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Für Edgardo Emilio Tassone konnte dieses Leben auf Erden nicht schlimmer sein als das im Fegefeuer. Aus diesem Grunde hatte er, wie so viele andere, bei dem Hexensabbat in Rom mitgemacht. Tassone war portugiesischer Abstammung, Sohn eines Fischers, der auf den großen Bänken vor Neufundland umgekommen war, während die Mannschaft nach Kabeljau fischte. Wenn er an seine Kindheit zurückdachte, stieg ihm der Geruch von Fisch in die Nase. Wie ein Krankheitsgeruch hatte er an seiner Mutter gehangen, und in der Tat war sie an einem Parasiten gestorben, als sie rohen Fisch gegessen hatte, weil sie zu schwach gewesen war, um Holz zum Feuern zu holen.

Mit acht Jahren war Tassone Waise, und man brachte ihn in ein Kloster. Dort, von den Mönchen so lange geschlagen, bis er seine Sünden bekannte, wurde er ›errettet‹. Er hatte sich Christus hingegeben, als er zehn Jahre alt war, aber sein Rücken trug immer noch die Narben von unzähligen Schlägen, denn es hatte lange gedauert, bis ER ihm endlich leibhaftig erschienen war.

So hatte man die Gottesfurcht buchstäblich in ihn hineingeprügelt, und er weihte sein Leben der Kirche, blieb acht Jahre im Seminar und studierte Tag und Nacht die Bibel. Er las von Gottes Liebe und Gottes Zorn, und im Alter von fünfundzwanzig Jahren wagte er den Schritt in die Welt hinaus, um andere vor dem Höllenfeuer zu erretten.

Er wurde Missionar. Er predigte zuerst in Spanien, dann in Marokko das Wort des Herrn. Von Marokko aus ging er in die Südostecke Afrikas, um dort Heiden zu bekehren, und er bekehrte sie auf die gleiche Weise, wie man ihn bekehrt hatte. Er schlug sie, wie er geschlagen worden war, und er entdeckte, daß er in der religiösen Ekstase ein sexuelles Lustgefühl empfand.

Unter den jungen afrikanischen Bekehrten war einer, der zu ihm kam, um ihn anzubeten, und sie teilten die fleischliche Lust miteinander, indem sie die einfachen Gesetze von Mensch und Gott befleckten.

Der Name des Jungen war Tobu. Er war ein Angehöriger des Kikuyu-Stammes.

Als man ihn mit Tassone erwischte, wurde der Junge in einer Zeremonie verstümmelt, sein Hodensack geöffnet und die Testikel entfernt; der junge Mann wurde gezwungen, sie zu essen, während seine Stammesbrüder zusahen. Tassone selbst war es gerade noch gelungen zu entkommen, aber im Somaliland erfuhr er, daß die Kikuyus einen Mönch der Franziskaner ergriffen und lebend an seiner Stelle gehäutet hatten. Nach der Häutung mußte er laufen, bis er tot umfiel.

Tassone war nach Aden und schließlich nach Djakarta geflohen, aber er spürte Gottes Zorn auf sich, wohin er auch immer ging. Ständig schien der Tod um ihn zu sein. Er traf diejenigen, in deren Gesellschaft oder Begleitung er sich befand, und er fürchtete jeden Augenblick, daß er nun an der Reihe sein müsse. Aus den biblischen Texten wußte er sehr gut, was der Zorn Gottes bedeutete. Er reiste schnell und suchte Schutz vor dem, was, wie er wußte, unvermeidlich kommen mußte. In Nairobi lernte er Pater Spilletto kennen und gestand ihm seine Sünden; Spilletto versprach ihm Schutz und Hilfe, und er nahm ihn sogar mit nach Rom. Und dort, in den Gewölben Roms, wurde er mit dem Dogma der Hölle vertraut gemacht. Die Satanisten hatten sich hier eine Freistätte geschaffen, in der das Urteil Gottes nichts galt. Sie beschäftigten sich mit den Vergnügungen, die ihnen ihr Körper ermöglichte, und Tassone teilte seinen Körper mit anderen, denen dieses verworfene Spiel Vergnügen bereitete. So waren sie eine Gemeinschaft der Ausgestoßenen, die einmütig andere ausstießen. Sie trieben Gotteslästerung und Teufelsanbetung in einem.

