Thorns Rede vor den Geschäftsleuten fand im Maxfair Hotel statt. Gegen 19 Uhr war der Versammlungsraum überfüllt. Er hatte seinen Leuten gesagt, er lege großen Wert auf eine Presseberichterstattung, und so war sein Vortrag in den Nachmittagszeitungen erwähnt worden – mit dem Erfolg, daß man jetzt Leute zurückweisen mußte. Denn es waren nicht nur die erwarteten Geschäftsleute da, sondern auch viele Reporter, sogar Publikum, dem man erlaubt hatte, sich hinter die Sitzreihen zu stellen. Bei früheren Veranstaltungen hatte die Kommunistische Partei Vertreter geschickt, die Thorn unterbrechen und stören sollten, und er hoffte, daß sie ihn an diesem Abend verschonten.
Als er zum Pult ging, entdeckte er im Publikum den Mann, dessen Kamera er vor der Botschaft beschädigt hatte. Der Fotograf lächelte ihm zu und hielt eine nagelneue Kamera hoch. Thorn erwiderte das Lächeln. Er freute sich über diese Geste, mit der etwas bereinigt wurde, das ihm neulich so überaus unangenehm gewesen war.
Er trat hinter das Pult und wartete, bis im großen Saal die Stille einkehrte. Dann begann er seine Rede. Er sprach von der ökonomischen Struktur unserer Erde und von der Bedeutung des Gemeinsamen Marktes. In jeder Gesellschaft, erklärte er, sogar in den Urzeiten, sei der Marktplatz der gemeinschaftliche Grund und Boden gewesen, der Stabilisator des Wohlstandes, der Schmelztiegel sonst unvergleichbarer Kulturen. Wenn jemand kaufen und der andere verkaufen wolle, dann seien das die Grundkomponenten des Friedens. Wenn jemand kaufen wolle und der andere weigere sich, ihm zu verkaufen, dann sei dies gewissermaßen der erste Schritt zum Krieg.
Er sprach von der gemeinsamen Verantwortung der Menschheit, von der Einsicht, daß wir alle Brüder seien, daß die Erde uns allen gehöre und daß die Rohstoffquellen allen zugänglich bleiben müßten.
»Wir sind aneinandergekettet«, fuhr er fort, indem er sich auf Henry Beston bezog. »im Netz des Lebens und der Zeit. Uns allen gehört die Herrlichkeit dieser Erde, uns allen ist die Verpflichtung zur Arbeit auferlegt.«
Es war eine leidenschaftliche Rede, und das Auditorium hörte gebannt zu. Thorn sprach sodann über politische Unruhen und ihren Einfluß auf die Wirtschaft. Er suchte die Gesichter der Araber unter den Zuhörern und sprach diese direkt an.
»Wir können sehr gut verstehen, daß diese Unruhe von den armen und unterentwickelten Ländern ausgeht«, sagte er. »aber wir dürfen auch niemals vergessen, daß Kulturen, die in allzuviel Luxus lebten, am Ende zerstört wurden.«
Jetzt erreichte Thorn seine beste Form, und Jennings, der Fotograf, richtete die Kamera auf sein Gesicht. Er machte einen Schnappschuß um den anderen.
»Es ist eine traurige und ironische Wahrheit«, fuhr Thorn fort. »die wir bis zu der Zeit des blühenden Ägypten verfolgen können, daß diejenigen, die im Wohlstand geboren wurden …«
»Dafür sollten Sie ja nun zuständig sein!« brüllte eine Stimme aus dem Hintergrund.
Thorn machte eine Pause. Er versuchte, im Halbdunkel des Saals den Rufer zu erkennen. Doch dieser schien sein Pulver vorerst verschossen zu haben, und Thorn fuhr fort.
» … wenn wir bis zu den Zeiten der Pharaonen zurückkehren, sehen wir, daß diejenigen, die Reichtum und Stellung …«
»Erzählen Sie uns doch was davon!« rief der Bursche wieder, und dieses Mal gab es Tumult unter den Zuhörern. Indes hatte Thorn den Unruhestifter entdeckt. Es war ein bärtiger Student in Blue jeans, wahrscheinlich ein Kommunist.«
»Was wissen Sie denn von Armut, Thorn?« rief er. »Sie haben doch in Ihrem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag gearbeitet!«
Die Zuhörer zischten mißbilligend, einige brüllten ihn an, doch Thorn hob die Hände, damit sie sich beruhigten.
