündigen.«


*


In diesem Augenblick hielten die Thorns sich im Patio auf. Es war jetzt spät. Damien schlief und das Haus war still. Dunkelheit umgab sie. Aus den Lautsprechern des Hi-Fi-Gerätes erklang gedämpft klassische Musik. Sie saßen da, ohne zu sprechen und schauten in die Nacht hinaus. Katherines Gesicht war geschwollen und zerkratzt, und sie hielt immer wieder ein Tuch an ihr verletztes Auge. Von Zeit zu Zeit tauchte sie es in warmes Wasser.

Seit den Ereignissen am Nachmittag hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, doch es war, als brauchte jeder die Gegenwart des andern. Die Angst, die ihnen die Sprache verschlug, war eine Angst, die andere Eltern auch schon erlebt hatten: die erste Ahnung, daß mit ihrem Kind irgend etwas nicht stimmte. Noch lag ein Mantel des Schweigens über dieser Angst – noch war sie nicht wirklich, noch wollten sie nicht darüber sprechen.

Katherine griff mit einer Hand in die Schüssel und als sie merkte, daß das Wasser zu kalt war, wrang sie das Tuch aus und legte es beiseite. Jeremy machte den Anfang.

»Sicherlich möchtest du keinen Arzt kommen lassen?« fragte er ruhig.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es sind ja bloß ein paar Kratzer.«

»Ich meine … wegen Damien«, sagte Thorn.

Einen Augenblick saß sie steif da, dann zuckte sie hilflos mit den Schultern.

»Was sollten wir ihm denn sagen?« flüsterte sie.

»Wir brauchen ihm ja gar nichts zu sagen. Nur … ich meine … er soll ihn eben einmal untersuchen.«

»Er ist erst letzten Monat untersucht worden. Es ist alles in Ordnung mit ihm. In seinem ganzen Leben ist er nicht einen Tag krank gewesen.«

Thorn nickte. Er dachte darüber nach.

»Er ist nie krank gewesen, ja?« fragte er neugierig.

»Nein.«

»Das ist merkwürdig, nicht wahr?«

»Wirklich?«

»Ich denke schon.«

Er sagte es so, daß sie sich zur Seite wandte, um ihn anzusehen. Ihre Blicke trafen sich, und Katherine wartete, daß er weitersprach.

»Ich meine … nicht mal Masern, Mumps … oder Windpocken. Noch nicht einmal einen Schnupfen oder Husten hatte er. Oder sonst eine Erkältung.«

»So?« fragte sie, als ob sie sich verteidigen müßte.

»Ich … ich meine … ja, es ist ungewöhnlich.«

»Wieso denn? Ich halte es nicht für ungewöhnlich.«

»Aber ich.«

»Er hat ja schließlich gesunde Eltern.«

Thorn schwieg, und sein Magen zog sich zusammen. Sie wußte immer noch nichts. Es war ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das er tief in sich verschlossen hatte.

In den vergangenen Jahren hatte er oft daran denken müssen, aber meistens hatte er das Gefühl gehabt, es richtig gemacht zu haben. Natürlich war ab und zu ein Schuldgefühl aufgetaucht, aber er hatte sich damit getröstet, daß er ihr dieses Glück ja geschenkt hatte. Wenn alles gut ging, dann war es leicht, die Dinge so treiben zu lassen – das Geheimnis für sich zu behalten. Doch nun war es irgendwie spruchreif geworden, und er mußte dagegen ankämpfen, es nicht hinauszuschreien; es war, als schnürte ihm einer die Kehle zu.

»Wenn es in deiner oder in meiner Familie früher irgend jemanden gegeben hätte, der geistig gestört gewesen wäre … dann, ganz ehrlich, würde ich mir darüber Sorgen machen, was heute geschehen ist.«

Er wollte sie ansehen, doch dann sah er schnell an ihr vorbei.

»Aber ich habe über all das nachgedacht«, fuhr sie fort. »und ich weiß, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Damien ist ein hübscher, guter, ein gesunder Junge. Er hatte gesunde Vorfahren, wir beide können stolz auf unseren Stammbaum sein.«

Unfähig sie anzusehen, nickte Thorn beifällig.