In ihrem Geheimbund befanden sich in der Mehrzahl Arbeiter, aber auch einige sehr angesehene Männer. In der Öffentlichkeit führten alle ein respektables Leben, und dies war ihre wertvollste Waffe gegen diejenigen, die Gott anbeteten.

Es war ihre Mission, Furcht und Verwirrung zu stiften, die Männer gegeneinander aufzuhetzen, bis die Zeit des Unheiligen, des Satans, gekommen war. Kleine Gruppen, die Task Forces genannt wurden, versuchten wie Terroristen Chaos zu schaffen, wo es nur möglich war. Die Satanisten Roms zogen Vorteile aus den Unruhen in Irland, indem sie die Katholiken und die Protestanten aufeinander hetzten und das Feuer des Religionskrieges schürten. Zwei irische Nonnen, die in dem Geheimbund als B’aalock und B’aalam bekannt waren, hatten sich als Bombenleger in Irland betätigt, aber eine von ihnen, B’aalam, war dann durch eigene Hand umgekommen. Man fand ihre Leiche nach einer Explosion auf dem Marktplatz, schaffte die sterbliche Hülle nach Italien und bestattete sie in dem heiligen Boden von Cerveteri, dem alten etruskischen Friedhof, der heute Cimitero di Sant’ Angelo heißt und sich in den Außenbezirken Roms befindet.

Für ihre Ergebenheit dem Satan gegenüber verehrte man B’aalam, indem man sie unter dem Schrein Techulcas, einem etruskischen Teufel-Gott, bestattete. Weit über fünftausend Mitglieder des Bundes waren bei dieser Bestattung anwesend.

Tassone war von der Zeremonie so beeindruckt, daß er alsbald im Geheimbund politisch aktiv wurde. Er versuchte, Ruhm zu erlangen und sich des Vertrauens Spillettos würdig zu erweisen.

Die erste Demonstration dieses Vertrauens geschah im Jahre 1968, als Tassone mit einem anderen Priester von Spilletto nach Südostasien geschickt wurde. Als es ihm dort gelungen war, in dem von den Kommunisten besetzten Teil Kambodschas eine Schar Untergrundkämpfer zu organisieren, ging er mit ihnen nach Südvietnam, um dort den bereits geschlossenen Waffenstillstand zu brechen. Die Nordvietnamesen beschuldigten ihre Brüder aus dem Süden, die Südvietnamesen diejenigen aus Norden, und ein paar Tage, nachdem Tassone aufgetaucht war, schien der so schwer erkämpfte Friede erschüttert.

Der Bund glaubte, durch solche Aktivitäten könnten die Kommunisten ganz Südostasien übernehmen: Kambodscha, Laos, Vietnam, dann Thailand und sogar die Philippinen. Man hoffte, daß bereits in wenigen Jahren die bloße Erwähnung des Wortes ›Gott‹ in der ganzen südöstlichen Hemisphäre als Ketzerei angesehen werden würde.

Die Satanisten feierten ihren Erfolg in Rom, und als Tassone heimgekehrt war, wurde er zu einem Führer seines Kultes. Die Feuer der Unruhe loderten in Afrika, und da Tassone dieses Land gut kannte, schickte ihn Spilletto dorthin, um jede irgendwie revolutionäre Bewegung zu unterstützen. Einer von ihnen brachte sogar Idi Amin, den geistesgestörten afrikanischen Despoten, an die Macht.

Obwohl Amin diesem Tassone, weil er ein Weißer war, nicht über den Weg traute, blieb er so lange dort, bis er es geschafft hatte, daß Amin Präsident der Allafrikanischen Bewegung geworden war.

Es waren größtenteils Tassones Erfolge, die bewirkten, daß die Satanisten in der ganzen Welt auf den Bund in Rom schauten. Tassone hatte schließlich eine Vormachtstellung inne, womit er die politische Richtung und die spiritualen Kräfte lenkte. Geld begann nach Rom zu fließen, und die Stärke der dortigen Satanisten wuchs immer mehr. Rom selbst war eine Stadt, von der ungeheure Wirkungen ausgingen. Es war der Sitz des Katholizismus, der Sitz des westlichen Kommunismus, nun war es auch der Mittelpunkt des Satanismus. Und die Ausstrahlungen über die ganze Welt waren unübersehbar geworden.