»Der junge Mann hat wahrscheinlich etwas zu sagen. Wollen wir ihn uns doch einmal anhören.«
Der junge Mann trat vor, und Thorn wartete darauf, daß er weitersprach. Er würde ihn seine Phrasen dreschen lassen, bis ihm nichts mehr einfiel.
»Wenn Sie so daherreden, daß alle Menschen Anteil am Reichtum haben sollten, warum geben Sie denn dann nicht ein bißchen von Ihrem Reichtum her?« brüllte der Junge. »Wie viele Millionen haben Sie denn eigentlich? Wissen Sie, wie viele Menschen vor Hunger verrecken? Wissen Sie, was das Kleingeld, das Sie in der Tasche haben, für diese Leute bedeuten würde? Mit dem, was Sie Ihrem Chauffeur bezahlen, könnten Sie eine Familie in Indien einen ganzen Monat lang ernähren! Das Gras auf Ihrem Rasen könnte die Hälfte der Bevölkerung von Bangladesch ernähren! Mit dem Geld, das Sie für Partys ausgeben, könnten Sie hier im Süden Londons eine ganze Klinik bauen! Wenn Sie den Leuten erzählen, sie sollten auf ihren Reichtum verzichten, dann geben Sie doch ein Beispiel! Und stehen Sie nicht hier in diesem Vierhundert-Dollar-Anzug herum und erzählen Sie uns nicht das Märchen von der großen Armut.«
Es war ein bewegender Appell. Der Junge hatte ziemlich scharf geschossen. Ein leichter Applaus kam aus der Menge, und nun war Thorn an der Reihe, die richtige Antwort zu geben.
»Sind Sie fertig?« fragte Thorn.
»Was sind Sie wert, Thorn?« rief der Junge. »Soviel wie Rockefeller?«
»Nicht annähernd.«
»Als Rockefeller zum Vizepräsidenten nominiert wurde, da veröffentlichten die Zeitungen, daß er über dreihundert Millionen besitze! Und wissen Sie, was dieses ›über‹ war? Dreiunddreißig Millionen! Nicht wert, daß man es zählt, wie? Das war sein Notgroschen, während die Hälfte der Bevölkerung dieser Welt an Hunger stirbt. Ist das nicht irgendwie obszön? Braucht überhaupt jemand so viel Geld?«
»Ich bin nicht Mr. Rockefeller …«
»Zum Teufel, das sind Sie nicht!«
»Würden Sie mich jetzt bitte antworten lassen?«
»Ein Kind! Ein verhungerndes Kind! Tun Sie etwas für ein einziges verhungerndes Kind! Dann werden wir Ihnen glauben! Aber tun Sie es mit der Hand und nicht mit dem Mund, mit Ihrer Hand. Halten Sie diese Hand einem einzigen verhungernden Kind hin!«
»Vielleicht habe ich das getan«, erwiderte Thorn ruhig.
»Wo denn?« fragte der junge Mann. »Wer ist das Kind? Wen haben Sie gerettet, Thorn? Wen haben Sie zu retten versucht?«
»Viele von uns sind für Dinge verantwortlich, welche die gesamte Menschheit angehen.«
»Sie können die Welt nicht retten, Thorn. Erst müssen sie die Hand nach diesem hungernden Kind ausstrecken.«
Die Leute im Zuhörerraum hatten sich jetzt auf die Seite des Störenfrieds gestellt. Plötzlich reagierten sie mit anhaltendem Applaus.
»Ich bin Ihnen gegenüber im Nachteil«, sagte Thorn ruhig. »Sie stehen im Dunkeln und stoßen Beschimpfungen aus …«
»Dann macht doch alle Lampen an! Ich werde Sie auch im Hellen angreifen.«
Die Leute lachten, dann gingen die Lichter an. Die Reporter und Fotografen erhoben sich plötzlich und schauten über die Sitzreihen hinweg nach hinten. Jennings fluchte, weil er kein Teleobjektiv mitgebracht hatte. Er richtete den Apparat auf eine Gruppe, in deren Mittelpunkt der wütende junge Mann stand, und stellte ihn sodann ganz scharf ein.