»Irgend etwas hat ihn erschreckt, das ist alles«, fügte Katherine hinzu. »Er ist ja schließlich ein Kind. Vielleicht hat er irgend etwas gesehen, was wir nicht gesehen haben … ja, das könnte sein. Und er hat Angst bekommen.«

Wieder nickte Thorn. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, denn er war sehr müde. Immer noch sehnte er sich danach, es ihr zu sagen, ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Doch es war zu spät. Es war alles schon viel zu lange her. Rom … jetzt würde sie ihn dieser Geschichte wegen hassen. Vielleicht würde sie sogar das Kind hassen. Es war zu spät. Sie durfte es niemals erfahren. Niemals!

»Ich habe über Mrs. Baylock nachgedacht«, sagte Katherine.

»Ja?«

»Ich bin zu dem Entschluß gekommen, daß wir sie behalten sollten.«

»Heute abend schien sie sehr nett zu sein«, meinte Thorn ruhig.

»Damien macht sich Sorgen. Vielleicht hat er gehört, daß wir im Auto über sie gesprochen haben.«

»Ja«, sagte Thorn.

Es war durchaus möglich. Vielleicht hatte das dieses gräßliche Angstgefühl ausgelöst. Sie hatten geglaubt, er höre nicht zu, aber offensichtlich hat er alles verstanden. Und der Gedanke, Mrs. Baylock zu verlieren, hat ihn in Panik versetzt.

»Ja«, wiederholte Thorn, und seine Stimme war voller Zuversicht.

»Ich denke daran, ihr zusätzliche Pflichten zu übertragen«, sagte Katherine. »Damit sie tagsüber eine Weile nicht im Hause ist. Vielleicht kann ich sie am Nachmittag zum Einkaufen schicken, und so kann ich mehr Zeit mit Damien verbringen.«

»Wer erledigt das jetzt? Das Einkaufen.«

»Mrs. Horton.«

»Wird sie begeistert sein, wenn sie es aufgeben muß?«

»Ich weiß nicht. Aber ich möchte einfach mehr Zeit mit Damien verbringen.«

»Ich glaube, das wäre ganz gut.«

Wieder schwiegen sie, und Katherine wandte sich ab. »Ich glaube, das ist gut«, wiederholte Thorn noch einmal. »Ja, das ist sehr gut so.«

Einen Augenblick hatte er das Gefühl, daß alles in Ordnung sei. Und dann sah er, daß Katherine weinte. Hilflos beobachtete er sie, während ihm das Herz blutete. Er wußte nicht, wie er sie nun trösten sollte.

»Du hast recht, Kathy«, flüsterte er. »Damien hat gehört, daß wir davon gesprochen haben, sie zu entlassen. Genau das ist es. Wir hätten daran denken müssen. Es ist eine natürliche Reaktion.«

»Ich bete zu Gott, daß du recht hast«, antwortete sie mit bebender Stimme.

»Natürlich …«, sagte er halblaut. »Genau das ist es.«

Sie nickte, und als die Tränen versiegt waren, erhob sie sich und sah hinaus in die Nacht.

»Nun ja«, sagte sie. »das Beste, was man mit einem bösen Tag anfangen kann, ist, ihn zu beenden. Ich gehe zu Bett.«

»Ich bleibe noch ein Weilchen hier draußen sitzen. Aber ich werde bald nachkommen.«

Ihre Schritte verklangen hinter ihm, und dann war er mit seinen Gedanken allein.

Plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge das Hospital in Rom auf. Er sah sich selbst dort, als er vor jenem Fenster stand und zustimmte, das Kind anzunehmen. Warum hatte er sich nicht eingehender über die Mutter erkundigt? Wer war sie? Wo war sie hergekommen? Wer war der Vater und warum war er nicht da?

Im Laufe der letzten Jahre hatte er verschiedene Vermutungen angestellt, und sie hatten ihn beruhigt.

Wahrscheinlich war Damiens wirkliche Mutter ein Bauernmädchen, ein gläubiges Mädchen, das ihr Kind in einem katholischen Hospital zur Welt gebracht hatte.