Es war zu dieser Zeit, auf der Höhe der satanischen Stärke und der Unruhe in aller Welt, daß die biblischen Symbole ihre Wirkung einzubüßen begannen, daß die inneren Kirchenkämpfe die Menschheit verunsicherten, und so war es eine unausbleibliche Folge, daß sich die Geschicke der Menschheit plötzlich und auf drastische Weise veränderten.

Denn zum dritten Mal seit der Schaffung des Planeten wollte der Böse die Macht auf dieser Erde übernehmen. Die Erfolge seiner Anhänger waren niemals größer gewesen als gerade jetzt. Zweimal war der Versuch gemacht worden, doch die Wachhunde Christi hatten das Untier entdeckt und getötet, ehe es seine Macht entfalten konnte. Diesmal würde es kein Versagen geben. Das Konzept war richtig, der Plan bis zur Perfektion ausgearbeitet.

Es war kein Zufall, daß Spilletto den kleinen, tüchtigen Tassone auserwählte, einer der drei zu sein, der den ungeheuerlichen Plan durchführen sollte. Tassone war loyal, er folgte allen Befehlen ohne das geringste Zögern, ohne Widerspruch. Aus diesem Grunde sollte er die brutalste Rolle übernehmen: die Ermordung jenes Unschuldigen, der in diese Sache verstrickt werden mußte.

Spilletto selbst würde die Ersatzfamilie auswählen, und er sollte auch die Übergabe des Kindes ausführen. Schwester Maria Teresa (die jetzt als Mrs. Baylock auftrat) sollte die Schwängerung überwachen und bei der Geburt behilflich sein. Und Tassone schließlich wurde befohlen, all das Grausige beiseite zu schaffen, das bei diesem Vorgang übrigblieb und in geheiligtem Boden begraben werden mußte.

Mit großer Freude übernahm Tassone seine Aufgabe, denn ihm war klar, daß sein Ruhm nun die Jahrtausende überdauern würde. Man würde sich an ihn erinnern und ihn feiern. Tassone, einst eine ausgestoßene Waise, war jetzt einer der Auserwählten, dem erlaubt wurde, mit dem Teufel selbst in Verbindung zu treten. Doch in den Tagen vor dem Ereignis geschah etwas Seltsames mit ihm: seine körperliche Kraft begann nachzulassen. Die Narben auf dem Rücken begannen wieder zu schmerzen und sie wurden mit jeder zu Ende gehenden Nacht stärker, da er wach im Bett gelegen und verzweifelt Schlaf gesucht hatte. Nächtelang warf er sich im Bett hin und her, und wenn er tatsächlich eine Weile einschlief, dann kamen die Alpträume, die ihn aus dem Schlummer rissen. War er wach, tauchten Fantasiegebilde vor seinen inneren Augen auf, mit denen er sich herumschlug. Oh, es waren grausame Nächte … grausame Nächte.

Er sah Tobu wieder, den afrikanischen Jungen, der ihn anflehte, der ihn um Hilfe bat. Und er sah den hautlosen Körper eines Mannes … die Augen hingen aus dem Fleisch heraus, ein lippenloser Mund stieß Schreie aus, doch es ward keine Gnade gewährt.

Tassone sah sich selbst als jungen Burschen, der am Strand sitzend auf die Heimkehr des Vaters wartete; dann sah er seine Mutter auf dem Totenbett, die ihn um Verzeihung bat, weil sie starb und weil sie ihn so jung einem unbekannten Schicksal überlassen mußte.

In jener Nacht erwachte er weinend, als ob er selbst seine Mutter wäre, die um Verzeihung bat, und wenn er wieder in die Abgründe des Schlafes tauchte, dann erschien die Gestalt Christi neben ihm und versicherte, daß ihm vergeben sei. Christus in seiner ganzen jugendlichen Schönheit – der schlanke Körper voller Narben – kniete neben Tassone und sagte ihm, er sei immer noch in der Herrlichkeit des Himmels willkommen. Bereuen … er müsse nur bereuen.