Thorn verhielt sich absolut ruhig, doch als nun alle Lichter im Saal brannten, änderte auch er seine Haltung. Er kümmerte sich um den jungen Kontrahenten nicht mehr, weil er inzwischen ganz in der Nähe eine andere Gestalt entdeckt hatte. Es war ein kleiner Priester. Wie er so dastand, den Hut in der Hand: jeder mußte ihn sofort erkennen. Tassone! Thorn war ganz sicher, und er erstarrte.
»Was ist denn nun los, Thorn?« rief der Junge. »Haben Sie nichts zu sagen?«
Aber Thorn schien plötzlich jede Energie verloren zu haben, eine Welle der Angst stieg in ihm hoch, als er so dastand und nur noch diesen Schatten anstarrte. Unter ihm richtete Jennings seine Kamera auf Thorns ängstliche Augen und drückte unablässig auf den Auslöser.
»Na los, Thorn!« hörte er die Stimme des Zwischenrufers. »Sie können mich jetzt sehen – was haben Sie uns zu sagen?«
»Ich glaube …«, sagte Thorn zögernd. »… daß Ihr Standpunkt durchaus richtig ist. Wir alle sollten unseren Reichtum teilen. Ich werde versuchen, mehr zu tun.«
Damit war dem Jungen der Wind aus den Segeln genommen, und zugleich waren auch die Zuhörer besänftigt. Irgendeiner rief, man solle das Licht wieder ausschalten, und Thorn kehrte zum Pult zurück. Er versuchte sich zu konzentrieren, doch immer wieder wanderte sein Blick in die Dunkelheit. Ganz deutlich konnte er die Robe des Priesters sehen, der ihn verfolgte.
*
Kaum daheim angekommen, entwickelte Jennings sofort die Bilder. Wie so oft hatte ihn der Botschafter auch heute beeindruckt und zugleich verblüfft. Er konnte Angst genausogut erkennen wie eine Ratte Käse riechen konnte, und es war nackte Angst gewesen, die er durch den Sucher seiner Kamera gesehen hatte. Und keine namenlose Angst, denn ganz offensichtlich hatte Thorn irgend etwas oder irgend jemand in der Dunkelheit des Auditoriums entdeckt.
Leider war das Licht zu trübe gewesen und er hatte ein Weitwinkelobjektiv in der Kamera gehabt, doch Jennings hatte ein paar Aufnahmen auch von jener Ecke gemacht, wohin der Blick des Botschafters zuletzt unablässig gewandert war. Nun hoffte er, er würde nach der Entwicklung des Films etwas finden. Während er wartete, wurde ihm bewußt, daß er hungrig war. So machte er sich an die Lebensmittel, die er auf dem Heimweg gekauft hatte. Er nahm ein kleines gegrilltes Huhn und eine große Flasche Bier heraus und legte alles vor sich hin. Das kopflose Huhn sah so lustig aus, daß Jenning sich den Jux erlaubte, den Schmaus aufrecht in einen Behälter zu verpflanzen. Der Spaß hatte nur den einen Fehler, daß er seinem Urheber den Appetit verdarb. Also öffnete Haber Jennings eine Dose Sardinen, wobei ihm sein stummer Gast, das kopflose Brathuhn, zusehen mußte.
Der Wecker klingelte, und Jennings ging in die Dunkelkammer; er nahm den Film heraus, trocknete ihn schnell und begann alsbald mit den ersten Abzügen.
Er hätte beinahe gejauchzt, als er die Abzüge sah. Sofort schaltete er helles Licht ein und schob einen Abzug unter die eingebaute Lupe; vor lauter Freude schüttelte er den Kopf, als er die Bilder nacheinander prüfte. Es waren die Fotos, die er vom Hintergrund des Saals geschossen hatte. Obgleich er kein einziges Gesicht oder einen Körper in der Dunkelheit des Saales deutlich herausholen konnte, sah er, daß – wie eine graue Rauchwolke – dieses speergleiche Ding über den Köpfen der Leute schwebte.