Es war ein sehr teures Hospital, und ohne irgendwelche Verbindungen hätte sie dort nicht entbinden können. Vermutlich war sie selbst Waise, hatte also keine Familie. Das Kind war unehelich – ein Grund mehr, weshalb der Vater nicht dagewesen war. Was brauchte man sonst noch zu wissen? Was war wichtig? Das Kind war schön und aufgeweckt. »Perfekt in jeder Hinsicht«, könnte man sagen.

Thorn war nicht der Mann, der an seinem Vorhaben zweifelte oder sein Tun bereute. Sein Verstand war dergestalt geformt, daß er stets für richtig hielt, was er getan hatte.

Damals war er verwirrt, ja, verzweifelt gewesen, und seine Seele so verwundbar, daß er auf jeden Vorschlag eingegangen wäre. Konnte dies möglicherweise falsch gewesen sein?

War an der ganzen Sache vielleicht mehr, als er wissen konnte?

Die Antwort auf diese Frage erfuhr Thorn niemals. Nur eine Handvoll Menschen kannten sie, und diese waren jetzt über alle Berge. Da waren Schwester Teresa, Pater Spilletto und Pater Tassone. Nur sie waren in die Dinge eingeweiht, und sie hatten es mit ihrem Gewissen abzumachen.


*


Damals …

Damals, in der Dunkelheit jener Nacht, hatten sie in fieberhafter Stille gearbeitet, hatten die Spannung erlebt und waren stolz, daß sie auserwählt worden waren.

Seit Anbeginn aller Zeiten war es erst zweimal versucht worden, und sie wußten, daß es diesmal kein Versagen geben durfte. Es lag alles in ihren Händen.

Nur diese drei Menschen erledigten, was getan werden mußte, und alles war abgelaufen wie ein Uhrwerk. Nach der Geburt des Jungen enthaarte Schwester Teresa Arme und Stirn; sie puderte ihn, so daß er annehmbar aussah, wenn Thorn auftauchte.

Die Kopfhaare waren dicht, wie sie es gehofft hatten, und sie benutzten einen Fön, um es aufzulockern, nachdem sie zuerst den Schädel untersucht hatten, um sich zu vergewissern, daß das Muttermal da war.

Nie wieder würde Thorn Schwester Teresa sehen, auch nicht den kleinen Pater Tassone, der, während alles oben geschah, im Keller zwei Leichen verpackte, die sofort weggebracht werden sollten. Der erste Körper: das war Thorns Baby, das man getötet hatte, ehe es den ersten Schrei ausstoßen konnte.

Der zweite Körper? … ist der Körper eines Tiers gewesen, welches die Mutterstelle jenes einen, überlebenden, vertreten hatte. Draußen stand bereits ein Wagen, der die zwei Leichen nach Cerveteri bringen mußte, wo in der Stille des Cimitero die Sant’ Angelo die Totengräber warteten.

Als der Plan dieses diabolischen Spiels entstand, hatte man Spilletto die Ausführung übertragen, der seine Komplicen mit äußerster Sorgfalt auswählte. Zufrieden mit Schwester Teresa, waren ihm, was Tassone anging, im letzten Augenblick Zweifel gekommen.

Der kleine Gelehrte war ein ergebener Mann, doch sein Glaube war aus Furcht geboren, und am letzten Tag hatte sich seine Labilität so deutlich gezeigt, daß Spilletto nachdenklich geworden war.

Tassone war willig, aber seine Willigkeit war ichbezogen, fast nur eine verzweifelte Bereitschaft zu beweisen, daß man ihm mit Recht diese Arbeit übertragen hatte. Sicherlich erkannte er die Bedeutung dessen, was geschah, gar nicht mehr, er war nur damit beschäftigt, seine eigene Rolle herauszustellen. In der Tat war Spilletto nahe daran gewesen, Tassone von dieser Aufgabe zu entbinden. Wenn einer von ihnen versagte, würde man alle drei dafür verantwortlich machen. Und was noch viel wichtiger war: der Versuch konnte erst in tausend Jahren wiederholt werden.

Schließlich war Tassone zu einem Entschluß gekommen.