Diese Alpträume hatten Tassone erschüttert, und Spilletto spürte den Kampf im Innern des Heimgesuchten. Er sprach lange und eindringlich mit ihm, um die Gründe herauszubekommen. Doch Tassone wußte, daß sein Leben in Gefahr war, wenn er Spilletto nur den Hauch eines Zweifels zeigte, und er versicherte ihm, daß er weiterhin bereit sei, das zu tun, was getan werden müsse. Es seien nur die Schmerzen in seinem Rücken, die ihn quälten, sagte er, und Spilletto gab ihm Pillen, die Erleichterung bringen sollten. Von da an bis es geschehen sollte, verbrachte Tassone die Tage und Nächte in einem von Drogen hervorgerufenen Dämmerzustand, und die quälenden Visionen, die ihn gejagt hatten, hörten auf. Christus erschien ihm nicht mehr.

Dann kam die Nacht des sechsten Juni. Der sechste Monat, der sechste Tag, die sechste Stunde. Ein Tag voller Ereignisse, die Tassone bis zum Ende seiner Tage verfolgen würden. Die Ersatzmutter hatte zu heulen begonnen. Schwester Maria Teresa drückte ihr mit Äther getränkte Watte auf die Nase, als die Nachkommenschaft von der Gebärmutter getrennt wurde. Tassone beendete die Arbeit für sie mit dem Stein, den ihm Spilletto gegeben hatte. Er zermalmte den Kopf des Tieres, und diese Tötung bereitete ihn darauf vor, was mit dem menschlichen Kind getan werden mußte.

Aber als das neugeborene Kind zu ihm heruntergebracht wurde, zögerte er, denn es war ein Kind von ungewöhnlicher Schönheit. Er betrachtete beide, die nun Seite an Seite lagen; das blutbedeckte, haarige, und das zarte, weiße, schöne, dessen Augen offen waren und das mit absolutem Vertrauen in seine Augen sah. Er wußte, daß es getan werden mußte, und er tat es auch, aber er tat es nicht gut genug. Noch einmal mußte er es versuchen. Er schluchzte, als er den Deckel des Weidenkorbs öffnete, um das Kind der Thorns noch einmal zu schlagen. Einen Augenblick lang hatte er den Impuls, das Kind in die Arme zu nehmen und mit ihm davonzulaufen. Vielleicht konnte er einen sicheren Platz finden. Doch dann sah er, daß der Schädel des Babys bereits gespalten war, daß es niemals zu einem erwachsenen Menschen werden könne, also schlug er mit dem Stein noch einmal fest zu. Und noch einmal. Und noch einmal. Bis alles still war und der kleine Körper stumm und verstümmelt dalag.

Niemand sah in der Dunkelheit jener Nacht die Tränen, die über Tassones Gesicht strömten; von jener Nacht an sah ihn auch niemals jemand in der Versammlungsstätte oder in der Bruderschaft wieder.

Am frühen Morgen floh er aus Rom. Vier Jahre lang lebte er im Verborgenen. Er ging nach Belgien, wo er unter den Armen arbeitete, dann gelang es ihm, in einer Klinik angestellt zu werden, wo er Zugang zu den Drogen hatte, die er brauchte – nicht nur, um den Schmerz in seinem Rücken zu stillen, sondern auch, um nicht mehr daran denken zu müssen, was er in Rom getan.

Er lebte allein und sprach mit keinem. Mit der Zeit begann er zu glauben, daß die Schmerzen im Rücken nicht von den Narben stammen konnten. Und als er schließlich in ein Hospital ging, um sich untersuchen zu lassen, wurde das schnell bestätigt. Ein Tumor verursachte die Schmerzen in seinem Rücken; es war eine bösartige, inoperable Geschwulst, die auf sein Rückgrat drückte.

Jetzt war es für Tassone Zeit, sich auf das Sterben vorzubereiten, und jetzt trieb es ihn auch danach, die Vergebung Gottes zu suchen. Christus war die Güte. Christus würde ihm vergeben. Er würde sich dieser Vergebung würdig erweisen, indem er versuchte, alles, was er getan, ungeschehen zu machen.

Er nahm die ganze Kraft zusammen, die ihm noch geblieben war, und reiste nach Israel. In seinem armseligen Gepäck befanden sich acht Violen Morphium, um die grausamen Schmerzen in seinem Rücken zu stillen. Es war ein Mann namens Bugenhagen, der im Jahre 1092 die erste Nachkommenschaft des Satans entdeckte und über die Möglichkeiten berichtete, diesen Abkömmling zu töten. Im Jahre 1710 war es wieder ein Bugenhagen, der das zweite Auftauchen Satans in dieser Welt herausfand und den Abkömmling so zurichtete, daß er keine irdische Macht mehr ausüben konnte. Sie waren religiöse Eiferer, diese ›Wachhunde Christa; ihre Mission war es, den Unheiligen davon abzuhalten, Besitz von der Erde zu ergreifen.