»Mist!« murmelte Jennings, als er etwas anderes entdeckte. Es war ein dicker Mann, der eine Zigarre rauchte. Was über ihnen schwebte, konnte tatsächlich Rauch sein.
Er durchsuchte schnell seine Negative und sonderte die drei aus, die in Frage kamen, dann schob er sie in den Vergrößerungsapparat und wartete eine quälende Viertelstunde, bis die Bilder fertig waren.
Nein, Rauch war es nicht. Farbe und Form waren völlig anders, und das war auch die relative Distanz zur Kamera. Wäre es Zigarrenrauch, dann hätte der dicke Mann eine große Menge gegen die Decke blasen müssen, damit sich eine solche Wolke bildete. Ohne Zweifel hätte es die Leute um ihn herum gestört, aber sie schienen gar nicht auf den Rauch an der Decke und den Mann zu achten, denn sie starrten ungerührt geradeaus.
Das geisterhafte Etwas schien in einiger Entfernung über den Sitzreihen zu schweben, möglicherweise ganz hinten im Saal. Jennings nahm die Vergrößerung und legte sie unter seine Lupe, um jedes Detail genau betrachten zu können.
Plötzlich hob er die Arme und stieß einen wilden Freudenschrei aus: Er hatte die Kutte eines Priesters entdeckt. Da war er wieder, der kleine Priester, und nun war Jennings absolut sicher, daß dieser Mann irgend etwas mit Thorn vorhatte.
»Seht ihn bloß an, den Scheißkerl!« rief er.
Und als ob er seine Entdeckung feiern müßte, kehrte er zum Tisch zurück, riß die Flügel seines kopflosen Beobachters ab und verzehrte ihn bis auf die Knochen.
»Ich werde diesen Scheißkerl finden!« lachte er. »Ich werde ihn so lange jagen, bis ich ihn kriege!«
*
Am folgenden Morgen verstaute er ein Bild des Priesters – es war eine der Aufnahmen, die er mit dem Soldaten vor dem Botschaftsgebäude gemacht hatte – in seiner Brieftasche. Er besuchte verschiedene Kirchen, schließlich auch Pfarrhäuser. Doch niemand erkannte den Mann auf dem Foto. Man erklärte Jennings, daß, wenn der Priester in diesem Gebiet beschäftigt sei, dann müsse man ihn eigentlich kennen. Er kam also nicht aus der City. Ein völlig fremder Mann? Das bedeutete, daß sein Job schwieriger wurde. Er kam auf den Gedanken, Scotland Yard ins Vertrauen zu ziehen. Dank seiner guten Beziehungen überließ man ihm für eine Weile das Verbrecheralbum, aber er fand natürlich nichts. Es gab nur eines, das ihm noch zu tun übrigblieb.
Er hatte zuerst den Priester gesehen, als dieser aus der Botschaft trat. Wahrscheinlich war er dort also bekannt.
Es war nicht leicht, in die Botschaft hineinzukommen. Die Wachen prüften lange und genau seine Ausweise, aber sie wollten Jennings nicht zum Pförtner lassen.
»Ich möchte den Botschafter sprechen«, erklärte Jennings. »Er sagte, er wolle mir die kaputte Kamera ersetzen.«
Sie riefen oben an, und zu Jennings Überraschung sagten sie ihm, er solle zum Telefon in der Lobby gehen, man würde ihn vom Büro des Botschafters aus anrufen.
Jennings tat, was man ihm gesagt hatte, und einen Augenblick später sprach er mit Thorns Sekretärin, die die Summe wissen wollte, um die es sich handele und wohin man den Scheck schicken könne.