Er erledigte seine Aufgabe mit Hingabe und großer Schnelligkeit. Es gelang ihm sogar, eine Krise zu überwinden, die keiner von ihnen vorausgesehen hatte.

Das Kind war noch nicht tot und gab in dem Weidenkorb, in den man es gelegt hatte, einen wimmernden Laut von sich, als es auf den Wagen verfrachtet wurde.

Schnell zog Tassone den Weidenkorb wieder heraus und kehrte mit ihm in den Keller des Hospitals zurück, in dem er das tat, was getan werden mußte, damit aus dem kleinen Korb kein Schrei mehr zu hören war.

Es hatte ihn bis zu den Wurzeln seines Seins erschüttert. Doch er hatte es getan, und das war ausschlaggebend.

Die übrigen Dinge sind in jener Nacht im Hospital so normal verlaufen wie sonst auch: Ärzte und Krankenschwestern verrichteten ihre Routinearbeiten ohne die geringste Ahnung, was sich in ihrer Mitte ereignete. Denn das, was geschah, wurde mit Diskretion und Exaktheit erledigt, und keiner, vor allem nicht Thorn, würde jemals irgend etwas erfahren.


*


Als er nun im Patio saß und in die Nacht hinaussah, erkannte Thorn, daß der Pereford-Wald kein böses Omen mehr für ihn war. Er hatte nicht mehr das Gefühl, beobachtet zu werden aus dem anonymen Dunkel. Da draußen war es jetzt so friedlich. Grillengezirp und Fröschequaken – süße kleine Nachtmusik!

Wie angenehm und tröstlich, daß das Leben rings um ihn her nun normal verlief.

Seine Blicke streiften das Haus und wanderten hinauf zu Damiens Fenster. Es war erhellt von einem Licht auf dem Nachttisch, und Thorn stellte sich das Gesicht des Kindes in der ganzen Friedlichkeit seines Schlafes vor. Es würde gut sein, dieses Gesicht zu sehen. Damit konnte er diesen schrecklichen Tag beenden. Jeremy Thorn erhob sich, drehte die Lampe aus und ging zurück ins Haus.

Dort war es völlig dunkel, und Stille herrschte überall.

Thorn tastete sich bis zur Treppe vor, wo er nach einem Lichtschalter suchte. Doch er fand keinen, und so ging er mit vorsichtigen Schritten nach oben, bis er den Treppenabsatz erreicht hatte. Nie zuvor hatte er dieses Haus so dunkel erlebt, und er merkte, daß er – in seine Gedanken vertieft – sehr lange draußen gesessen haben mußte.

Er hörte den Atem der Schlafenden, und er ging ruhig weiter, während seine Hand sich an der Wand entlangtastete. Plötzlich berührte sie einen Lichtschalter, er drehte ihn um, doch er funktionierte nicht. So setzte er seinen Weg fort, bis er in den langen, rechteckigen Flur kam.

Hier mußte Damiens Zimmer sein, denn ein schwaches Licht kam unter der Tür hervor.

Doch plötzlich blieb er stehen. Was war das? Ein Geräusch? Es war wie ein Schnurren, wie ein Knurren. Ganz kurz nur, und schon wieder vorbei! Totenstille wieder ringsum.

Schon wollte er weitergehen, doch da kam das Geräusch wieder. Diesmal stärker, deutlicher … Jeremys Herz begann schneller zu schlagen.

Da plötzlich sah er sie – die Augen. Er konnte einen Schrei nicht unterdrücken, er stellte sich flach gegen die Wand. Jetzt erkannte er, daß der sonderbare Laut von einem Hund herrührte, der die Tür zu Damiens Zimmer bewachte.

Wie gebannt stand Thorn da. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Das Knurren wurde lauter, und diese Augen glühten immer heller …

»Ruhig … ruhig …«, stieß Thorn mit zitternder Stimme aus, und dann sah er, daß das Tier sich anspannte, als ob es auf ihn losgehen wolle.

»Nun aber ruhig«, sagte Mrs. Baylock, als sie aus ihrem Zimmer trat. »Dies ist der Herr des Hauses.«

Sofort schwieg der Hund, plötzlich war alles zu Ende. Mrs. Baylock berührte einen Lichtschalter, der Flur wurde hell. Atemlos stand Thorn da und starrte den Hund an.