Sieben Monate brauchte Tassone, um den letzten der Bugenhagens zu finden, denn er lebte in der Dunkelheit einer unterirdischen Festung. Hier wartete er, genau wie Tassone, auf den Tod, gequält von den Plagen des Alters, verstört durch das Wissen, daß er versagt hatte. Er, wie so viele andere, hatte den Zeitpunkt gekannt, doch er war der Tatsache gegenüber hilflos, daß der Sohn des Satans zur Welt gebracht wurde.

Tassone verbrachte nur sechs Stunden mit dem alten Mann. Er erzählte ihm die ganze Geschichte, vor allem seine Rolle bei der Geburt. Voller Verzweiflung hörte ihm Bugenhagen zu, als der Priester ihn um Hilfe bat. Aber er mußte sie ihm verweigern. Er war in seiner Festung eingekerkert und unfähig, die Flucht nach draußen zu wagen. Man müsse, sagte er, jemanden zu ihm bringen, der in der Welt des Kindes lebe.

Obwohl Tassone befürchtete, daß seine Zeit nicht mehr ausreichte, machte er sich auf den Weg nach London, um Thorn zu suchen und ihn zu überzeugen, daß etwas getan werden müsse. Er betete, daß Gott mit ihm sei, doch er fürchtete, daß der Satan ihm zuvorkomme.

Aber er wußte, wie der Teufel arbeitet. Und so tat er alles, damit er am Leben blieb, bis er Thorn finden und ihm seine Geschichte erzählen konnte. Erreichte er das, dann würde man ihm Absolution erteilen und ihn in das himmlische Reich aufnehmen.

Zuerst mietete er sich ein Ein-Zimmer-Flat in Soho und machte eine Festung daraus, die so sicher war wie eine Kirche. Seine Waffe war die Heilige Schrift. Jeden Zentimeter der Wand beklebte er damit, sogar die Fenster. Immer wieder riß er Seiten aus der Bibel. Siebzig Bibeln benötigte er dazu, bis alles getan war. Überall hingen Kreuze. Niemals wagte er es, ohne sein Kruzifix auszugehen, das er mit den Partikeln eines zerbrochenen Spiegels beklebt hatte, damit es das Sonnenlicht reflektierte, wenn er das Zeichen Gottes umgehängt hatte.

Doch er entdeckte, daß es schwierig war, Thorn zu erreichen, und der Schmerz in seinem Rücken wurde immer unerträglicher. Die einzige Begegnung mit Thorn hatte zu nichts geführt. Er hatte den Botschafter brüskiert und war gewissermaßen gefeuert worden.

Nun folgte er ihm überall hin, und seine Verzweiflung wuchs. Unlängst beobachtete er den Botschafter, als dieser inmitten einer Gruppe von Würdenträgern den Grundstein zu einem Hause im Armenviertel von Chelsea legte.

»Ich bin stolz darauf, dieses einmalige Projekt fördern zu dürfen …«, rief Thorn und der Wind trieb seine Worte über die hundertköpfige Zuschauermenge hinweg. »Weil es den Willen der Gemeinde selbst bekundet, die Lebensqualität dieser Leute zu verbessern!«

Mit diesen Worten stieß er eine Schaufel in die Erde. Eine Akkordeonband spielte eine Polka, während Thorn mit den Ehrengästen zur Absperrung schritt, hinter der die Leute sich drängten, um ihnen die Hände zu schütteln. Ja, Jeremy Thorn war ein vollendeter Politiker, ein Mann, der die Öffentlichkeit nicht scheute und den Beifall der Menge sehr wohl zu genießen wußte. An der Absperrung angelangt, gab er sich Mühe, jede einzelne Hand – auch wenn sie schmutzig war – zu schütteln, und es machte ihm gar nichts aus, seine Wange dem einen oder andern zum Kuß hinzustrecken.

Aber plötzlich wurde er festgehalten und resolut an den Zaun herangezerrt.