»Ich hätte ihm das gern persönlich erklärt«, sagte Jennings. »Ich möchte ihm zeigen, wofür er sein Geld ausgibt.«
Sie erwiderte, das sei unmöglich, denn der Botschafter befinde sich in einer Besprechung. Jennings beschloß also, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Um Ihnen die Wahrheit zu sagen – ich dachte, er könnte mir vielleicht bei einem persönlichen Problem behilflich sein. Aber vielleicht könnten auch Sie mir helfen. Ich suche einen Priester. Er ist ein Verwandter von mir. Soviel ich weiß, hatte er etwas in der Botschaft zu erledigen, und ich dachte, vielleicht hätte ihn hier jemand gesehen und könnte mir behilflich sein.«
Es war eine ziemlich seltsame Bitte, und die Sekretärin zögerte eine Weile.
»Es ist ein sehr kleiner Mann«, fügte Jennings hinzu.
»Ist er Italiener?« fragte sie.
»Ich glaube, er hat einige Zeit in Italien verbracht«, erwiderte Jennings. Er war gespannt, was sie nun antworten würde.
»Heißt er vielleicht Tassone?« fragte die Sekretärin.
»Nun, ehrlich gesagt, ich bin nicht ganz sicher. Sehen Sie, ich versuche die Spur eines vermißten Verwandten zu verfolgen. Der Bruder meiner Mutter wurde als Kind von ihr getrennt und er oder irgendeine Behörde änderte seinen Nachnamen. Jetzt ist meine Mutter sehr krank und sie möchte so gern, daß ich ihn finde. Wir kennen seinen Nachnamen nicht, wir haben nur eine vage Beschreibung von ihm. So wissen wir zum Beispiel, daß er genauso klein ist wie meine Mutter, außerdem daß er Priester geworden ist, und ein Freund von mir sah, wie ein Priester vor einer Woche oder so die Botschaft verließ und dieser Freund meinte, der Priester habe genauso ausgesehen wie meine Mutter.«
»Es war ein Priester hier«, antwortete die Sekretärin. »Er sagte, er komme aus Rom, und ich glaube, sein Name ist Tassone.«
»Wissen Sie vielleicht, wo er wohnt?«
»Nein.«
»Hatte er geschäftlich mit dem Botschafter zu tun?«
»Ich denke schon.«
»Vielleicht weiß der Botschafter, wo er wohnt.«
»Das … das glaube ich nicht.«
»Wäre es möglich, ihn danach zu fragen?«
»Nun ja, vielleicht könnte ich das tun.«
»Wann könnten Sie das tun?«
»Später. Ich kann es nicht genau sagen.«
»Hören Sie, meine Mutter ist sehr krank. Sie ist jetzt im Hospital, und ich fürchte, sie … sie wird nicht mehr lange am Leben bleiben.«
In Thorns Büro summte die Gegensprechanlage. Die Stimme einer Sekretärin fragte ihn, ob er wisse, wie man Kontakt mit dem Priester aufnehmen könnte, der ihn vor etwa zwei Wochen besucht hatte.
Thorn schob den Brief, den er unterschreiben wollte, schnell beiseite. Plötzlich war ihm kalt.
»Wer fragt danach?«
»Ein Mann, und er sagt, Sie hätten seine Kamera kaputt gemacht. Der Priester ist ein Verwandter von ihm. Oder er meint es wenigstens.«
Nach einer kurzen Pause sagte Thorn: »Schicken Sie ihn herauf!«
Jennings fand den Weg zu Thorns Büro ohne Mühe. Sehr modern eingerichtet, war es das Büro eines Mannes, den der Präsident für eine Weile hierhergeschickt hatte. Das Zimmer lag am Ende eines langen Korridors, an dessen Wänden die Porträts aller bisherigen amerikanischen Botschafter in London hingen.
Als Jennings den Flur hinunterging, entdeckte er, daß auch John Quincy Adams und James Monroe hier Botschafter gewesen waren, ehe sie Präsident wurden. Vielleicht war diese Position hier in London ein erster Schritt dazu. Sieh da, sieh da, dachte er, dem alten Thorn steht noch was Größeres ins Haus.