»Was … ist das?« keuchte er.

»Sir?« fragte Mrs. Baylock plötzlich.

»Dieser Hund.«

»Ein Schäferhund, denke ich. Ist er nicht schön? Wir haben ihn im Wald gefunden.«

Der Hund lag jetzt friedlich zu ihren Füßen.

»Wer hat Ihnen die Erlaubnis dazu gegeben …?«

»Ich dachte, wir könnten einen guten Wachhund brauchen … der Junge liebt ihn übrigens abgöttisch.«

Noch immer stand Thorn steif an die Wand gelehnt. Er zitterte, und Mrs. Baylock konnte ihr Lächeln nicht verbergen.

»Er hat Sie erschreckt, was?«

»Ja.«

»Sehen Sie, wie gut er ist? Als Wachhund, meine ich. Glauben Sie mir, Sie werden dankbar sein, ihn hier zu haben, wenn Sie fort sind.«

»Wenn ich fort bin?« fragte Thorn.

»Ja, Ihre Reise! Fliegen Sie denn nicht nach Saudi-Arabien?«

»Woher wissen Sie etwas von Saudi-Arabien?« fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. »Hab’ nicht gewußt, daß das ein Geheimnis ist.«

»Ich habe es hier keinem gesagt.«

»Ich glaube, es war Mrs. Thorn, die es mir gesagt hat.«

Thorn nickte. Wieder betrachtete er den Hund.

»Er wird Ihnen keinen Ärger machen«, versicherte die Frau. »Wir füttern ihn nur mit Abfällen …«

»Ich will ihn hier nicht haben«, zischte Thorn.

Sie starrte ihn überrascht an. »Mögen Sie Hunde nicht?«

»Wenn ich einen Hund haben will, dann suche ich ihn mir selbst aus.«

»Aber der Junge ist ganz verrückt nach ihm, Sir, und ich glaube, er braucht ihn.«

»Ich werde entscheiden, ob und wann er einen Hund braucht.«

»Kinder können sich auf Tiere verlassen, Sir. Immer. In jeder Beziehung.«

Sie sah ihn an, als ob sie noch etwas auf dem Herzen hätte, das sie ihm sagen wollte.

»Wollen Sie mir noch etwas sagen?«

»Ich möchte nicht anmaßend sein, Sir.«

In ihrem Blick war zu lesen, daß sie nicht aufgeben würde, bis sie es gesagt hatte.

»Nun rücken Sie schon mit der Sprache heraus, Mrs. Baylock. Ich möchte es gern hören.«

»Ich sollte lieber nicht, Sir. Sie haben ohnehin genug Sorgen …«

»Ich habe gesagt, ich möchte es gern hören.«

»Na ja … bloß … daß das Kind ein bißchen einsam ist.«

»Warum sollte der Junge einsam sein?«

»Seine Mutter … äh … ich will damit sagen, sie akzeptiert ihn nicht.«

Thorn wich zurück. Die Bemerkung hatte ihn sichtlich getroffen.

»Sehen Sie?« sagte sie. »Ich hätte es lieber nicht sagen sollen.«

»Sie akzeptiert ihn nicht?«

»Sie scheint ihn nicht zu mögen. Und er fühlt das auch.«

Thorn war sprachlos. Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Manchmal denke ich, daß er nur mich hat«, fügte die Frau hinzu.

»Und ich denke, daß Sie sich irren!«

»Und jetzt hat er diesen Hund. Er liebt den Hund. Bitte, nehmen Sie ihm den Hund nicht weg.«

Thorn sah hinunter auf das gewaltige Tier und schüttelte dann den Kopf. »Ich mag diesen Hund nicht«, sagte er. »Morgen bringen Sie ihn ins Tierasyl!«

»Tierasyl?« keuchte sie. »Aber dort werden sie ihn töten!«

»Jedenfalls muß er hier raus. Morgen will ich ihn nicht mehr hier sehen.«

Mrs. Baylocks Züge verhärteten sich, und Thorn wandte sich ab. Frau und Hund beobachteten ihn, wie er den langen Flur hinunterging, und ihre Augen waren voller Haß.

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