»Morgen«, keuchte Tassone in die erschreckten Augen des Botschafters. »Ein Uhr. Kew Gardens …«

»Lassen Sie mich los!« rief Thorn.

»Fünf Minuten. Dann werden Sie mich niemals wiedersehen.«

»Nehmen Sie die Hände …«

»Ihre Frau ist in Gefahr. Sie wird sterben, wenn Sie nicht kommen.«

Als Thorn sich losriß, war der Priester plötzlich verschwunden. Wie paralysiert stand der Botschafter da und starrte in lauter fremde Gesichter, während das grelle Licht der Blitzlichter seine Augen blendete.

Lange hatte sich Thorn überlegt, was er mit dem Priester tun sollte. Natürlich konnte er an seiner Stelle die Polizei hinschicken. Er konnte Tassone festnehmen lassen. Aber die Anklage würde auf Belästigung lauten und Thorn würde ohne Zweifel als Zeuge erscheinen müssen. Man würde den Priester verhören. Die Sache konnte an die Öffentlichkeit getragen werden. Die Zeitungen würden sich darauf stürzen und Kapital aus den Aussagen eines offensichtlich geisteskranken Mannes schlagen. Nein, das durfte nicht geschehen! Jetzt nicht und niemals.

Aber er kannte keinen Weg, wie er erfahren sollte, was der Priester zu sagen hatte. Ohne Zweifel stand die Sache in Verbindung mit der Geburt des Kindes. Welch ein makabrer Zufall, daß auch dies ein Geschehen war, das Thorn als das größte Geheimnis seines Lebens zu hüten hatte. Freilich, er konnte einen Boten schicken, gewissermaßen als Alternative zur Polizei. Man konnte diesem Mann Geld zustecken, man konnte ihm aber auch drohen, daß er künftig die Nähe des Botschafters mied. Doch dies bedeutete auch, daß ein Außenstehender in die Affäre verwickelt wurde.

Er dachte an Haber Jennings, und er wäre fast dem ersten Impuls gefolgt, ihn anzurufen und ihm zu sagen, daß er den Mann entdeckt habe, den er suchte.

Aber es war besser, dies nicht zu tun. Denn es gab nichts Gefährlicheres, als sich in einer solchen Angelegenheit an einen Pressemann zu wenden. Er wünschte, es gäbe irgend jemanden. Irgend jemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Denn in Wahrheit hatte er Angst. Angst vor dem Wissen des Priesters.


*


Heute hatte Thorn den eigenen Wagen genommen. Er erklärte Horton, er wolle eine Weile allein sein und so fuhr er den ganzen Morgen willkürlich durch die Straßen. Er wagte nicht, in sein Büro zu gehen, weil er befürchtete, jemand könnte ihn fragen, wo er seinen Lunch einnehme. Einmal dachte er daran, den Priester ganz einfach zu ignorieren, denn es war durchaus möglich, daß der Mann mit der Zeit das Interesse an ihm verlor und sich aus dem Staub machte. Aber das war keine befriedigende Lösung, denn Thorn selbst suchte inständig die Konfrontation.

Er wollte dem Mann ins Gesicht sehen und hören, was er zu sagen hatte. Er hatte behauptet, Katherine befinde sich in Gefahr, sie würde sterben, wenn Thorn nicht kam. Natürlich war es möglich, daß sich Katherine in Gefahr befand, aber es schmerzte Thorn, daß dieser Mann auch sie in diese dunkle Geschichte verwickelte.

Thorn kam Punkt 12 Uhr 30 zum Treffpunkt; er parkte am Straßenrand und wartete gespannt in seinem Wagen. Nur langsam verging die Zeit. Er hörte die Nachrichten, ohne sich richtig darauf zu konzentrieren, denn wie immer ging es um Spanien, Libanon, Laos, Belfast, Angola, Zaire, Israel und Thailand. Man konnte buchstäblich mit geschlossenen Augen einen Atlas aufschlagen und mit dem Finger irgendwo hindeuten, um im Umkreis weniger Zentimeter ein Land zu finden, das die Augen der Weltöffentlichkeit auf sich zog. Je länger der Mensch die Erde bevölkerte, so schien es, desto kürzer wurde die Frist ihrer Bewohnbarkeit. Die Zeitbombe tickte. Irgendwann wird es zum Knall kommen. Plutonium war jetzt fast für jeden verfügbar und damit konnten selbst die kleinsten Länder sich für einen Atomkrieg bewaffnen.