»Kommen Sie rein«, lächelte Thorn. »Nehmen Sie Platz.«
»Es tut mir leid, wenn ich so …«
»Schon gut.«
Der Botschafter winkte Jennings zu sich. Er trat ein und setzte sich auf einen Stuhl. Es war das erstemal, daß er in all den Jahren, da er als Fotograf hinter bestimmten Leuten her war, persönlichen Kontakt mit seinem Opfer aufnahm. So leicht es gewesen war, hier hereinzukommen – nun kam das Problem. Sein Herz begann schneller zu klopfen, er zitterte. Es war genau das Gefühl, das er bei der Entwicklung seines ersten Fotos gehabt hatte. Die Erregung war so groß, daß sie fast einer sexuellen Erregung gleichkam.
»Ich habe mich wegen der Kamera entschuldigen wollen«, sagte Thorn.
»Es war sowieso eine alte.«
»Ich möchte sie Ihnen ersetzen.«
»Nein, nein …«
»O doch, ich möchte es wirklich gern tun. Aber ich möchte es natürlich Ihnen überlassen.«
Jennings zuckte mit den Schultern, dann nickte er.
»Warum sagen Sie mir nicht ganz einfach, welche Kamera die beste ist, und dann lasse ich eine für Sie besorgen.«
»Na ja, das ist sehr großzügig …«
»Sagen Sie mir, was die beste ist.«
»Es ist eine deutsche. Pentaflex. Dreihundert.«
»Erledigt. Hinterlassen Sie bei meiner Sekretärin, wo wir Sie finden können.«
Wieder nickte Jennings, und einen Augenblick sahen sich die beiden Männer schweigend an. Thorn betrachtete ihn genau, er sah alles, von den ungleichen Socken bis zu den Haarsträhnen, die über den Kragen seines Jacketts hingen. Jennings mochte eine solche Art der Prüfung. Er wußte, daß sein Aussehen die Leute abstieß. Auf eine perverse Art erregte ihn dies.
»Ich hab’ Sie schon oft gesehen«, sagte Thorn.
»Sicher. Ich versuche, überall zu sein.«
»Sie sind sehr fleißig.«
»Besten Dank.«
Thorn ging um seinen Schreibtisch herum zu einem kleinen Schränkchen. Dort entkorkte er eine Flasche Brandy. Jennings sah zu, wie er den Kognak in ein Glas füllte. Der Botschafter hielt es ihm hin.
»Mit dem jungen Kerl sind Sie aber gestern abend ganz schön fertiggeworden«, sagte Jennings.
»Meinen Sie?«
»O ja.«
»Ich bin mir nicht so ganz sicher.« Sie schlugen nur die Zeit tot, beide wußte es. Jeder wartete darauf, daß der andere endlich zur Sache kam.
»Ich habe mich auf seine Seite geschlagen«, fügte Thorn hinzu. »Warten Sie mal ab, bald wird mich die Presse einen Kommunisten nennen.«
»Oh … wir kennen die Presse.«
»Ja.«
»Die tun alles gegen ein gutes Zeilenhonorar.«
»Stimmt.«
Sie tranken ihren Brandy, dann ging Thorn plötzlich zum Fenster und schaute hinaus.
»Sie fahnden nach einem Verwandten?«
»Ja, Sir.«
»Er ist ein Priester namens Tassone?«
»Er ist Priester, aber wie er heißt, weiß ich nicht. Er ist der Bruder meiner Mutter. Sie wurden voneinander getrennt, als sie Kinder waren.«
Thorn sah Jennings an, und Jennings spürte seine Enttäuschung.
»Sie kennen ihn also im Grunde genommen nicht«, sagte der Botschafter.
»Nein, Sir. Ich versuche ihn zu finden.«
Thorn runzelte die Stirn, dann ließ er sich schwer in seinen Sessel fallen.
»Wenn ich fragen dürfte …«, sagte Jennings vorsichtig. »Vielleicht, wenn ich wüßte, was er geschäftlich mit Ihnen zu tun hatte …«
»Es ging um ein Hospital. Er wollte … eine Spende.«
»Was für ein Hospital?«
»Oh, in Rom, glaube ich. Ich bin nicht so ganz sicher.«
»Hat er Ihnen seine Adresse hinterlassen?«
»Nein. Und, ganz offen gesagt, ich fand das reichlich dumm von ihm. Ich hatte versprochen, ihm einen Scheck zu schicken und nun weiß ich nicht, wohin ich ihn schicken soll.«
Jennings nickte. »Dann sitzen wir, vermute ich, im selben Boot.«
»Ja, das ist richtig«, entgegnete Thorn.