Natürlich bedeutete das für viele Selbstmord. Sie hatten nichts zu verlieren, aber sie würden bei ihrem Kampf den Rest der Welt mit in den Tod ziehen. Dann dachte Thorn an die Wüste Sinai, an das Gelobte Land. Er fragte sich, ob Gott wußte, daß es auch dort die Zeitbombe gab, obgleich er dieses Land eigentlich Abraham versprochen hatte.

Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war genau 13 Uhr. Er verließ den Wagen und betrat mit festen Schritten den Park. Um nicht erkannt zu werden, hatte er einen Regenmantel angezogen und eine dunkle Brille aufgesetzt, aber diese Tarnung erhöhte nur seine Besorgnis, als er den Priester suchte.

Und dann entdeckte er ihn und blieb wie erstarrt stehen. Er mußte sich zum Weitergehen geradezu zwingen. Tassone saß auf einer Bank. Sein Rücken war ihm zugekehrt. Thorn hätte jetzt leicht davongehen können, ohne gesehen zu werden, und dennoch ging er weiter. Er schlug einen Kreis um den Priester, um sich ihm von vorn zu nähern.

Tassone begann zu zittern, als Thorn plötzlich vor ihm auftauchte. Sein Gesicht war angespannt und Schweiß bedeckte die Stirn, als ob er unerträgliche Schmerzen erlitte. Schweigend standen sie einander gegenüber.

»Ich hätte die Polizei mitbringen sollen«, sagte Thorn kurz angebunden.

»Die könnte Ihnen nicht helfen.«

»Fangen Sie schon an. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben.«

Tassones Augenlider flatterten, seine Hände begannen zu zittern. Er stand sichtlich unter hohem Streß. Er schien nicht dagegen ankämpfen zu können.

»Wenn die Juden nach Zion zurückkehren …«, flüsterte er.

»Was?«

»Wenn die Juden nach Zion zurückkehren. Ein Komet wird am Himmel erscheinen. Und das Heilige Römische Reich wird auferstehen. Dann müssen wir sterben. Sie und ich.«

Thorn war wie vom Schlag gerührt. Der Mann war wirklich verrückt. Es war irgendeine Stelle aus einem Gedicht, die er zitierte. Sein Gesicht sah aus, als ob er in Trance sei. Seine Stimme klang schrill.

»Aus dem Meer der Ewigkeit wird Er auferstehen. Armeen wird Er an jeder Küste zusammenrufen. Der Mensch wird sich gegen seinen Bruder wenden. Bis keiner mehr existiert!«

Thorn beobachtete, wie der Körper des Priesters zu erbeben begann, wie er darum kämpfte, sich verständlich zu machen.

»In der Offenbarung ist es vorausgesagt worden!« stieß er hervor.

»Ich bin nicht hergekommen, um mir eine religiöse Predigt anzuhören.«

»Wenn Satan eine menschliche Persönlichkeit ganz und gar in seinem Besitz hat, wird er seinen letzten und erfolgreichsten Kampf eröffnen. Das Buch Daniels, das Buch Lukas …«

»Sie sagten, meine Frau sei in Gefahr?«

»Gehen Sie in die Stadt Meggido«, sagte Tassone. »In die alte Stadt Jesreel. Suchen Sie dort nach dem alten Mann Bugenhagen. Er allein kann Ihnen sagen, wie das Kind sterben muß.«

»Nun hören Sie mal zu …«

»Er, der nicht vom Lamm errettet werden wird, wird von dem wilden Tier in Stücke gerissen!«

»Hören Sie auf!«

Tassone schwieg, mühsam hob er eine zitternde Hand, um den Schweiß abzuwischen, der sich auf seiner Stirn angesammelt hatte.

»Ich bin hier«, sagte Thorn ruhig. »weil Sie sagten, meine Frau sei in Gefahr.«

»Ich hatte eine Vision, Mr. Thorn.«

»Sie sagten, meine Frau …«

»Sie ist schwanger!«

Thorn starrte ihn verblüfft an.

»Sie irren sich.«

»Ich glaube, daß sie schwanger ist.«

»Sie ist es nicht.«

»Er wird nicht erlauben, daß das Kind geboren wird. Er wird es umbringen, während es im Mutterleib schlummert.«




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