»Er kam einfach und ging wieder, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Sie haben ihn nie wiedergesehen?«
Thorn preßte die Zähne aufeinander, und Jennings sah es. Nun war es klar, daß der Botschafter irgend etwas zu verbergen hatte.
»Nie wieder.«
»Ich dachte, er könnte … vielleicht … vielleicht könnte er bei einem Ihrer Vorträge anwesend gewesen sein.«
Ihre Blicke begegneten sich. Thorn wußte, daß er nun mitspielen mußte.
»Wie war doch Ihr Name?« fragte Thorn.
»Jennings. Haber Jennings.«
»Mr. Jennings …«
»Haber …«
»Haber …«
Thorn betrachtete das Gesicht des Fotografen, dann glitt sein Blick an ihm vorbei, und er sah wieder zum Fenster hinaus.
»Sir?«
»Ich habe großes Interesse daran, den Mann zu finden. Den Priester, der hier war. Ich fürchte, ich war ziemlich kurz angebunden und ich möchte gern Abbitte leisten.«
»In welcher Weise waren Sie kurz angebunden?«
»Ich habe ihn ziemlich rüde entlassen. Eigentlich habe ich gar nicht richtig gehört, was er mir zu sagen hatte.«
»Ich bin sicher, daß er daran gewöhnt ist. Wenn Leute Sie um Spenden angehen …«
»Ich möchte ihn zu gern finden. Es ist wichtig für mich.«
Nach dem Gesichtsausdruck Thorns war es bestimmt wichtig für ihn. Jennings wußte, daß er da in irgendeine Sache hineingeschlittert war, doch er hatte keine Ahnung, was es sein könnte.
»Wenn ich ihn entdecke, melde ich mich sofort«, sagte er.
»Würden Sie das bitte tun?«
»Natürlich.«
Thorn nickte ein paarmal und Jennings verstand. Er stand auf, ging zu Thorn und schüttelte ihm die Hand.
»Sie sehen sehr besorgt aus, Herr Botschafter. Ich hoffe nur, die Welt geht nicht gleich jetzt in die Luft.«
»O nein«, erwiderte Thorn lächelnd. »Keine Sorge.«
»Ich bin einer Ihrer Bewunderer. Darum besuche ich möglichst alle Veranstaltungen, bei denen Sie zugegen sind.«
»Vielen Dank.«
Jennings ging auf die Tür zu, doch dann hielt ihn Thorn zurück.
»Mr. Jennings?«
»Sir?«
»Ich wollte nur noch fragen … Sie haben den Priester persönlich eigentlich nie gesehen?«
»Nein.«
»Sie haben da eine Bemerkung gemacht, daß er bei einem meiner Vorträge gewesen sei. Ich dachte vielleicht …«
»Bedaure – gesehen hab’ ich ihn nicht …«
»Na schön. Macht nichts.«
Es entstand eine Verlegenheitspause, dann ging Jennings wieder zur Tür.
»Gibt es vielleicht mal eine Möglichkeit, ein paar Bilder von Ihnen zu machen? Ich meine, zu Hause? Mit Ihrer Familie?«
»Ach, das ist im Moment nicht möglich. Leider …«
»Vielleicht rufe ich Sie mal in ein paar Wochen an.«
»Tun Sie das.«
»Sie werden von mir hören.«
Er ging, und Thorn sah ihm nach. Es war klar, daß der Mann etwas wußte, über das er nicht sprechen wollte. Aber was konnte er möglicherweise von dem Priester wissen?
War es nur ein Zufall, daß ein Mann, mit dem er, Thorn, Kontakt aufgenommen hatte, den Priester suchte, der ihn verfolgte und jagte? Doch so sehr Thorn auch darüber nachdachte – er konnte sich keinen Reim darauf machen. Wie so viele andere Ereignisse in der letzten Zeit, schien auch das wieder nur ein Zufall zu sein, dennoch hatte er das Gefühl, daß in diesen Zufällen irgend etwas Gesetzmäßiges steckte.